Extremisten zum Ausstieg bewegen

Im Gespräch mit Zahra Nedjabat äußert sich die algerische Extremismusforscherin Dr. Dalia Ghanem-Yazbeck über die Rolle der Frau im Dschihadismus, die Wurzeln der Radikalisierung und den richtigen Umgang mit islamistischen Rückkehrern aus Kriegsgebieten.

Von Zahra Nedjabat

Frau Dr. Ghanem-Yazbeck, Sie haben in diesem Jahr zum zweiten Mal an der Vienna International Christian Islamic Summer University (VICISU) in Altenburg, Österreich, doziert. Dort kommen Studierende und Akademiker aus aller Welt zusammen, um interkulturelle Themen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven zu beleuchten. Worin liegt der besondere Wert dieser Sommeruniversität und welche Strategien gegen die Radikalisierung wurden in diesem Jahr erörtert?

Dalia Ghanem-Yazbeck: Ich glaube, dass eine solche Initiative, wie die Vienna International Christian-Islamic Summer University (VICISU), die sowohl ein kulturelles als auch ein künstlerisches Programm beinhaltet, dazu beitragen kann, eine gewaltsame Radikalisierung von bestimmten Personengruppen zu verhindern und Konflikte zu entschärfen. Die Begegnung und Interaktion mit Menschen aus verschiedenen Ländern, Kulturen und Religionen erweitert den Horizont der Studierenden und wirkt sich positiv auf die Wahrnehmung der "Anderen" aus. Die Ausgrenzung ist Dreh- und Angelpunkt für den gewalttätigen Extremismus, weil Ausgrenzung einen "Anderen" erschafft, von dem wir glauben, dass er sich von uns stark unterscheidet und unserer kollektives "Wir" bedroht. Kulturelle Initiativen wie die VICISU können entscheidend sein für die Entwicklung gemeinsamer Interessen und eines Zusammengehörigkeitsgefühls.

An der diesjährigen VICISU thematisieren Sie mit Teilnehmern aus Ländern wie Afghanistan, Marokko, Ägypten, Saudi-Arabien, Libanon, Indien, Uganda, Indonesien, Türkei und Pakistan die Rolle der Frauen im Dschihadismus. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?

Ghanem-Yazbeck: Wenn es um den Zulauf zu dschihadistischen Organisationen geht, liegt der Fokus meist auf Männern. Frauen fallen weitgehend durch unser Wahrnehmungsraster. Zudem greifen bei Frauen viele Klischees. Denken Sie an die "IS-Bräute". In meiner Lehrveranstaltung räume ich mit diesen Vorstellungen auf. Wenn sich westliche und arabische Frauen dem IS anschließen, sorgt das regelmäßig für Schlagzeilen. Als sei weibliche Gewalt völlig neu und ohne Beispiel. Doch Gewalt, die von Frauen ausgeht, ist kein neues Phänomen. Frauen wirkten und wirken in zahlreichen Konflikten mit, sei es in der Logistik, in Kampfhandlungen ober bei Selbstmordattentaten.

IS-Dschihadistinnen; Foto: dpa/picture-alliance/SyriaDeeply.org
A lesson that still needs to be learned: "a military response is never enough, never satisfactory on its own. Jihadism is above all a social phenomenon. No one is born a terrorist. Consequently, a failure to engage with it on a social level may mean it rears its ugly head again," says Ghanem-Yazbeck

Frauen engagierten sich während des Konflikts im Südlibanon gegen die achtzehnjährige israelische Besatzung. Sie waren im Irak mit Al-Qaida im Einsatz und sind wahrscheinlich immer noch in den palästinensischen Gebieten aktiv. Tschetschenische Selbstmordattentäterinnen, die sogenannten "schwarzen Witwen", unternahmen mehrere Attentate auf russische Regierungstruppen; und die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) setzte Frauen in Angriffen gegen die türkische Zentralregierung ein. In der paramilitärischen Organisation der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) in Sri Lanka gab es reine Frauenbrigaden. Meine Lehrveranstaltung geht der Frage nach, was Frauen dazu bewegt, sich einer dschihadistischen Gruppe wie dem IS anzuschließen, was Frauen zu dschihadistischer Gewalt verleitet und wie wir das Phänomen begreifen können, um ihm besser begegnen zu können.

Während der Sommeruniversität sprachen Sie über die Möglichkeit einer dschihadistischen Entradikalisierung für Rückkehrer aus Kriegsgebieten. Wie könnte eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft aussehen und wie realistisch ist Ihrer Meinung nach die Anwendung einer Einzelfallmethode zur Beurteilung von dschihadistischen Rückkehrern?

Ghanem-Yazbeck: Ich sprach eigentlich von Rehabilitation und nicht von Entradikalisierung. Ich glaube, dass Rehabilitation und Selbstbestimmung durch eine entsprechende Fachausbildung erfolgreich sein können. Die Auseinandersetzung mit Rückkehrern zu vermeiden, indem man ihnen die Staatsbürgerschaft entzieht oder sie ins Gefängnis wirft, weil man keine bessere Lösung hat, könnte sich als Bumerang erweisen. Wenn möglich, würde ich außerdem die Einzelfallmethode bevorzugen.

Behörden müssen flexibler mit Rückkehrern umgehen können und ihnen Rehabilitationsmaßnahmen anbieten, damit sie sich wieder in die Gesellschaft und ihre Gemeinschaften integrieren. Letzteres ist deswegen so wichtig, weil viele dieser Frauen und Männer gerade aus dem Wunsch heraus fortgegangen sind, Teil einer "Gemeinschaft" zu sein, die wichtiger ist als alles andere – sogar wichtiger als die Familie. Hier sind alle gefragt: gemeinnützige Institutionen, Großindustrie und private Wirtschaft. Arbeit verleiht dem Leben dieser Menschen einen Sinn und ein Gefühl von Anerkennung und Zugehörigkeit. In Indonesien haben sich solche Initiativen bewährt. Ehemalige extremistische Häftlinge wurden rehabilitiert und erhielten Arbeitsplätze in Fischfarmen, Restaurants oder Literaturcafés.

Wenn man sich die angespannte Politik des Westens in Bezug auf den Islam und den Dschihadismus vor Augen führt, halten Sie dann das Rehabilitationsmodell eines Landes wie Algerien in der westlichen Welt für einen realistischen Ansatz?

Ghanem-Yazbeck: Es gibt nicht das eine perfekte Konzept für die Demobilisierung und Rehabilitation von Dschihadisten. Trotz unbestrittener Mängel hat der algerische Ansatz aber dazu beigetragen, den Konflikt zu beenden und rund 15.000 ehemalige Kämpfer wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Doch was in Algerien erfolgreich war, kann in anderen Ländern scheitern. Jedes Land hat seine eigenen Schwierigkeiten und Besonderheiten. Die Orientierung an den algerischen Erfahrungen könnte sich jedoch an anderer Stelle als wertvoller Ausgangspunkt für die Entwicklung von Deradikalisierungsinitiativen erweisen – sei es im Westen oder in Nahost und Nordafrika. Wenn man aus der algerischen Erfahrung eine Lehre ziehen will, dann die Erkenntnis, dass eine militärische Antwort alleine ihr Ziel nicht erreichen kann. Dschihadismus ist vor allem ein gesellschaftliches Phänomen. Niemand kommt als Terrorist zur Welt. Wenn wir uns nicht auf sozialer Ebene damit auseinandersetzen, könnte der Terrorismus erneut seine hässliche Fratze zeigen.

Werden Frauen weiterhin eine Bedrohung darstellen?

Ghanem-Yazbeck: Ich glaube schon. Einerseits werden Frauen weiterhin an der Verbreitung dschihadistischer Propaganda über soziale Medien mitwirken und versuchen, gefährdete Personen zu indoktrinieren und zu rekrutieren. Andererseits könnten einige dieser fanatisierten Frauen (und Männer) in ihre jeweiligen Länder zurückkehren und dort Terroranschläge verüben. Entscheidend ist, dass wir ein besseres Verständnis ihrer Rolle und ihrer Beweggründe entwickeln. Nur so können wir wirksame Gegenmaßnahmen entwickeln. Wir werden gefährdete Personen nur daran hindern, sich dem IS anzuschließen, indem wir ihrer Ideologie etwas entgegensetzen, das eine bessere Alternative darstellt.

Logo der US-Kampagne Die Kampagne 'Think Again Turn Away'; Quelle: US-State Department
Ghanem-Yazbeck: "Die Kampagne 'Think Again Turn Away' war erfolglos, weil sie vom US-Außenministerium ins Leben gerufen wurde. Warum sollte eine gefährdete Person, die in Amerika den 'Todfeind' sieht, auf dessen Gegennarrative und Kampagnen hören?"

In Ihrer Lehrveranstaltung sprachen Sie davon, den Rückkehrern eine Stimme zu geben. Inwiefern?

Ghanem-Yazbeck: Dieser Ansatz war sowohl in Algerien als auch in Indonesien erfolgreich. Das Gegennarrativ muss aus einer geeigneten und „legitimen“ Quelle stammen. Die Kampagne "Think Again Turn Away" war erfolglos, weil sie vom Außenministerium der USA ins Leben gerufen wurde. Warum sollte eine gefährdete Person, die im US-Außenministerium den "Todfeind" sieht, auf dessen Gegenerzählung und Kampagne hören? Ehemalige Extremisten, "Aussteiger", Rückkehrer und "reuige" inhaftierte Extremisten sind überzeugender. Diesen "Ehemaligen" sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Erfahrungen zu diskutieren und ihre Geschichten der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dank ihrer Authentizität können sie das Vertrauen der Rückkehrer oder gefährdeten Personen gewinnen.

Ein Beispiel: Der ehemalige indonesische Dschihadist der islamischen Terrororganisation Jemaah Islamiyah profitierte von einer solchen Entradikalisierungsinitiative und leitet mittlerweile eine lokale Nichtregierungsorganisation. Er erklärte: "Früher war ich so wie sie. Ich war einmal Teil ihrer Welt. Also weiß ich, wie man mit ihnen in ihrer Sprache spricht." Mit diesem Ansatz gelang es der indonesischen Regierung, 680 extremistische Kämpfer dazu zu bewegen, ihrer Ideologie abzuschwören und sie zu rehabilitieren. Auch ehemalige Dschihadisten können bei dieser Sensibilisierung helfen. Ein weiteres Beispiel ist der ehemalige malaysische Extremist Nasir Abbas. Er wurde schließlich Schriftsteller und hat seine Erfahrungen mit dem Dschihadismus in eine Graphic Novel fließen lassen. Sein Buch wurde in Schulen und Bibliotheken verteilt. Es soll die Menschen zum Nachdenken anregen und ihre Einstellung zum Dschihad verändern.

Das Interview führte Zahra Nedjabat.

© Qantara.de 2018

Aus dem Englischen von Peter Lammers

Dalia Ghanem-Yazbeck ist Resident Scholar am Carnegie Middle East Center in Beirut, wo sie sich mit politischer und extremistischer Gewalt, Radikalisierung, Islamismus und Dschihadismus mit Schwerpunkt Algerien auseinandersetzt.