Flucht vor Leid und Unterdrückung

In Tunesien und Ägypten lösten Selbstverbrennungen landesweite Massenbewegungen aus. Wie deuten arabische Psychologen dieses Protestphänomen? Darüber hat sich Amira Muhammad mit dem Vorsitzenden der "Vereinigung arabischer Psychiater", Ahmad Okasha, unterhalten.

In Tunesien und Ägypten lösten Selbstverbrennungen landesweite Massenbewegungen aus. Wie deuten arabische Psychologen dieses Protestphänomen? Darüber hat sich Amira Muhammad mit dem Vorsitzenden der "Vereinigung arabischer Psychiater", Ahmad Okasha, unterhalten.

Ahmad Okasha; &copy Ahmad Okasha
Ahmad Okasha: "Der Suizid ist ein Hilferuf, ein Akt des Protestes gegen einen bestimmten Zustand und ein Appell gegen Ohnmacht, Verzweiflung und Frustration"

​​Herr Okasha, die gegenwärtige Welle von Selbstmorden in arabischen Ländern ist offensichtlich Ausdruck von Verzweiflung, Unterdrückung und Ohnmacht. Aber wie ist diese Entwicklung wissenschaftlich zu bewerten? Hat sie auch zu tun mit der "Illusion von Martyrium und Ruhm"?

Ahmad Okasha: Ich glaube nicht, dass dies etwas mit Märtyrerphantasien zu tun hat. Der Suizid ist im Allgemeinen ein Hilferuf, ein Akt des Protestes gegen einen bestimmten Zustand und ein Appell gegen Ohnmacht, Verzweiflung und Frustration. Wir müssen dabei berücksichtigen, dass sich weltweit jährlich nicht weniger als eine Million Menschen umbringen. Dazu kommen noch Suizidversuche, die nicht mit dem Tod enden, diese kommen sogar zehnmal so häufig vor.

Wie kam es dazu, dass sich diese Selbstverbrennungen in vielen arabischen Ländern seit dem Suizid Bouazizis so plötzlich ausgebreitet haben?

Okasha: Die Selbstverbrennung von Bouazizi aus Protest gegen Arbeitslosigkeit und grassierendes Unrecht hat die ganze arabische Welt in Aufruhr versetzt. Viele, die ebenfalls Frustration, Verzweiflung und Ohnmacht empfinden, ohne dies ausdrücken zu können, haben Sympathie für ihn und sehen ihn als eine Art Vorbild. Sie haben ja gesehen, dass die Selbstmorde, die in Ägypten und anderswo stattgefunden haben, meist vor öffentlichen Gebäuden – wie etwa dem Kabinettsrat oder der Volkskammer – verübt wurden, so als wollte man sagen: "Helft uns, wir sind unzufrieden und unglücklich! Wenn ihr uns nicht helfen könnt, wenden wir uns an Gott!" Es ist eine Art Flucht vor Leid, Ohnmacht und Unterdrückung.

Warum wählen junge Männer wie Bouazizi ausgerechnet die Selbstverbrennung als Suizidvariante an?

Okasha: In jedem Land haben sich bestimmte charakteristische Methoden für den Selbstmord entwickelt. Dort wo etwa Feuerwaffen erlaubt sind, wie in den Vereinigten Staaten, erschießen sich Selbstmörder häufig. Und dort wo solche Waffen nicht im Umlauf sind, wählen Suizidgefährdete andere Arten der Selbsttötung. In den ruralen Regionen Ägyptens beispielsweise überschütten sich Frauen mit Benzin und zünden sich an. Sie nehmen keine Überdosis Tabletten, weil ihnen derlei nicht zur Verfügung steht. Männer und Frauen in den Städten stürzen sich häufig von Nilbrücken oder zünden sich auch dort an.

Brandherd in Kairo; Foto: AP
Nach der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi in Tunesien folgten bislang zehn weitere solcher Selbstmordversuche in verschiedenen arabischen Ländern. Sie lösten damit Volksaufstände aus.

​​Unterscheiden sich die Methoden des Selbstmordes also je nach ethnischer und kultureller Zugehörigkeit?

Okasha: Ja, der Selbstmord scheint abhängig von Kultur sowie religiöser Neigung und von Land zu Land verschieden zu sein. Selbstverbrennungen und Stürze in den Nil wären demnach Suizidmethoden ägyptischen oder auch allgemein arabischen Musters.

Glauben Sie, dass die Nachahmer Bouazizi insgeheim dachten, sie könnten mit einem ähnlichen Suizid Volksaustände auch in ihren Ländern herbeiführen? Oder entsprangen solche Versuche primär der Verzweiflung dieser Menschen?

Okasha: Im Moment der Selbsttötung befanden sich diese Personen, wie vorher auch Bouazizi, in einem Zustand der Verzweiflung aufgrund ihrer wirtschaftlichen, psychischen und sozialen Lebensumstände. Bouazizi verbrannte sich, weil sein Leben ausweglos geworden war. Er hatte versucht, Gemüse zu verkaufen. Es wurde ihm verboten, er beschwerte sich, man verspottete ihn. Er hatte nichts zu essen und zu trinken, er konnte keine Familie gründen, und so blieb ihm nur noch die Flucht aus dieser Situation. Außerdem wollte er gegen die Regierung und die Behörden protestieren, die ihn in diese Situation gebracht hatten.

Können Sie näher auf die Psychologie von suizidgefährdeten Personen bzw. Selbstmördern eingehen?

Okasha: Da müssen wir jeden Fall einzeln betrachten. Allgemein sind siebzig Prozent der Selbstmorde weltweit das Ergebnis depressiver Erkrankungen. Depressive sehen ihr Leben pessimistisch. Sie haben kein positives Bild von der Gegenwart, ihre Vergangenheit erscheint ihnen düster und ihre Zukunft erscheint ihnen schwarz. Der Selbstmord stellt für sie eine Beendigung ihres Leidens dar. Der Schmerz durch Depression ist stärker als der, den Krebs verursacht. Ein Krebskranker, der nicht depressiv ist, möchte weiterleben. Wird er aber depressiv, verliert er seinen Lebenswillen und versucht womöglich sich umzubringen. Depression ist eine Begleiterscheinung in 40 bis 50 Prozent der schmerzhaften chronischen Erkrankungen.

Depressionen können auf wirtschaftliche Gründe – wie Arbeitslosigkeit oder Armut – zurückgehen. Sie können aber auch soziale Ursachen haben, wie Unrecht, Unterdrückung oder Entwürdigung, die den betroffenen Personen widerfahren ist. Menschen neigen aber auch aus psychischen Gründen zum Suizid, wenn sie beispielsweise eine geliebte Person verlieren. Es gibt darüber hinaus Schizophrene, die Selbstmord begehen, weil sie Stimmen hören, die sie dazu auffordern. Sie fühlen sich kontrolliert und unterdrückt und bekommen paranoide Vorstellungen oder werden eifersüchtig, weil sie sich beispielsweise einbilden, ihr Ehepartner betrüge sie.

Poster von Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflung selbst verbrannte; Foto: AP
Seit der erfolgreichen "Jasminrevolution" in Tunesien steht Mohammed Bouazizi, der Auslöser des dortigen Befreiungsaufstandes, im Mittelpunkt des Interesses arabischer Jugendlicher.

​​Welchen Stellenwert nimmt der Selbstmord in muslimischen Gesellschaften ein?

Okasha: Manche betrachten Selbstmord als Flucht oder Feigheit, andere sehen ihn als Ausdruck von Mut oder Würde. Es gibt da viele Interpretationen. Als Psychologen erachten wir jeden Selbstmordversuch als einen Hilferuf, den wir ernst nehmen müssen. Es wäre ganz und gar verfehlt, Suizidale als Menschen zu sehen, die ausschließlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten. Und ich glaube, dass diesmal der Hilferuf bei den politischen Entscheidungsträgern in den arabischen Ländern angekommen ist. In Kuwait und in Saudi-Arabien gab es ja bereits Reaktionen, und ich hoffe, dass auch die übrigen arabischen Regierungen darauf achten, wie es um die Lebensqualität ihrer Bürger bestellt ist, bevor Verzweiflung und Ohnmachtgefühle dominieren.

Bevor der eiserne Vorhang in Osteuropa fiel, gab es dort eine ähnliche Selbstmordwelle. Zeigen sich hier Parallelen zu der Situation in vielen arabischen Ländern?

Okasha: Es ist in beiden Fällen dasselbe. Wenn Verdrängung und Frustration zu stark werden, wenn es keine Meinungsfreiheit gibt, die Demokratie anhaltend unterdrückt wird, und wenn ein Land im permanenten Ausnahmezustand regiert wird, Menschen festgenommen und gefoltert werden, wenn Menschen ihre Würde und ihre Menschlichkeit verlieren oder durch Armut, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung in ihrem Stolz verletzt werden, dann führt das letztlich auch zu einem drastischen Anstieg von Selbstmorden.

Interview: Amira Muhammad

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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