Von der Toleranz zur Akzeptanz

Ein neues Projekt der Uni Erlangen-Nürnberg will Schüsselbegriffe aus Judentum, Christentum und Islam für den interreligiösen Dialog aufbereiten. Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen wollen die Wissenschaftler Scharfmachern entgegenwirken. Claudia Mende sprach mit Projektleiter Professor Georges Tamer.

Von Claudia Mende

Professor Tamer, wie gehen Sie im Projekt Key Concepts vor?

Georges Tamer: Wir haben eine Liste von Schlüsselbegriffen, Key Concepts, im Judentum, Christentum und Islam erstellt. Diese Begriffe werden von renommierten Forschern aller drei Religionen auf Tagungen bearbeitet, gemeinsam diskutiert und dann in einer gut verständlichen Sprache veröffentlicht. Die ersten Bände erscheinen 2019. Es gibt ein festes Schema für jedes Kapitel. Es geht u.a. um die Terminologie, um die historische Entwicklung der Begriffe und um die Vielfalt, also wie unterschiedlich die Begriffe selbst innerhalb einer Religion wahrgenommen werden, sowie um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Auffassung dieser Begriffe in den drei monotheistischen Religionen.

Welches Thema bearbeiten Sie momentan?

Tamer: Im Moment bereiten wir Tagungen zu den Begriffen "Zeit" und "Geschichte" (12.-14. Dezember d.J.) sowie zu den Konzepten "Person", "Sexualität", "Körper", "Seele", "Gewalt" und "Gerechter Krieg" für das Jahr 2019 vor. Auch arbeiten wir an den Publikationen zu den schon behandelten Themen, vor allem am Band zum Thema Freiheit aus jüdischer, christlicher und islamischer Sicht. Jedem Begriff ist einer eigenen Band gewidmet. Die Struktur ist einheitlich: eine Einführung, drei Kapitel und ein Epilog, in dem Gemeinsamkeiten und Differenzen hervorgehoben und die Bedeutung des Begriffs für gegenwärtige Diskurse umrissen wird.

Wie werden die Ergebnisse verbreitet?

Tamer: Im Anschluss gibt es die Website mit Zusammenfassungen auf Deutsch, Englisch und Arabisch, einen Bericht zu jeder der bislang insgesamt neun Tagungen. Auf unserem YouTube-Kanal gibt es Kurzdarstellungen der Begriffe vor allem auf Arabisch, um unsere Ergebnisse auch jenen zugänglich zu machen, die nur geringe Deutschkenntnisse haben, was explizit auch Flüchtlingen zugutekommt. Außerdem sind wir auf Facebook und Twitter.

Bitte nennen Sie ein Beispiel für einen Begriff.

Tamer: Nehmen Sie den Begriff Mensch in den drei monotheistischen Religionen. Allen gemeinsam ist, dass sie Gott als den Schöpfer allen Seins und damit auch des Menschen ansehen. Während aber das Judentum die Befolgung der Religionsgesetze zur Führung eines gottgefälligen Lebens in den Vordergrund stellt, wird im Christentum der Mensch durch die Menschwerdung und den Kreuzestod Jesu Christi von der Schuld Adams und Evas befreit.

Der Islam, der den Menschen als Stellvertreter Gottes auf Erden (khalīfa) sieht, kennt diese Form der "Erbsünde" nicht und sieht den Menschen dementsprechend auch nicht als erlösungsbedürftig an. In diesem Sinne verneint der Koran den Kreuzestod Jesu und betont die Befolgung der Scharia als Weg ins Paradies. Das sind keine Nuancen, sondern gravierende Unterschiede im Hinblick auf das Verständnis vom Menschen in den drei Religionen.

Wie ist die Idee zu diesem Forschungsprojekt entstanden?

Tamer: Sie ist aus meiner Erfahrung entstanden, dass viele Teilnehmer am interreligiösen Dialog häufig den gleichen Begriff verwenden, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass er vom Gesprächspartner anders verstanden wird. Ich bin jahrelang in dem Bereich aktiv und habe mitbekommen, wie Dinge immer wieder unklar bleiben: Was meint mein muslimischer, jüdischer oder christlicher Gesprächspartner, wenn er von Familie, Sexualität, Offenbarung, Staat, Gesellschaft oder Freiheit spricht? Die Religionen werden von diesen Schlüsselbegriffen getragen.

Was ist neu an diesem Ansatz?

Tamer: Es ist ein neuer Ansatz für die Wissenschaft, weil wir die Begriffe in den jeweiligen Religionen nicht separat behandeln, sondern gemeinsam. Die Kollegen diskutieren auf den Tagungen die Inhalte intensiv miteinander. Das ganze Projekt ist diskursiv aufgebaut. Es geht über die wissenschaftliche Einzelanalyse hinaus auch darum, voneinander zu lernen und Bezüge herzustellen zwischen dem Begriff in der eigenen und den beiden anderen Religionen.

Wie heißt das konkret?

Tamer: Zum Beispiel der Begriff Offenbarung. Wenn der christliche Theologe den Begriff Offenbarung im Rahmen des Projekts behandelt, dann tut er das zwar zunächst aus der Binnenperspektive des Christentums, aber nicht ohne dabei zu berücksichtigen, wie der Begriff im Judentum und im Islam verstanden wird. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für die jüdischen und muslimischen Wissenschaftler. Ein Beispiel dafür, wie wichtig diese Bezüge sind: Jüdisches Denken ist im Mittelalter im islamisch geprägten arabischen Kulturkreis entscheidend weiterentwickelt worden.

Heißt das, die Religionen sind stärker aufeinander bezogen, als viele Menschen meinen?

Tamer: Ja und nein. Sie beziehen sich stärker aufeinander, als man gemeinhin denkt. Aber es gibt auch weitreichende Unterschiede, die vielen nicht bekannt sind. In einem oberflächlich geführten interreligiösen Dialog kann der Eindruck entstehen, dass wir einander alle viel näher sind als gedacht, doch dieser Eindruck kann trügerisch sein. Das stimmt in manchen Fällen, aber in vielen anderen stimmt es nicht.

Wir wollen nicht nur Gemeinsamkeiten aufdecken. Wir wollen auch Unterschiede zeigen, damit sie erkannt und dann akzeptiert werden. Es geht uns um objektive Erkenntnisse. Das ist der beste Weg, um einander anzuerkennen.

Fotomontage der drei monotheistischen Buchreligionen (Judentum, Christentum und Islam); Foto: www.kcid.fau.eu
Aufgrund von Gemeinsamkeiten und Unterschieden den anderen so erkennen, wie er sich selbst verstanden haben will: "Als Christ, Muslim, Jude oder Nichtgläubiger muss ich wissen, wie der andere sich selbst religiös definiert, und dieses Anderssein anerkennen. Es geht nicht um ein gleichgültiges Tolerieren. Wir brauchen eine höhere Stufe als Toleranz, nämlich Anerkennung und Akzeptanz, ohne Unterschiede zu vertuschen", so Professor Georges Tamer.

Ziel ist also, die Differenzen festzustellen - und dann?

Tamer: Ziel ist es nicht nur, die Differenzen festzustellen, sondern aufgrund von Gemeinsamkeiten und Unterschieden den anderen so zu erkennen, wie er sich selbst verstanden haben will. Als Christ, Muslim, Jude oder Nichtgläubiger muss ich wissen, wie der andere sich selbst religiös definiert, und dieses Anderssein anerkennen. Es geht nicht um ein gleichgültiges Tolerieren. Wir brauchen eine höhere Stufe als Toleranz, nämlich Anerkennung und Akzeptanz, ohne Unterschiede zu vertuschen. Als Motto des Projekts dient eine altarabische Weisheit, wonach der Mensch ein Feind dessen ist, was er nicht kennt.

Wie sehen Sie den Stand des interreligiösen Dialogs heute?

Tamer: Er genießt heute größere Aufmerksamkeit als noch vor wenigen Jahrzehnten. Es gibt zahlreiche Dialog-Initiativen und -Foren, die vor allem von den Kirchen oder von religiös überzeugten Einzelpersonen organisiert werden wie z. B. in Erlangen das Café Abraham, initiiert von jüdischen, christlichen und muslimischen Studenten. Die Initiative gibt es inzwischen auch in anderen Städten. Stiftungen und die Politik fördern den Dialog. Von zentraler Bedeutung ist aber auch, wenn Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse informell miteinander über Glaubensfragen reden, etwa während des muslimischen Fastenmonats Ramadan oder an Weihnachten.

Aber reicht das aus?

Tamer: Es gibt sicher Nachholbedarf. Ich möchte aber an der Stelle betonen, dass wir keine Initiative des interreligiösen Dialogs sind. Wir sind Wissenschaftler, denen es um Grundlagenforschung geht, um eine Art Archäologie des religiösen Wissens. Als Wissenschaftler wollen wir alles tun, um Erkenntnisse dazu zu erzielen und zu vermitteln, damit sie zur Bekämpfung von Radikalisierung und religiösem Fanatismus beitragen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. In unserem Projekt stellt sich die Wissenschaft in den Dienst der Gesellschaft.

Man erlebt immer wieder bei Veranstaltungen, dass es beim Thema Islam sehr viele Zuschreibungen gibt und die Emotionen schnell hochkochen. Wie kann es in einer solchen Atmosphäre einen Dialog auf Augenhöhe geben?

Tamer: Ich habe das selbst auch schon mehrfach erlebt. Diese etwas gereizte Stimmung macht unsere Arbeit umso wichtiger. Denn die Verbreitung von Erkenntnissen über den Islam hilft maßgeblich, Vorurteile und Ängste abzubauen. Für diese Stimmung gibt es allerdings Gründe.

Der Islam ist ja relativ jung in Deutschland. Als sich die muslimische Community in Deutschland sichtbarer etablierte, entstanden Spannungen und Fragen auf beiden Seiten, die Mehrheitsgesellschaft fühlt sich infolgedessen herausgefordert. Nach mehreren terroristischen Attentaten, die im Namen des Islam durchgeführt werden, hat sich Angst, ja Aversion gegen Muslime im Allgemeinen verbreitet. Die Flüchtlingsströme haben freilich auch zur Verschärfung der Lage beigetragen. Mit unserem Projekt bezwecken wir, Scharfmachern auf allen Seiten entgegenzuwirken.

Sehen Sie die Gefahr einer Instrumentalisierung des Dialogs?

Tamer: Die Gefahr einer Manipulation bestünde schon, wenn man ideologisch herangehen oder solche Begegnungen nutzen würde, um neue Mauern aufzubauen. Dann sucht man keine Annäherung und kein gegenseitiges Verständnis, sondern will zeigen, wie weit die Religionen voneinander entfernt sind. Hier kann die Wissenschaft einen konstruktiven Beitrag leisten. Wir betreiben Grundlagenforschung, um jenseits von Ideologie und politischen Interessen Dinge beim Namen zu nennen.

Verliert der interreligiöse Dialog in einer säkularen Gesellschaft nicht an Bedeutung?

Tamer: Die säkularen Gesellschaften Europas zehren immer noch von christlichen Werten, die in eine säkulare Sprache übersetzt werden. Selbst der Humanismus basiert in seinen Ursprüngen auf monotheistischem Gedankengut. Der interreligiöse Dialog verliert seine Bedeutung daher nicht. Indem wir mit unserem Projekt zur Etablierung des friedlichen Miteinanders von Religionsgemeinschaften beisteuern, setzen wir das Projekt der Aufklärung fort.

Wieso?

Tamer: Die Wahrheit einer Religion ist Gegenstand des Glaubens, aber wir brauchen Erkenntnisse über die historische Entwicklung religiöser Schlüsselbegriffe im Laufe der Geschichte. Sie helfen uns, nicht Toleranz, sondern eine gegenseitige Anerkennung religiöser Werte zu finden. Erkenntnis schafft Vertrauen und Selbstbewusstsein auch in der säkularen Gesellschaft. Interreligiöse Verständigung ist zentral zur Lösung von Konflikten.

Dann ist es wichtig, die eigene Tradition zu kennen.

Tamer: Genau. Ein weiterer Grund, warum unser Projekt notwendig ist. Die Integration einer großen Zahl von Einwanderern meist muslimischen Glaubens ist eine große Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Viele von ihnen kommen nach Deutschland mit Vorurteilen gegen Juden und Christen. Diese Vorurteile haben historische Gründe. Hier wichtige Erkenntnisse über die anderen Religionen zu vermitteln ist eine große gesellschaftliche Verantwortung, der wir uns in unserem Projekt stellen, um die Integration der Einwanderer zu fördern.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2018

Professor Georges Tamer ist Islamwissenschaftler und Orientalist an der Universität Erlangen-Nürnberg.

"Key Concepts in Interreligious Discourses: Judaism, Christianity and Islam" ist ein Projekt der Universität Erlangen-Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Katholischen Universität Eichstätt und dem Sheikh Nahyan Center for Arabic Studies & Intercultural Dialogue an der Universität Balamand im Libanon.