Silikonbomben auf der Theaterbühne

Am Ort, wo einst die größte Bibliothek der Antike niederbrannte, wird heute deren Geist von Offenheit und Dialog wieder belebt. Junge Theaterschaffende aus Europa und dem Mittelmeerraum zeigen in Alexandria ihre Produktionen und erproben in Workshops neue Ausdrucksformen. Von Susanne Schanda

​​Während draußen der Wind vom Meer auf den schräg in den Boden versenkten scheibenförmigen Bau der neuen Bibliothek bläst, platzt nebenan das Galerie-Theater im Kongresszentrum aus allen Nähten. Das palästinensische Harah-Theater spielt "Ich habe einen Traum".

Doch wer hier etwa Intifada-Parolen und Märtyrer-Ideologie erwartet, wird enttäuscht. Dieser Theater-Traum schillert nämlich in allen Farben, klingt nach Shakira und sucht sich über PC-Tastaturen einen Weg in die Welt. Zu schriller Popmusik lässt eine junge Frau ihre Hüften zucken und überlässt sich und das Publikum ganz den Bewegungen ihres Körpers auf der Bühne.

In der nächsten Szene blättert ein Teenager versunken in einem Porno-Heft. Von nahenden Schritten aufgeschreckt, schleudert er das Heft unter seinen Hocker. Dann folgt eine Szene von vier jungen Leute in einem Internet-Café.

Jeder und jede beschäftigt mit dem Basteln einer Identität für das World Wide Web, die global tauglich ist und nicht vom andauernden palästinensischen Kampf gelähmt wird. Für das Facebook-Foto lässt sich die junge Frau deshalb mit einer blonden Perücke abbilden, um auszusehen wie Shakira oder andere Pop-Ikonen.

Müde vom politischen Alltag

"Die jungen Palästinenser und Palästinenserinnen haben die Nase voll vom Kampf für einen eigenen Staat, vom Krieg und der täglichen Mühsal in den besetzten Gebieten", sagt Marina Barham, die Leiterin der Truppe aus Beit Jala im Westjordanland. In den Chat-Rooms des Internets seien sie frei von den Zwängen einer palästinensischen Identität, könnten durch die virtuelle Welt reisen und ihre Träume ausleben, die denjenigen anderer Jugendlicher auf der Welt sehr ähnlich seien.

Marina Baram; Foto: Susanne Schanda
Suche nach neuen künstlerischen Ausdruckformen auf der Bühne: Marina Barham, Direktorin des palästinensischen "Harah"-Theaters

​​"Früher haben sich unsere jungen Leute mehr für die palästinensische Sache interessiert als für sich selber. Das hat sich radikal geändert. Sie glauben nicht mehr, dass sie hier noch gebraucht werden, und wollen auswandern, die Welt sehen – leben", sagt Marina Barham im Gespräch nach der Vorstellung in Alexandria.

Das Stück basiert auf eigenen Recherchen. Mit Fragebogen und Interviews fühlten die Theaterleute der palästinensischen Jugend den Puls der Zeit. "Die jungen Leute sind müde vom Alltag in dieser unstabilen politischen Situation. Dieser Realität versuchen sie zu entfliehen, indem sie sich im Internet mit jungen Leuten außerhalb ihrer beengten Welt verbinden", sagt Marina Barham.

Im Geist der Offenheit und des Dialogs

Das Stück "Ich habe einen Traum" war einer der Höhepunkte auf dem 7. Creative Forum for Independent Theatre Groups, das im Februar in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria stattfand.

Festivaldirektor und Regisseur Mahmoud Aboudoma wollte mit der zehntägigen Veranstaltung der jungen Theaterszene aus Europa und dem Mittelmeerraum ein Forum der Begegnung und des Austauschs bieten. 300 Personen wurden dieses Jahr eingeladen, ihre Produktionen zu zeigen oder an Workshops und Podiumsgesprächen teilzunehmen.

Bibliotheca Alexandrina; Foto: Susanne Schanda
Geist der Offenheit und des Dialogs: die Bibliotheca Alexandrina

​​Unterstützt wird das Forum Jahr für Jahr von der Bibliotheca Alexandrina, die 2002 unweit der abgebrannten antiken Bibliothek in einem provozierend modernen Bau eröffnet wurde. Indem sie nicht nur dem Wissen und der Forschung dienen will, sondern sich explizit den Austausch mit den Kulturen der Welt auf die Fahnen geschrieben hat, lässt sie den Geist der Offenheit und des Dialogs wieder aufleben, der die alte Bibliothek einst prägte und berühmt machte, ein Ort wie geschaffen für das Creative Forum for Independent Theatre Groups.

Die Bibliothek stellt nicht nur mehrere Aufführungssäle im Konferenzzentrum zur Verfügung, sondern steuert laut Aboudoma auch 20 Prozent zum Budget bei, das letztes Jahr 2,4 Millionen ägyptische Pfund (umgerechnet 320.000 Euro) betragen hat.

Das zehntägige Festival wird vor allem von europäischen Kulturinstitutionen aus Schweden, Dänemark, Griechenland, Spanien, den Niederlanden, Frankreich, dem Goethe-Institut und der Pro Helvetia finanziert.

Aboudoma betont den Forumscharakter der Veranstaltung, die ganz ohne Stars und Wettbewerb auskommt, dafür in Gesprächen und Workshops neue Impulse gibt. So fand etwa im Schwedischen Institut an der Corniche Alexandrias eine fünfstündige Diskussionsrunde über den Dialog zwischen den Generationen in der Welt des Theaters statt.

Silikon im Bombenhagel

Dabei erzählte die libanesische Regisseurin Lina Abyad, die bereits mit zahlreichen Prominenten wie der ägyptischen Feministin Nawal al-Saadawy zusammen gearbeitet hat, wie nervös sie war, als sie das erste Stück einer ihrer Studentinnen inszenierte. "Ich hatte solche Angst, meine Studentin zu enttäuschen, die von mir gelernt hat und mir Respekt entgegenbringt."

​​Die Studentin heißt Abir Hamdar, und ihr Stück "Silicone Bomb" wurde am Theaterforum in Alexandria mit Begeisterung aufgenommen. Vor dem Hintergrund der israelischen Bombardierung Libanons im Sommer 2006 erzählt es in Form eines Telefongesprächs zwischen zwei Frauen von den Ängsten einer Frau um ihre Silikonbrüste.

Sie glaubt, im allgegenwärtigen Bombenhagel sei das Silikon explodiert und vergifte nun ihren Körper. Das temperamentvoll gespielte Stück thematisiert die absurde Nähe von Kriegsalltag und oberflächlichem Schönheitswahn.

Vielversprechend ließ sich neben Theateraufführungen, Diskussionsrunden und Workshops auch das Publikationsprogramm für arabische Dramatikerinnen an. Theaterstücke von sieben Autorinnen aus Ägypten, Syrien, Tunesien, Marokko und den palästinensischen Autonomiegebieten wurden ins Englische übersetzt und als zweisprachige Bücher auf dem Forum vorgestellt.

Mit einer Ausnahme waren alle Autorinnen nach Alexandria gereist und signierten dort ihre Bücher. Die Gelegenheit zu einem Podiumsgespräch über die weibliche Präsenz im arabischen Theater wurde hierbei allerdings versäumt.

Ein erklärtes Ziel des Forums sei der Abbau des gegenseitigen Misstrauens zwischen Ost und West, wie der künstlerische Direktor erklärte.

Schade nur, dass es in diesem Zusammenhang offenbar immer noch ein Tabu ist, Theaterschaffende auch aus Israel einzuladen. "Damit hätte ich das Forum zu einem Politikum gemacht, was ich nicht wollte", sagte Aboudoma. Trotz offiziellem Frieden zwischen den beiden Nachbarländern ist das Misstrauen gegenüber Israel in Ägypten groß – auch in der Kulturszene.

Susanne Schanda

© Qantara.de 2010

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