Inselreich der vergessenen Literatur

Der indonesische Schriftsteller und Literaturkritiker Wayan Sunarta beleuchtet in seinem Essay die Geschichte der modernen Literatur Indonesiens und erklärt, warum es ihr bislang noch nicht gelungen ist, sich international zu etablieren.

Von Wayan Sunarta

Die Entstehung der modernen indonesischen Literatur nahm in den zwanziger Jahren ihren Anfang. Immer wieder färbten politische Unruhen, Polemik und Interessen ihren Entwicklungsprozess. Chronologisch erstreckt sich die Geschichte der indonesischen Literatur von der Generation Pujangga Lama (Generation der alten Dichter, klassische Literatur) bis zur Generation der 2000er Jahre.

Das Erscheinen der Generation 1945 wird jedoch als eine Art Neubeginn in der indonesischen Literatur angesehen. Geprägt ist diese Generation vom revolutionären Geist des Freiheitskampfes. Die Gedichte von Chairil Anwar, einem der Vorreiter dieser Generation, haben sogar bis zum heutigen Tag einen starken Einfluss auf das kreative Schaffen der Lyriker in Indonesien.

In einer Art Glaubensbekenntnis, dem Surat Kepercayaan Gelanggang, beschreiben sich die Literaten von 1945 als Erben einer Hochkultur. Diese gelte es zu wahren. Von niemanden wolle man sich in Zukunft in der Freiheit des Ausdrucks beschränken lassen. Unabhängig und mit reinem Gewissen wolle man schreiben.

Doch leider sollten auch in den nachfolgenden Jahrzehnten die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit immer wieder auf eine harte Probe gestellt werden bzw. zum Erliegen kommen.

Lekra versus Manikebu

Die 1960er Jahre gelten als das düstere Kapitel der indonesischen Literaturgeschichte. Bereits in den 1950er Jahren wurde das vom sozialistischen Realismus ("Kunst für das Volk") geprägte und von Präsident Sokarno unterstützte Kulturinstitut "Lekra" (Institut der Kultur des Volkes) gegründet. Die einflussreichste Persönlichkeit dieses Institutes war der Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer. Die Existenz von "Lekra", das als Teil der kommunistischen Partei Indonesiens angesehen wurde, führte zur Spaltung der indonesischen Schriftsteller in zwei große Gruppen.

Der indonesische Dichter Chairil Anwar; Foto: wikipedia
Generation vom Revolutionärer Geist des Freiheitskampfes: Die Gedichte von Chairil Anwar, einem Pionier der 45-Generation, haben bis zum heutigen Tag einen starken Einfluss auf das kreative Schaffen der Lyriker in Indonesien.

Die Schriftsteller, die sich gegen "Lekra" stellten, verfassten ein Kulturmanifest ("Manikebu"), in dem sie sich für die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks im Einklang mit der indonesischen Staatsphilosophie Pancasila (Einheit in der Vielfalt) aussprachen. Es folgten Jahre, die geprägt waren von beidseitiger Polemik, was zu einem Stillstand im literarischen Geschehen führte. Dieser Zustand endete mit der Tragödie von 1965 und dem Sturz Sukarnos.

Suharto kam an die Macht und viele "Lekra"-Schriftsteller wurden umgebracht oder verschwanden spurlos. Pramoedya sperrte man ohne Gerichtsverfahren ein. Einen großen Teil seiner vierzehnjährigen Haftstrafe verbrachte er auf der berüchtigten Gefängnisinsel Buru. Hier entstand auch sein berühmtestes Werk, die Buru-Tetralogie.

Literatur in der Ära Suharto

Die PKI und "Lekra" hatte man zerstört. Der Sieg des Kulturmanifests brachte die Schriftsteller-Generation 1966-70er Jahre hervor. Das Literaturmagazin "Horison" wurde in jenen Tagen unter der Leitung von Mochtar Lubis gegründet.

Der Geist der Avantgarde war in dieser Generation besonders ausgeprägt. Viele literarische Werke der unterschiedlichsten Strömungen wurden in diesen Jahren geboren. Das vorherrschende Motto war "Kunst für die Kunst". Linke Strömungen dagegen wurden als Schreckgespenst angesehen, das man zum Schweigen bringen muss. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Jahre zählen Goenawan Mohamad, Sapardi Djoko Damono und WS Rendra.

In den 1980er Jahren dominierten Liebesromane junger Schriftsteller den Literaturmarkt, ein Kennzeichen für einen erneuten Generationswechsel. Literaturkritiker fassen diese Werke gerne unter dem Begriff Pop-Literatur zusammen - eine von Suharto gern gesehene Strömung. Kritisches Gedankengut wollte man durch hedeonistische Unterhaltung in einen Tiefschlaf versetzen. Doch gerade diese Pop-Romane weckten das Interesse vieler junger Menschen.

In jenen Jahren spielten zudem literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften eine große Rolle. Gedichte, Kurzgeschichten, Essays, Fortsetzungsromane junger Autoren fanden so zu ihren Lesern. Zu den auch heute noch aktiven und beliebten Schriftstellern und Lyrikern dieser Generation zählen Dorothea Rosa Herliany und Afrizal Malna. Unter den Schriftstellerinnen ist besonders NH Dini hervorzuheben, die sich in ihren Romanen wie z.B. "Namaku Hiroko" (Mein Name ist Hiroko) mit den Konflikten zwischen westlichem und östlichem Denken auseinandersetzt.

Die Generation 2000

Studenten der University of Indonesia (UI) demonstrieren gegen Diktator Suharto; Foto: Getty Images/AFP/R. Gacad
Historische Zeitenwende in Indonesien: 1998 musste sich Indonesiens Diktator dem Druck der Straße beugen und trat zurück. Der politische Frühling (reformasi) nach dem Ende der Militärdiktatur 1998 hat auch der Literatur neuen Auftrieb gegeben.

Im Mai 1998 gelang es nach anhaltenden Massenprotesten den Rücktritt des Diktators Suharto zu erzwingen, dessen Regime 32 Jahre lang über das Land geherrscht hatte. Die Menschen erfasste die Euphorie der Reformasi. Meinungs- und Ausdrucksfreiheit gehören zu den wichtigsten Errungenschaften der Reformasi-Bewegung.

Wiji Thukul war der populärste Schriftsteller der Reformasi-Zeit. Durch seine Gedichte, scharf in der Wortwahl, brachte er das Leiden der sozial Benachteiligten, wie den Bauern und Fabrikarbeitern zu Gehör. Doch am 27. Juli 1998 verschwand Wiji Thukul spurlos. Es wird vermutet, dass er vom indonesischen Sicherheitsapparat entführt und umgebracht wurde. Die "Generation Reformasi" schaffte es nicht, sich in der Literaturgeschichte zu verankern, da es ihr an einem starken Wortführer fehlte. Aber die Ausdrucks- und Meinungsfreiheit kommen seit dieser Phase immer mehr zum Vorschein.

Der renommierte Literaturkritiker Korrie Layun Rampan füllte die Lücke in der Geschichtsschreibung mit seinem dreibändigen Werk "Angkatan 2000 dalam Sastra Indonesia" (Die Generation 2000 in der indonesischen Literatur). Hunderte von Schriftstellern, auch solche, die bereits seit den 1970er Jahren aktiv sind, nahm er in sein Literaturlexikon auf. Zu den Autoren, die Rampan aufgelistet hat, gehören z.B. Afrizal Malna, Ayu Utami, Oka Rusmini, Dewi Lestari, Andrea Hirata, Eka Kurniawan, Agus R. Sarjono, Laksmi Pamuntjak und Leila S. Chudori.

Die Werke der Generation 2000 bestechen durch ihre freien und vielfältigen Themen wie Erotik und Sexualität, Sozialpolitik, Urbanität, Philosophie, Feminismus, Religiosität, Technischer Fortschritt (Internet).

Duftende Literatur

Der Begriff "sastrawangi" (Duftende Literatur) kam in dieser Phase auf. Er bezieht sich auf die Bücher, die sich mit Erotik und Sexualität beschäftigen und die von jungen Schriftstellerinnen (hübsch, modisch, schlau und rebellisch) geschrieben wurden. Ayu Utami, die Autorin der Romane Saman (1998) und Larung (2001) ist die im Ausland bekannteste Autorin der sastrawangi.

Über die duftende Literatur, vor allem Utamis Roman Saman, wurde unter Lesern und Literaturbeobachtern kontrovers diskutiert. Einerseits lobte man den frischen Wind und den rebellischen Geist der Feministinnen, andererseits unterstellte man ihnen, vulgäre Themen zu behandeln, mit denen man auf die Sensationslust der Leser setze. Auf jeden Fall brachte die sastrawangi ihre ganz eigene Farbe in Indonesiens literarische Welt ein.

Buchcover "Saman" der indonesischen Autorin Ayu Utami
Indonesiens "duftende Literatur": Mit ihrem Roman «Saman» aus dem Jahr 2000 hat die heute 46-jährige Ayu Utami eine ganze Generation beeinflusst.

Nicht wenige Schriftsteller sahen jedoch die Moral der jungen Generation in Gefahr. Als Gegengewicht boomt seitdem die religiöse (islamische) Literatur. Motor dieser Bewegung sind Helvy Tiana Rosa und Asma Nadia. Sie gründeten das Forum Lingkar Pena (FLP), dem hunderte von jungen Schriftstellern aus ganz Indonesien beitraten. Zu den beliebtesten Autoren dieser Bewegung zählt Habiburrahman El-Shirazy. Sein Roman Ayat-Ayat Cinta (Liebesverse) erreichte riesige Verkaufszahlen und die Verfilmung wurde ein großer Kinoerfolg.

"Zurück zur Tradition"

Eine weitere Strömung prägte die Generation 2000: Unter dem Motto "Zurück zur Tradition" zogen manche Schriftsteller ihren Romanstoff aus regionalen Kulturen und Traditionen. Beispiele hierfür sind die balinesische Schriftstellerin Oka Rusmini und ihr Roman "Erdentanz" sowie der Autor Andrea Hirata, der in seinem Roman "Die Regenbogentruppe" von seiner Kindheit auf der Insel Belitung erzählt.

Lokale Themen sind jedoch nichts Neues in der indonesischen Literatur. Schon viel früher haben Schriftsteller wie z.B. Ahmad Tohari ihre Inspiration aus den lebendigen Traditionen der Ethnien Indonesiens gezogen.

Auch die Cyber-Literatur begann in diesem Jahrzehnt zu erblühen. Sie bildet ein Gegengewicht zu den elitären Mainstream-Medien. Die Cyber-Autoren benutzen das Internet (Mailing-Listen, Blogs, Soziale Medien wie Facebook und Twitter) als Medium, um ihre literarischen Werke zu veröffentlichen.

Am häufigsten werden Gedichte, Kurzgeschichten, Essays und Literaturkritiken online gestellt. In diesem Kontext darf ein Name nicht unerwähnt bleiben: Saut Situmorang. Der im zentraljavanischen Jogjakarta lebende Dichter gehört zu den einflussreichsten und kritischsten Persönlichkeiten der Internet-Literaturszene.

Komunitas Utan Kayu/Salihara

1994 gründete Goenawan Mohamad das Kulturzentrum "Komunitas Utan Kayu" (KUK), welches 2008 mit seinem Umzug in die Jalan Salihara (Straße in Süd-Jakarta) in "Komunitas Salihara" umbenannt wurde.  Das Zentrum brachte auch das Kulturmagazin Kalam heraus, das einst als Gegengewicht zur dominierenden Literaturzeitschrift Horison gedacht war. Seit 2007 wird es als Online-Magazin weitergeführt.

Salihara, wie zuvor auch schon Utan Kayu, nimmt häufig neue Intellektuelle und Schriftsteller in seine Gruppe auf und verschafft diesen zu Bekanntheit. Außerdem setzt die Institution literarische Trends. Erfolgreiche Beispiele sind die Autorinnen Ayu Utami und Laksmi Pamuntjak. Goenawan Mohamad ist es gelungen, ein Imperium zu schaffen, von dem Kritiker sagen, es habe zu einer Hegemonie in Indonesiens literarischer Welt geführt.

Autor und Publizist Goenawan Mohamad; Foto: DW/Hendra Pasuhuk
In der Kritik: Goenawan Mohamad wird unterstellt, er nutze die Buchmesse für die Interessen seiner Salihara-Gruppe aus. Schriftsteller wie A.S. Laksana bewertet den Auswahlprozess der Bücher, die man in Frankfurt präsentieren möchte, als intransparent und ohne nachvollziehbare Kriterien.

Dieser bietet seit einiger Zeit die Gruppierung Boemi Poetra die Stirn. "Anführer" dieser Gruppe sind Saut Situmorang und Wowok Hesti Prabowo. Vor allem Saut Situmorang nutzt die sozialen Medien, um seinen Unmut Ausdruck zu verleihen.

Die Frankfurter Buchmesse 2015

Obwohl die indonesische Literatur im eigenen Land im Aufwind ist, ist es ihr bislang nicht gelungen, sich international zu etablieren. Die Zahl der übersetzten Werke aus dem Indonesischen ist immer noch sehr gering.

Nachdem Indonesien zum Ehrengast der Internationalen Frankfurter Buchmesse 2015 gewählt wurde, reagierte die indonesische Regierung zunächst mit Ratlosigkeit. Entsprechend langsam und unstrukturiert liefen auch die Vorbereitungen.

Seit 2014 wurde viel über das bevorstehende Ereignis diskutiert und beraten. Doch obwohl es gelang, eine Liste mit über zweitausend Buchtiteln aus den unterschiedlichsten Genres aufzulisten, wurden am Ende lediglich 300 für die Teilnahme am Übersetzungsförderungsprogramm ausgewählt. Das Erziehungs- und Bildungsministerium stellte insgesamt 144 Milliarden Rupiah für dieses Projekt zur Verfügung.

Zu Beginn schenkten einige Schriftsteller dem Projekt nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Viele Autoren agieren lieber unabhängig von Regierungsinstanzen. Doch ein Aufruhr ging durch die Reihen, als ausgerechnet Goenawan Mohamad zum Vorsitzenden des Organisationskomitees der Buchmesse ernannt wurde.

In den sozialen Medien kritisieren Schriftsteller wie A.S. Laksana, Linda Christanty und Saut Situmorang den Planungsprozess rund um die Präsentation der indonesischen Literatur. Goenawan Mohamad wird unterstellt, er nutze die Buchmesse für die Interessen seiner Salihara-Gruppe aus. A.S. Laksana bewertet den Auswahlprozess der Bücher, die man in Frankfurt präsentieren möchte, als intransparent und ohne nachvollziehbare Kriterien.

Abgesehen von der Polemik um die Vorbereitungen des indonesischen Gastlandauftritts, stellt dieser eine große Ehre für Indonesien und seine Literaten dar. Die Hoffnungen sind groß, dass in der Zukunft immer mehr literarische Werke des Inselreiches in andere Sprachen übersetzt werden.

Wayan Sunarta

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Bahasa von Birgit Lattenkamp

Wayan Sunarta wurde am 22.Juni 1975 in Denpasar auf der Insel Bali geboren. Nach dem Studium der Anthropologie bildete er sich in Malerei an der ISI Denpasar (Indonesisches Institut der Künste) weiter. Anfang der 90er Jahre begann er mit dem Verfassen von Gedichten, Kurzgeschichten, Artikeln, Kunst- und Literaturkritiken. Seine Texte erscheinen häufig in lokalen und nationalen Medien wie der Zeitschrift "Tempo" und den Tageszeitungen, "Bali Post", "Kompas", "The Jakarta Post" und vielen mehr.