Abgesang auf Gandhi

Vom friedlichen Erbe Gandhis hat sich die hindu-nationalistische Regierung in Neu Delhi 150 Jahre nach der Geburt des indischen Freiheitskämpfers weiter entfernt als jede Vorgängerin. Die anhaltende systematische Ausgrenzung von Muslimen wirft hierauf ein Schlaglicht. Von Dominik Müller

Von Dominik Müller

Am 2. Oktober vor 150 Jahren wurde Gandhi geboren. Weltweit gilt er als Symbol für Versöhnung und gewaltfreien Widerstand, viele Inder sahen ihn jahrzehntelang als Führungsfigur des Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Kolonialherrschaft. Noch findet sich sein Konterfei auf sämtlichen Banknoten, seine Büste ziert noch viele offizielle Gebäude auf dem Subkontinent. Auch ein paar Gedenkveranstaltungen soll es in Indien geben. Aber Mitglieder der Regierungspartei und andere Hindunationalisten wollen mit ihm abrechnen und konterkarieren sein Vermächtnis.

"Ich war fest davon überzeugt, dass die von Gandhi vertretenen Lehren der absoluten Gewaltfreiheit letztendlich zur Entmannung der hinduistischen Gemeinschaft führen würden", schrieb Nathuram Godse, "sie wäre nicht mehr in der Lage, der Aggression anderer Gemeinschaften, insbesondere der Muslime, zu widerstehen".

Er ist als Gandhi-Mörder in die Geschichte eingegangen. Sein 200 Seiten Bekenntnis "Warum ich Gandhi getötet habe" – er schrieb es kurz vor seiner Hinrichtung 1949 - fehlt heute in keiner indischen Buchhandlung.

Tief gespalten

Kaum irgendwo in Indien ist Gandhis Vermächtnis vom friedlichen Zusammenleben der Religionen mehr unter die Räder gekommen als in Gujarat, an dessen Küste Gandhi aufwuchs und wo er in Ahmedabad 1915 sein erstes spirituelles Zentrum, einen Aschram, gründete. Heute durchzieht Ahmedabad eine Mauer, drei Kilometer lang, drei Meter hoch, mit Stacheldraht und einbetonierten Glassplittern gekrönt. Sie trennt den Stadtteil Vejelpur vom benachbarten Juhapura.

Muslime in Citizennagar, Ahmedabad; Foto: Dominik Müller
Indiens Muslime als Bürger zweiter Klasse: Citizennagar, "Bürgersiedlung", nennt sich dieser Slum am Stadtrand von Ahmedabad. Es liegt zwischen der städtischen Müllkippe und einer Chemiefabrik. Bewohnt wird es von Muslimen, die während der Pogrome von 2002 aus anderen Stadtteilen Ahmedabads fliehen mussten.

Treibende Rhythmen und die Glocken der Tempel ertönen auf der einen Seite, in Vejelpur, einem gepflegten Quartier der Mittelschicht im Süden der Sechs-Millionen-Metropole. An Straßenrändern und Hausfassaden wehen safrangelbe Fahnen. "Nur für Hindus", heißt es auf Schildern, die an vielen Wohnblocks angebracht sind.

Auf der anderen Seite der Mauer sind asphaltierte Straßen die Ausnahme – Juhapura ist nach den Pogromen 2002 auf mehr als 400.000 Einwohner angewachsen. Viele Muslime haben sich dorthin geflüchtet, nachdem sie aus ihren Häusern in anderen Teilen Ahmedabads vertrieben worden waren. Damals war der heutige Premierminister, Narendra Modi, Regierungschef des Bundesstaates.

Der Stadtteil wirkt eng, staubig und heruntergekommen. Fünfmal am Tag ruft der Muezzin zum Gebet in eine der knapp hundert Moscheen. Grüne Fahnen prägen das Bild. Juhapura ist das größte muslimische Ghetto Indiens. In Anspielung auf den Erzfeind Pakistan wird Juhapura auch "Klein-Pakistan" genannt.

Mit einer Adresse in Juhapura oder einem muslimischen Namen brauche man sich bei öffentlichen Einrichtungen gar nicht erst um eine Stelle bewerben, so Menon Trivedi, ein Muslim aus Ahmedabad. Es gäbe viele Formen, Muslime zu demütigen und als Bürger zweiter Klasse zu behandeln.

"Einmal haben sie alle Hunde in der Stadt eingesammelt und in den muslimischen Vierteln, vor allem hier in Juhapura, ausgesetzt", berichtet der Mittvierziger. "Jeder im Ghetto fühlt sich verletzbar." Die Abwasserrohre würden nicht gewartet, manchmal sei der Gestank unerträglich. Banken und Geldautomaten fehlten, die Strom- und Wasserversorgung sei völlig unzureichend.

Gandhis Mörder als gefeierter Volksheld

"Nathuram Godse war ein Patriot, ist ein Patriot und wird ein Patriot bleiben", verkündete die BJP-Kandidatin im Wahlkreis der Millionenstadt Bhopal, Pragya Singh Thakur, im vergangenen Mai während des Wahlkampfs. "Die Leute, die ihn einen Terroristen nennen, sollten besser mal nachdenken. Sie werden bei der Wahl eine passende Antwort erhalten." Dieses Zitat machte Schlagzeilen in den indischen Medien, denn solch offene Lobpreisung des Gandhi-Mörders gilt auch heute noch als Grenzüberschreitung.

Muslime im indischen Bundesstaat Assam; Foto: AFP/Getty Images
Zu Staatenlosen erklärt: Fast zwei Millionen Menschen im indischen Bundesstaat Assam droht die Abschiebung nach Bangladesch. Das nationale Register für Staatsbürger (NRC) veröffentlichte Ende August laut indischen Medienberichten 1,9 Millionen Muslime, die in der Region leben, zu illegalen Migranten. Viele der Betroffenen waren 1971 während des Unabhängigkeitskriegs des damaligen Ostpakistan - heute Bangladesch - in die indische Nachbarregion Assam geflohen.

Die 48jährige Kandidatin rühmte sich öffentlich, 1992 an der Zerstörung der Babri-Moschee im nahe gelegenen Ayodhya beteiligt gewesen zu sein. Sie wird außerdem beschuldigt, 2008 an einem Bombenattentat mitgewirkt zu haben, bei dem mehrere indische Muslime ums Leben kamen. Deshalb verbrachte sie bereits neun Jahre im Gefängnis und ist seit 2017 nach der Zahlung einer Kaution auf freiem Fuß – das abschließende Urteil ist noch anhängig. Die BJP stellte sie trotzdem als Kandidatin auf.

Nur ihr Lob für den Gandhi-Mörder wiesen einige Parteifreunde und auch Premierminister Narendra Modi zurück, ohne allerdings deshalb einen Parteiausschluss oder Sanktionen zu fordern. In ihrem Wahlkreis setzte sich die Hindu-Hardlinerin, die sich nur zögerlich von ihrer Aussage distanzierte, mit einer absoluten Mehrheit von über 60 Prozent bei den diesjährigen Wahlen zum indischen Unterhaus durch.

Große Pogrome wie die von 2002, die auf internationaler Bühne für Aufregung gesorgt haben, hat es seitdem zwar nicht mehr gegeben. Aber seit die BJP an der Macht ist, häufen sich Morde durch Lynchmobs, oft wegen des vermeintlichen Verzehrs von Rindfleisch. Die Taten werden kaum geahndet und von manchen BJP-Politikern sogar noch gerechtfertigt. Die Morde haben viele der 200 Millionen Muslime in Angst und Schrecken versetzt.

Gewalt und Behördenwillkür gegen Muslime

Und ein Ende der Gewaltspirale ist noch längst nicht erreicht: Denn im nordöstlichen Bundesstaat Assam wird derzeit eine regelrechte ethnische Säuberungswelle vorbereitet. Alle 35 Millionen Einwohner müssen beweisen, dass sie oder ihre Eltern bereits vor 1971 in Assam lebten. Sonst verlieren sie ihre Staatsbürgerschaft. Anfang September wurde eine Liste mit 1,9 Millionen Namen veröffentlicht, die ihre Staatsbürgerschaft bereits verloren haben – vor allem Muslime. Die Behörden haben damit begonnen, sie aus ihren Siedlungen zu vertreiben und zu internieren.

Als Staatenlose werden sie nirgendwo mehr hin können. Das benachbarte Bangladesch mit seinen 160 Millionen Einwohnern hat schon signalisiert, die Staatenlosen nicht aufnehmen zu wollen.

Assam ist ein Versuchslabor und ein Angriff auf die muslimische Minderheit in Indien, ebenso wie die Aberkennung der Sonderrechte für Kaschmir. Innenminister Amit Shah hat angekündigt, die Staatsbürgerschaft ähnlich wie in Assam überall in Indien überprüfen zu wollen. Amit Shah, der die vermeintlichen Einwanderer auch als "Ungeziefer" bezeichnet, ist seit zwei Jahrzehnten der engste Vertraute von Premierminister Narendra Modi. Vom Vermächtnis Gandhis hat sich die Modi-Regierung in Neu Delhi weiter entfernt als jede Vorgängerin.

Dominik Müller

© Qantara.de 2019