Warum die Gewalt gegen Minderheiten eskaliert

Wie sehr gefährdet die hindunationalistische Regierung von Narendra Modi die säkulare Gründungsidee Indiens? Darüber sprach Sonja Hegasy in Delhi mit dem Sozialanthropologen und politischen Analysten S. M. Faizan Ahmed.

Von Sonja Hegasy

Herr Ahmed: Woher kommt die Tradition der hinduistischen Ram Navami-Prozessionen und wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt? 

Faizan Ahmed: Ram Navami ist eine uralte Tradition anlässlich des Geburtstages von Lord Ram, der im religiösen Hindu-Epos Ramayana erwähnt wird. Doch wurde er wahrscheinlich vor dem 11. Jahrhundert nicht besonders verehrt. Die früheste Shobha Yatra (Ruhmesprozession) wurde wohl erstmals 1929 in Hazaribaagh gesehen. Ein erster größerer Aufstand anlässlich von Ram Navami wurde 1979 gemeldet, als in Jamshedpur 116 Menschen aufgrund der polarisierenden Rede des damaligen Vorsitzenden der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), Balasaheb Deoras, starben.

Die "RSS-Familie", das heißt verschiedene Hindutva-Organisationen (nationalhinduistische Organisationen, Anm. der Red.), die sich unter der Ideologie der RSS zusammengeschlossen haben, sind zum Beispiel auch für die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 verantwortlich, die in ganz Indien zu Gewalt führte. Die Bharatiya Janata Party (BJP), die ebenfalls zur RSS-Familie gehört, verwandelte Ramas Bild vom Inbegriff ethischer Vollkommenheit in ein aggressives und selbstbewusstes Symbol hinduistischer Macht, um die Stimmen der Hindus für sich zu gewinnen.

Heute haben sich die Ram Navami-Prozessionen oft in eine sinnlose Zurschaustellung von Waffen und absichtlichen Provokationen verwandelt. Ihre Anhänger marschieren durch dicht besiedelte muslimische Ortsteile und skandieren provokative Slogans vor Moscheen, heiligen Stätten und Bildungseinrichtungen der muslimischen Gemeinschaft, was natürlich zu Problemen mit der öffentlichen Ordnung und zu Zusammenstößen zwischen den Gemeinschaften führt. 

RSS und BJP sind eng verbunden

Was ist die RSS und was wissen wir über ihre derzeitige Zusammenarbeit mit der regierenden BJP?  

Ahmed: Die RSS ist eine antichristliche, antimuslimische und antikommunistische paramilitärische Freiwilligenorganisation der Hindus. RSS und BJP sind untrennbar miteinander verbunden, da sie die gleiche Ideologie und Vision teilen. Es wird oft übersehen, dass drei von vier Ministern in der derzeitigen BJP-Regierung der RSS angehören.

Anhänger einer Hindu-Organisation am Dasna Devi-Tempel 2021: Foto: Hindustan Times/Imago Images
Anhänger einer Hindu-Organisation am Dasna Devi-Tempel 2021: Radikale Hindu-Organisationen wie die RSS haben zur Zunahme von Gewalt gegen Minderheiten beigetragen. "Die RSS ist eine antichristliche, antimuslimische und antikommunistische paramilitärische Freiwilligenorganisation der Hindus. RSS und BJP sind untrennbar miteinander verbunden, da sie die gleiche Ideologie und Vision teilen,“ sagt Faizan Ahmed. "Es wird oft übersehen, dass drei von vier Ministern in der derzeitigen BJP-Regierung der RSS angehören. Während die RSS der 'Stamm des Lotus' (das Symbol der BJP) ist, fungieren die BJP und andere der RSS nahestehende Organisationen als einzelne Blütenblätter, wobei sie äußerlich scheinbar unterschiedliche Farben aufweisen, in Wirklichkeit aber alles Schattierungen der safranfarbenen BJP-Ideologie sind.“ 



Während die RSS der "Stamm des Lotus" (das Symbol der BJP) ist, fungieren die BJP und andere der RSS nahestehende Organisationen als einzelne Blütenblätter, wobei sie äußerlich scheinbar unterschiedliche Farben aufweisen, in Wirklichkeit aber alles Schattierungen der safranfarbenen BJP-Ideologie sind. 

Gab es während des Ramadan 2023 eine Eskalation? 

Ahmed: In diesem Ramadan kam es an mindestens 28 Orten in zehn indischen Bundesstaaten zu Provokationen, Vandalismus und gewalttätigen Zusammenstößen in Zusammenhang mit Ram Navami-Prozessionen. Die Demonstranten drangen absichtlich in dicht besiedelte muslimische Ortschaften ein, manchmal ohne über eine Genehmigung für die Route der Prozession zu verfügen. Sie spielten lautstark provokative Slogans und Lieder, was zu Steinwürfen, Messerstichen und Schwertattacken führte. 

Wer kritisiert die Hindutva-Brigade von innen? Und welche Stimmen verteidigen Indiens Gründungsidee von einem säkularen Staat? 



Ahmed: Eine Handvoll religiöser Hindu-Priester kritisiert die Hindutva-Politik, aber nur selten. Neben den Oppositionsführern hat sich auch die liberale indische Intelligenz daran gemacht, die Propaganda des derzeitigen Regimes zu entlarven. Tausende von Akademikern in Indien haben offene Briefe gegen die Hindutva-Angriffe unterzeichnet, was nicht mehr so einfach ist.



Im vergangenen Jahr gab es einen regelrechten Ansturm auf kritische akademische Einrichtungen, so dass es nicht leicht ist, sich an solchen Kampagnen zu beteiligen. Ihre Kritik kommt jedoch nicht aus dem Hinduismus, sondern hat säkulare Motive. 

Die Rolle der Polizei ist oft fragwürdig

Wir haben gehört, dass die Polizei in Delhi sowohl Ramadan-Gebete als auch Ram Navami-Veranstaltungen in einem öffentlichen Park verboten hat. Spielt die Polizei in Delhi eine neutralere Rolle als in anderen indischen Bundesstaaten? 

Ahmed: Die Polizei in Delhi ist sicherlich besser und effizienter als in vielen anderen Bundesstaaten, aber ihr Umgang mit solchen Situationen der kommunalen Gewalt bleibt unklar. Im Allgemeinen ist die Exekutive dem herrschenden Regime untergeordnet, und ihre unparteiische Rolle in politischen Fällen oder bei kommunalen Konflikten ist oft fragwürdig.

Indiens Premierminister Narendra Modi; Foto: Adnan Abid/Reuters
Mehr Hass auf Muslime unter Premierminister Narendra Modi: "Obwohl rechtsgerichtete Gruppen schon früher zum Völkermord an den Muslimen aufgerufen haben und es in der Vergangenheit Massaker an Muslimen gab, haben Lynchmorde, gezielte Tötungen von sozialen Aktivisten und zügellose Verhaftungen von Andersdenkenden unter der BJP-Herrschaft stark zugenommen,“ sagt der politische Analyst Faizan Ahmed. "Das macht den Bürgern Angst, sich kritisch zu äußern. Dennoch ist eine ethnische Säuberung unwahrscheinlich, da das Land wirklich erst ganz vor die Hunde gehen müsste, um eine solche Politik zu entfalten. Politiker in Indien sind selten explizit und sprechen mehr in Andeutungen. Auf diese Weise kommunizieren sie und kommen mit ihren Hassreden davon.“



Vielleicht wurde vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen mit Problemen der öffentlichen Ordnung und angesichts der Tatsache, dass Delhi das Zentrum der nationalen Politik ist, eine Eskalation während Ram Navami im Monat Ramadan verhindert, um eine weitere Welle von Protesten in der Hauptstadt zu vermeiden. 

Die Gewalt gegen Muslime hält seit Jahrzehnten an - auch unter der Herrschaft der Mitte-Links-Kongresspartei, wenn wir beispielsweise an den Abriss der Babri Masjid in Aydhoya, Uttar Pradesh, im Jahr 1992 und die antimuslimischen Ausschreitungen in Bombay 1993 denken. Im vergangenen Jahr ging die Kongresspartei ein Bündnis mit der rechtsgerichteten hindunationalistischen Partei Shiv Sena ein. Geht der Kongress einen "Pakt mit dem Teufel" ein, um wieder an die Macht zu kommen? 

Ahmed: Obwohl die Shiv Sena und die BJP dieselbe Wählerschaft haben, sollte man beachten, dass Shiv Sena nicht mit der RSS verbunden ist. Die 1966 gegründete Partei Shiv Sena ist auch älter als die BJP. Obwohl sie eine rechtsgerichtete Partei und ein langjähriger Verbündeter der BJP ist, ist sie nur eine regionale politische Kraft im Bundesstaat Maharashtra mit einem Parteiprogramm, das sich gegen Migranten aus anderen Bundesstaaten richtet.

Im vergangenen Jahr spaltete sich die Partei in zwei Teile: Die von Eknath Shinde geführte Shiv Sena Eknath Shinde trat der regierenden Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) unter Führung der BJP bei, während die Shiv Sena Uddhav Balasaheb Thackerey vom Sohn ihres Gründers Bal Thackerey geführt wird. Im Gegensatz zu seinem Vater ist Uddhav kein Hardliner, und dies ebnete der lokalen Kongresspartei den Weg, ein Bündnis mit der Shiv Sena einzugehen, um eine Regierung auf regionaler Ebene zu bilden. 

Muslimen fehlt die schlagkräftige politische Vertretung

Welche Partei wird heute als Vertreterin der Interessen indischer Muslime angesehen? 

Ahmed: Es gibt mehrere gleichnamige muslimische politische Parteien, aber sie sind unbedeutend. Nach 1992 verließen die Muslime weitgehend den Kongress und begannen, für regionale Parteien zu stimmen. Heute sind die Stimmen der Muslime auf verschiedene politische Parteien verteilt und somit schwach. Und diese Parteien behandeln sie lediglich als Stimmvieh. Ihre Unterrepräsentation in allen Bereichen zeigt ihre Diskriminierung und keine der politischen Partei agiert hier wirklich anders.

 



 

Seit seiner Gründung gab es in Indien wiederholt große Bevölkerungsbewegungen und Bevölkerungsaustausch. Können wir derzeit von verstärkten Bemühungen in Richtung ethnische Säuberung sprechen? Und wenn ja, wie kommt Narendra Modi damit durch?  

Ahmed: Heute sind wir das bevölkerungsreichste Land mit der drittgrößten muslimischen Bevölkerung der Welt. Obwohl rechtsgerichtete Gruppen schon früher zum Völkermord an den Muslimen aufgerufen haben und es in der Vergangenheit Massaker an Muslimen gab, haben Lynchmorde, gezielte Tötungen von sozialen Aktivisten und zügellose Verhaftungen von Andersdenkenden unter der BJP-Herrschaft stark zugenommen. Das macht den Bürgern Angst, sich kritisch zu äußern. Dennoch ist eine ethnische Säuberung unwahrscheinlich, da das Land wirklich erst ganz vor die Hunde gehen müsste, um eine solche Politik zu entfalten. Politiker in Indien sind selten explizit und sprechen mehr in Andeutungen. Auf diese Weise kommunizieren sie und kommen mit ihren Hassreden davon. 

Indien war schon immer stolz auf seine religiöse Vielfalt und hat sein nationales Image vor allem auf der Idee des Säkularismus aufgebaut. Wer ist Ihrer Meinung nach heute der überzeugendste Verfechter eines säkularen Indien? 

Ahmed: Es gibt mehrere führende Persönlichkeiten in den Oppositionsparteien, aber niemand kann es mit der Überzeugungskraft, der indienweiten Popularität und dem Charisma von Kongressführer Rahul Gandhi aufnehmen, wie er bei seinem Marsch vom Süden in den Norden im vergangenen Jahr gezeigt hat. Offensichtlich sieht auch die BJP in ihm die einzige ernsthafte Bedrohung, weshalb sie Rahul Gandhi letzten Monat das Parlamentsmandat entzogen hat. 

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2023

S. M. Faizan Ahmed ist ein in Delhi ansässiger Sozialanthropologe und politischer Analyst. Er hat sich mit Themen wie Männlichkeit, Bildung und Madrasas in Indien, Massengewalt, Kino, Islam in Europa, Terrorismus, Kommunalismus, indische Politik und Sicherheitsstudien beschäftigt. 

Sonja Hegasy ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO) und derzeit Fellow am International Centre of Advanced Studies '"Metamorphoses of the Political" in Delhi.