Böses Erwachen

In ihrem jüngsten Roman trifft Ibtisam Azem unseren Nerv mit einer Fiktion, die ebenso fasziniert wie bewegt und die die moralische Kehrtwende aufzeigt, zu der Menschen fähig sind, wenn sie mit dem Unerklärlichen konfrontiert werden. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Was wäre, wenn alle Palästinenser, die in Israel leben, plötzlich und unerklärlich um Mitternacht verschwänden, so als ob sie von Außerirdischen entführt oder von Cinderellas guter Fee verzaubert worden wären? Was geschähe mit den Lebensgeschichten, die sie zurückließen?

Dieser Frage geht Ibtisam Azem in ihrem neuen Roman "The Book of Disappearance" (dt. "Das Buch über das Verschwinden") nach, das diesen Sommer in englischer Übersetzung des international ausgezeichneten Schriftstellers Sinan Antoon erschien.

Das massenhafte Verschwinden oder Abwandern von Menschen ist ein durchaus bekanntes palästinensisches Narrativ, doch Ibtisam Azem nähert sich dem Thema auf ihre ganz eigene Weise. Denn diesmal scheint niemand der Übriggebliebenen zu wissen, wie oder warum die Menschen verschwunden sind.

Das Buch beginnt mit einem Verlust, der eine sehr persönliche Dimension hat: Alaa, einer der Hauptprotagonisten des Romans, findet seine vermisste Großmutter tot auf einer Holzbank mit Blick auf das Ufer von Jaffa.

"Ich mochte Beirut nie"

Jaffa ist auch der maßgebliche Schauplatz des Buches. Die Stadt, aus der Palästinenser einst massenhaft während des ersten arabisch-israelischen Kriegs von 1948 vertrieben wurden. Alaas spitzzüngige Großmutter weigerte sich allerdings beharrlich zu gehen. "Ich mochte Beirut nie. Ich weiß nicht, warum es bei den Leuten so beliebt ist. Da gibt es nichts Sehenswertes." Alaas Großvater floh damals ohne seine Frau nach Beirut und wollte offenbar heimkehren, sobald sich die Lage beruhigt hatte. Doch er blieb in der Ferne.

Buchcover Ibtisam Azem: "The Book of Disappearance" im Verlag Syracuse University Press
"Die Schönheit des Buches liegt in der virtuosen Umsetzung", schreibt Marcia Lynx Qualey. "Azem entwickelt Spannungsbögen durch Schaffung sympathischer Charaktere mit menschlichen Schwächen."

Was damals in Jaffa geschah, war auch ein Massenverschwinden, so erinnert uns der Roman. 1948 schrumpfte der Anteil der palästinensischen Bevölkerung in Jaffa von rund 100.000 auf eine kleine Gruppe von kaum 4.000 Personen.

Der damalige Exodus lässt sich allerdings erklären. Von seiner Großmutter erfuhr Alaa: "Die Kugeln waren überall. Sie schossen auf uns, sobald wir vors Haus gingen."

Einige Fragen bleiben ungeklärt: Warum ließ Alaas Großvater seine schwangere Frau allein zurück? Diese Geheimnisse rekurrieren auf die große Unbekannte des Buches: Warum sind die Palästinenser erneut verschwunden?

Das Verschwinden im 21. Jahrhundert

Nach dem Tod von Alaas Großmutter wenden wir uns Ariel zu, der israelischen Hauptfigur. Ariel ist Journalist und liberaler Zionist, der sich selbst als tolerant gegenüber Arabern sieht, solange damit kein nennenswertes persönliches Opfer verbunden ist.

Er ist Nachbar von Alaa. In der Nacht vor dem Verschwinden waren beide zusammen aus. Als Ariel aufwacht, bemerkt er, dass Alaa und alle anderen Palästinenser fort sind.

In den folgenden Kapiteln werden wir Zeuge, wie die Arbeitsplätze der Palästinenser verwaist bleiben: auf dem Feld, im Krankenhaus oder hinter dem Lenkrad der Busse und Taxen. Zeitungen werden nicht ausgeliefert, Cafés bleiben geschlossen.

Wir sehen die Wachen im Hochsicherheitsgefängnis in Panik, als sie die Nummern derjenigen aufrufen, die sie hinter Gittern wähnen. Als die Armee in palästinensische Häuser eindringt, finden sie dort laufende Fernseher und eingedeckte Tische.

In einer ersten Reaktion meinen viele israelische Bürger, die Araber seien im Streik. Die Morgennachrichten berichten von einem "Notstand ...., da die Araber einen Generalstreik erklärt haben. ...  Alle arabischen Bewohner in Israel, Judäa und Samaria sowie im Gazastreifen sind verschwunden."

In diesem ersten Bericht heißt es weiter: "Bemerkenswerterweise haben weder führende arabische Köpfe in Israel noch die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Absicht erklärt, in Streik zu treten." Die Sendung endet mit einer munteren, routinemäßigen Wettervorhersage: "Sonnig mit Temperaturen bis zu 20 Grad Celsius."

Nicht jeder glaubt an einen Streik. Ariel lauscht einer Radiosendung, in der ein Hörer namens Daniel den tapferen Soldaten dankt, "die uns in einer sauberen Operation von der fünften Kolonne und den allgegenwärtigen Terroristen befreit haben." Ist es das, was passiert ist? Der hinzugezogene Experte rät zwar zur Vorsicht, wenn es darum geht, die Geschehnisse den israelischen Streitkräften zuzuschreiben, schließt dies aber keineswegs aus.

Wie Ariel sich der Erinnerungen Alaas bemächtigt

Als Zehntausende Palästinenser im Frühjahr 1948 aus Jaffa flohen, wurden ihre Häuser oft von neu eintreffenden Siedlern mit Beschlag belegt. Wie heute unter guten Nachbarn durchaus üblich, hatte Alaa einen Ersatzschlüssel bei Ariel hinterlegt.

Palästinensische Fischer am Strand von Gaza vor einem Stein mit der Aufschrift Jaffa; Foto: Reuters
Jaffa ist der maßgebliche Schauplatz des Buches. Die Stadt, aus der Palästinenser einst massenhaft während des ersten arabisch-israelischen Kriegs von 1948 vertrieben wurden. Was damals in Jaffa geschah, war auch ein Massenverschwinden, so erinnert uns der Roman. 1948 schrumpfte der Anteil der palästinensischen Bevölkerung in Jaffa von rund 100.000 auf eine kleine Gruppe von kaum 4.000 Personen.

Zunächst klopft Ariel an die Tür der verwaisten Wohnung. Doch als niemand antwortet, sagt er sich, dass Alaa nichts dagegen haben dürfte, wenn er nach dem Rechten sieht. Zuerst geht es wohl nur darum, nach seinem Nachbarn zu sehen. Aber schnell übermannt ihn die Neugierde. Ariel probiert Kennwörter auf Alaas Notebook aus und hebt das rote Notizbuch auf, das Alaa als Tagebuch diente.

Ariel fühlt sich zunächst unwohl. Seine Schnüffeleien erinnern ihn an "das ungute Gefühl, das er früher während seines Militärdienstes empfand."  Dennoch liest er das Tagebuch seines Nachbarn. Er erfährt nicht nur über Alaas Nöte, sondern auch über das Leid der verstorbenen Großmutter, die zur Fremden in ihrer eigenen Heimat wurde. Doch Ariel ist nicht fähig, Empathie zu empfinden. Im Gegenteil: Er eignet sich Alaas Erinnerungen an, wie wir später sehen werden.

Eine neue Welt ohne Palästinenser

Schon bald gewöhnt sich Ariel an die neue Welt ohne Palästinenser. Hin und wieder denken er und andere mit Bedauern und auch Furcht an das mysteriöse Verschwinden. Ein Barkeeper im nahegelegenen Chez George meint zu Ariel: "Vielleicht kriechen die Araber bald wie Zombies aus jeder Ecke und nehmen Rache."  Aber auch vierundzwanzig Stunden später tauchen keine Zombies auf. Tatsächlich "fand man keinen einzigen Tropfen Blut. Mit Erleichterung stellte man fest, dass die Armee entweder nicht für das Verschwinden verantwortlich war oder es perfekt ausgeführt hatte."

Ariel packt eine Tasche, um in Alaas Wohnung zu übernachten. Denn der Premierminister hat erklärt, dass jeder, der sich am nächsten Morgen um 3 Uhr morgens nicht im Land befindet, seinen Anspruch als Bürger des Landes verlieren wird. Noch bevor diese Frist verstrichen ist, ruft Ariels Mutter an, die wild entschlossen ist, sich eines der alten arabischen Häuser in der Abbas Street in Haifa anzueignen.

Ariel hingegen konzentriert sich auf Alaas Tagebuch, das er zu einer Chronik der Zeit vor dem Verschwinden umschreiben will. Er möchte Auszüge aus dem Hebräischen übersetzen und eigene Berichte einstreuen. Obwohl Ariel die Wohnung von Alaa gar nicht benötigt, plant er, die Schlösser kurz nach Ablauf der Frist auszutauschen.

Die Handlung mag etwas konstruiert erscheinen – Palästinenser verschwinden und Israelis bemächtigen sich ihres Eigentums und ihrer Erinnerungen – aber die Schönheit des Buches liegt in der virtuosen Umsetzung. Azem entwickelt Spannungsbögen durch Schaffung sympathischer Charaktere mit menschlichen Schwächen. Wie sollte ein anständiger Mensch jemals auf den Gedanken kommen, sich das Haus seines befreundeten Nachbarn anzueignen? Im The Book of Disappearance werden wir Schritt für Schritt Zeuge dafür.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers