Dienst an der Waffe im Schnelldurchlauf

Ein in Deutschland gut integrierter Deutsch-Türke muss zum Militär – in der Türkei. Drei Wochen lang spielt der für den Stern arbeitende Grafiker Ibrahim Kepenek Soldat und schreibt dann ein Buch darüber. Volker Kaminski stellt es vor.

Ibrahim Kepenek; Foto: Ali Kepenek
Drei Wochen beim türkischen Militär, für Ibrahim Kepenek eine Begegnung mit fast verloren gegangenen Wurzeln

​​Ibrahim Kepenek scheint ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Als Dreijähriger kommt er nach Deutschland, wächst im "Türken-Ghetto" Köln-Mülheim auf, macht Abitur und studiert Geschichte und Germanistik, später Grafik-Design und arbeitet heute als Grafiker für den "Stern".

Kepenek sagt von sich, er stehe als Deutsch-Türke "zwischen zwei Welten" und werde in Deutschland immer ein "Ausländer" bleiben. Obwohl er fast nur noch deutsche Freunde hat und besser Deutsch als Türkisch spricht, fühlt er sich weiterhin als Türke.

Mit seiner "gespaltenen Seele" bleibt Kepenek immer auf der Suche nach seiner Identität. Darum ist seine Einberufung zum türkischen Militär für ihn auch eine Gelegenheit, sich auf "Spurensuche" zu begeben. Kepenek ist bereits 37, als er in die "fremde Heimat" aufbricht, um "drei Wochen Soldat zu spielen."

Anschaulich und unterhaltsam

"Rühr dich, Kanake!" ist ein unterhaltsamer, bisweilen grotesk anmutender Bericht vom Kurztrip in die türkische Kaserne.

Natürlich kommt Kepeneks dortiger Aufenthalt nicht freiwillig zustande. Jeder im Ausland lebende Türke muss irgendwann - sofern er noch einen türkischen Pass besitzt - Militärdienst leisten.

Der türkische Staat erlässt "Auslandstürken" zwar einen Großteil ihrer Wehrdienstzeit - statt 15 Monate nur drei Wochen -, doch diese Kulanz seitens des Staates ist mit einem handfesten Nachteil verknüpft. Jeder "Auslandstürke" muss 5000 Euro zahlen, damit ihm sein Dienst an der Waffe samt Fahneneid in einer Art Schnelldurchlauf ermöglicht wird.

Anschaulich schildert Kepenek die Strapazen einer ungewollten Militär-Kurzausbildung in einem von soldatischen Traditionen tief geprägten Land.

Er malt sich schon Wochen im Voraus aus, was ihm in der Kaserne passieren könnte. Die Realität in der Schlafbaracke und auf dem riesengroßen Kasernenhof liegt dann tatsächlich nicht weit von seinen ärgsten Befürchtungen entfernt. Exerzieren, Marschieren, Strammstehen bei Hitze und Regen; stundenlange Zählungen und Appelle; ein geregelter, durchorganisierter und doch öder Tagesablauf.

Schlecht gelaunte Feldwebel, strenge Offiziere, schreiende Hauptmänner - das klassische Soldatencamp-Setting. Und doch ist die Ausbildung, die Kepenek und seine Kameraden durchlaufen, von der eines gewöhnlichen türkischen Rekruten sehr verschieden.

Kein Spaß in den Bergen

Keiner der mit ihm eingezogenen 450 Leidensgenossen eignet sich zur Soldatenausbildung. Kepenek trifft gestandene Familienväter, Unternehmer aus aller Welt, ergraute Akademiker, allesamt Männer über dreißig, für die die Lageratmosphäre, der Drill und die Schießübungen allenfalls als Stoff für die eigene Anekdotensammlung geeignet sind.

Trotzdem ist die Sache kein Spaß; in der Abgeschiedenheit der türkischen Provinz, mitten in den Bergen von Burdur, wird schnell klar, wie lang drei Wochen sein können, wenn die äußeren Umstände derart widrig sind, das Zusammenleben beengt, die Situation für alle extrem belastend ist.

Immer wieder stellt sich Kepenek die Frage, was ihn mit seinem Herkunftsland heute noch verbindet. Er zeichnet die Lebensstationen seiner Eltern nach, die als Gastarbeiter Anfang der 70er Jahre nach Deutschland kamen und heute wieder in der Türkei leben. Ihnen zuliebe nimmt er diese Soldatenausbildung eigentlich auf sich.

Neue Nähe zur türkischen Kultur

Seine Rekrutenzeit scheint ihm zwar von Anfang an fragwürdig - und nach einem längeren Gespräch mit dem Oberst des Stützpunkts weiß er, dass die türkische Armee keinen Wert auf ihre soldatischen Fähigkeiten legt; trotzdem fühlt sich Kepenek mit den traditionellen Werten seiner Eltern verbunden, zu denen die Militärausbildung nun einmal gehört.

​​Hatte er sich in seinem gesellschaftlichen Leben in Deutschland immer weiter von der türkischen Kultur entfernt, so spürt er nun auf einmal überraschend viel Nähe zu seinen türkischen Kameraden, zu türkischen Eigenarten und Denkweisen.

Der Drei-Wochen-Trip in die türkische Kaserne ist auch für deutsche Leser spannend. Man kann sich vorstellen, wie merkwürdig eine solche Situation ist - umgeben von hunderten von Leuten aus aller Welt, die teils liebenswert, teils extrem unsympathisch sind.

Kepenek begegnet Mitgliedern der rechtsextremen Grauen Wölfe, die die Kaserne zu Propagandazwecken missbrauchen wollen; er stößt auf allerlei schräge Typen, die in Drogengeschäfte verwickelt sind. Doch er gewinnt auch neue Freunde.

Es gibt viele witzige Details, wie den umständlichen Einkleidungsritus, die zu engen Stiefel, in denen das Marschieren zur Qual wird; merkwürdige Abendveranstaltungen in einem stickigen Auditorium, wo stundenlang Filme zur Gründungsgeschichte der Türkei gezeigt werden und auch ein unerträglich beschönigender Vortrag über die Vertreibung der Armenier angehört werden muss.

Daneben kommt Kepenek in längeren Einschüben immer wieder auf seine eigene Entwicklung zurück. Er zeichnet den Weg nach, den er und seine Geschwister - Kinder anatolischer Bauern - nach und nach in die deutsche Gesellschaft hinein gefunden haben.

Am Ende schließt sich der Kreis; der Leser begreift, wie für Kepenek eine Begegnung mit fast verloren gegangenen Wurzeln über einen derart kuriosen Weg möglich war.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2007

Ibrahim Kepenek, "Rühr dich, Kanake!". Kiepenheuer & Witsch 2007. 224 Seiten. KiWi 1015, Taschenbuch. 7,95 Euro.

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