Die Filmschule von Moria

Homepagebanner des Human Rights Festivals in Berlin 2021; Quelle: Human Rights Festival
Homepagebanner des Human Rights Festivals in Berlin 2021; Quelle: Human Rights Festival

Die Schauspielerin Katja Riemann hat einen kurzen, aber beeindruckenden Dokumentarfilm über ein besonderes Projekt in Moria gemacht. In ihrem Regiedebüt zeigt sie, wie junge Geflüchtete das Einmaleins des Filmemachens lernen. Der Film läuft auf dem Human Rights Film Festival in Berlin noch bis zum 3. Oktober. René Wildangel hat den Film für Qantara.de gesehen.

Von René Wildangel

Die dramatisch schlechten Zustände im Moria-Camp sind berüchtigt. Meist, sagt Katja Riemann zu ihrem Erstlingswerk, wird es aus der Ferne betrachtet: Endlose Reihen von Zelten, überfüllte Einrichtungen und Schlangen von Menschen. Schließlich war das ursprüngliche Lager für gerade einmal 3000 Menschen ausgelegt, aber bald von deutlich über 20.000 Menschen bewohnt – darunter bis zu 7000 Kinder.

Moria wurde zum Sinnbild für die elenden Zustände, die auch in zahlreichen anderen Lagern insbesondere auf den griechischen Inseln gelten. Die unzureichende Unterbringung und Versorgung, sowie die stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit werden als "extrem alarmierend“ mit gravierenden Folgen für die physische und psychische Gesundheit der oft bereits schwer traumatisierten Geflüchteten eingestuft.

Über die Anstrengungen, das Leben der vielen jungen Menschen in Moria etwas erträglicher zu gestalten, ist dagegen wenig bekannt. Katja Riemann will das mit ihrem Erstlings-Dokumentarfilm "...and here we are“ ändern, der das "Refocus Media Lab“ auf Lesbos und ihre beiden Gründer portraitiert. Der Amerikaner Douglas Herman and die Polin Sonia Nandzik haben das Projekt einer Filmschule für Geflüchtete 2018 ins Leben gerufen.

Der perfekte Ort dafür existierte bereits, das "One Happy Family Community Centre“ (OHF), eine soziale Einrichtung für Jugendliche und Familien, in dem der Filmunterricht stattfinden kann. "Im ersten Jahrgang hatten wir gerade einmal eine Frau“, sagt Sonia Nandzik. Aber bald erregt diese eine Filmstudentin mit ihrer Kamera und ihrer Begeisterung so viel Aufmerksamkeit und Neugier, dass sich die Filmschule vor Anfragen kaum retten kann. Schon der nächste Jahrgang war geschlechtermäßig ausgeglichen. "Gender ist hier kein Thema“, sagt Douglas Herman, "die kulturellen Unterschiede auch nicht - und wir hatten Studierende aus zwölf Nationen!“

Flüchtlingslager Moria 2 in Griechenland; Foto: infomigrants
Das Lager Moria auf Lesbos ist ein Symbol für Europas desaströse Flüchtlingspolitik. Einen Monat nach dem Brand in Moria wurde im Oktober 2020 das neue Übergangslager Moria 2 in der Nähe des Ortes Kara Tepe eingerichtet. Hier sollte alles geordneter und besser zugehen. Doch nach starken Regenfällen herrschten in der neuen Zeltstadt wiederum katastrophale Zustände für die rund 10.000 Bewohner. Es bildeten sich riesige Pfützen, die Bewohner versuchten das braune Wasser mit Schaufeln aus den Zelten zu schöpfen, oft vergeblich. Unter den Plastikplanen der Zeltböden sammelte sich das Regenwasser.

Eines der besten Projekte auf Moria

Zwar war es für die Teilnehmerinnen, von denen viele aus Afghanistan stammen, nicht immer selbstverständlich, in einer gemischten Gruppe zu lernen. Aber die Berührungsängste schwinden schnell angesichts der gemeinsamen Begeisterung für das Filmen. Und ihr Selbstbewusstsein wächst rasch. Die jungen Filmschüler schreiben Drehbücher, lernen den Umgang mit Film und Ton, setzen eigene Ideen um. Ganz so wie in einer "richtigen“ Filmschule eben.

Auch einige der Lehrer sind selbst geflüchtet. So wie Ahmad Ebrahimi, der in Afghanistan mit Hassan Fazili einen Dokumentarfilm über die Taliban gemacht hat und danach von ihnen Morddrohungen erhielt. Er hat dem Filmprojekt viel zu verdanken. "Ich denke, Refocus Media Lab ist eines der besten Projekte auf der Insel. Douglas und Sonia haben Wissen, aber vor allem Ablenkung und Hoffnung in das eintönige Leben der Menschen dort gebracht“, sagt Ahmad. Er  weiß wovon er redet. Seine eigene Zeit in Moria hat er in dem beeindruckenden Film "Citizen of Moria“ verarbeitet, in dem auch Douglas Herman und die Schule vorkommen. Viele aus dem Netzwerk der Filmschule sind mittlerweile als Fotografen, Filmemacher oder Journalisten über ganz Europa verteilt.

Die jungen Erwachsenen hier haben bereits ganz andere Erfahrungen gemacht als Filmstudenten, die in Europa aufgewachsen sind. Sie verfügen über eine Lebenserfahrung, die ihnen gern erspart geblieben wäre. "Mich interessiert zum Beispiel“, sagt Teilnehmer Yaser Taheri, "wie Menschen in Extremsituationen reagieren. Wie verhalten sie sich dann? Betrügen sie ihre Mitmenschen?“ Und dann sagt er: "Ich habe das gesehen. Auf dem Boot.“

Eigentlich sollen die jungen Menschen künstlerische Mittel finden lernen, um sich mit ganz anderen Themen beschäftigen zu können. "Wir wollten hier einen kathartischen Ort für die Schüler schaffen. Und nicht, dass sie sich auch noch filmisch mit dem Elend beschäftigen, in das furchtbare Umstände sie gedrängt haben“, sagt Douglas Herman. Der Teilnehmer Yaser stimmt ihm zu: "Wir wollten Kunst machen, die nichts mit Migration zu tun hat.“



 

Eine Kette von dramatischen Ereignissen

Doch angesichts der dramatischen Ereignisse in Moria kommt es anders. Zuerst brennt das One Happy Family Community Center im März 2020 komplett aus. In einer Zeit, als rechtsradikale Proteste und physische Angriffe auf die Helfer in Moria zunehmen, wird Brandstiftung vermutet. Von dem mithilfe des Roten Kreuzes geschaffenen Lern- und Entfaltungsort für Tausende Kinder und seiner Ausstattung bleiben nur verkohlte Reste übrig. Ein Vorbote weiterer Schrecken.

Schon einen Tag nach dem Brand bitten die Schüler Douglas Herman und Sonia Nandzik das Filmprojekt, das bisher außerhalb in einem anderen Camp stattfand, mitten im Lager Moria weiterzuführen. Dort setzen sie die Kurse in einer Art Garage fort. Dann kommt Corona, das Lager ist schon bald im Lockdown, die Geflüchteten sind noch extremer in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, als sie es sowieso schon waren. 

Auch wenn sie eigentlich dem Lageralltag entfliehen wollen – mit ihren Kenntnissen werden die Filmschüler jetzt zu wichtigen Zeugen und beliefern auch die internationalen Medien mit Stimmen und Bildern. Denn im Lockdown ist das Lager weiterhin völlig abgeschottet. Auch wenn eine Beschäftigung mit anderen Themen nicht mehr möglich ist - wenigstens, so Douglas Herman, können die jungen Medienmacher jetzt selbst agieren und sind nicht nur Opfer der Umstände.

Als es dann zur ultimativen Katastrophe kommt, dem Großbrand in Moria, der das gesamte Lager zerstört, sind die Filmschaffenden im Dauereinsatz. Ihre Stellungnahmen werden prominent veröffentlicht, internationale Journalisten sind nicht mehr vor Ort. Nazanin Foroghi, Yaser Taheri und ihre Kollegen veröffentlichen ihre Einschätzungen bei Al-Jazeera, BBC und anderen Medien.





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Am 17. September 2020 – nach acht Tagen ohne ein Dach über dem Kopf – wird auf einem ehemaligen Militärgelände das Übergangslager "Moria 2“ eröffnet. Bis heute ist der Bau eines neuen Lagers mit erträglicheren Einrichtungen nicht abgeschlossen. Im Übergangslager kommt es auch noch – einer biblischen Plage gleich, wie Katja Riemann bemerkt – zu einer Überflutung des Lagers durch massive Regenfälle.

Für die Organisatoren ist das alles unfassbar frustrierend. "2020 war nichts als eine Aneinanderreihung von Hindernissen“, sagt Herman: Der Brand im Familienzentrum, Lockdown, Covid im Camp, noch härterer Lockdown. Er ist im Interview den Tränen nahe. Aber es kommt noch schlimmer: Wegen eines kritischen Berichtes wird Herman von der griechischen Polizei festgenommen und muss die Insel verlassen. Seitdem lebt er mit Sonia in Warschau, wie er selbst sagt, "im Exil“.

Die Absolventinnen und Absolventen stecken teils noch immer auf der Insel fest, aber viele von ihnen arbeiten für Nichtregierungsorganisationen und verfolgen ihren Traum weiter. Auch das Projekt ist nicht am Ende, noch immer werden 30 Schüler täglich per Online-Session unterrichtet. Und es ist geplant, die Aktivitäten auf andere Flüchtlingslager auszudehnen.

Der Respekt der jungen Menschen für die Organisatoren der Filmschule ist grenzenlos, sie sind Familienersatz und Lehrer zugleich. Katja Riemann setzt ihrem Mut ebenso ein Denkmal wie der Kreativität und unbändigen Lebensfreude und Neugier der Filmschüler. Ihr Film ist nicht nur voller Empathie; er ist auch liebevoll gestaltet, mit wunderbarer Musik und großartig gefilmten Bildern aus den Camps, die trotz Zerstörung und Leid manchmal auch die eigentliche Schönheit dieser Orte durchschimmern lassen. Weniger wäre einem Dokumentarfilm über eine Filmschule auch nicht angemessen.

René Wildangel

© Qantara.de 2021

Der Film "...and here we are“  von Katja Riemann kann im Rahmen des Human Rights Film Festivals noch bis zum 3. Oktober gestreamt werden und ist hier in der Arte-Mediathek zu sehen.