An der Realität vorbei

Die 'Arabischen Berichte über die Menschliche Entwicklung' (AHDR) enthalten deutliche Schwachstellen und bilden daher eine recht fragwürdige Grundlage für die 'Greater-Middle East Partnership' Initiative, meint die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy.

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Sonja Hegasy

​​Die 'Arabischen Berichte über die Menschliche Entwicklung' (AHDR), die 2002 und 2003 im Auftrag des UN-Entwicklungsprogramms erstellt wurden, haben eine beneidenswerte Karriere hinter sich: Keine wissenschaftliche Studie über die arabische Welt wird so häufig zitiert wie sie. Keine Analyse hat die europäische und amerikanische Außenpolitik so direkt erreicht und sichtbar beeinflusst. Kaum eine Rede von Politikern über die Region, ohne Bezug auf die Berichte.

Eine Blaupause für die 'Greater Middle East Initiative'

Bald nach Erscheinen des ersten Berichts zitierte George W. Bush ihn in einer Ansprache über Demokratisierung in Nahost vor dem 'National Endowment for Democracy'. Nun sind die Berichte zur Blaupause für die 'Greater Middle East Partnership Initiative' geworden.

1:1 werden die Diagnose und die Empfehlungen der Berichte übernommen. So direkten Einfluß von der Wissenschaft auf die Politik ist der Traum eines jeden Nahostwissenschaftlers. Aber könnte der Erfolg der Berichte auch zum Teil an seinen einfachen Antworten liegen?

Die 'Arabischen Bericht über die Menschliche Entwicklung' haben eine unumstrittene, politische Bedeutung für die Region, denn sie geben tatsächlich eine Checkliste der wichtigsten Problemfelder an die Hand: Unzureichende Bildung, eingeschränkte bürgerliche Rechte und die geringe Teilhabe von Frauen sind die drei wesentlichsten Defizite.

Der Hauptverfasser, Nader Fergany, ist sicherlich ein seriöser und bahnbrechender Soziologe, wenn auch eine schillernde Persönlichkeit in der ägyptischen Forschungslandschaft.

Schwachstellen des AHDR

Trotzdem sollte man einen genaueren Blick auf die bisher erschienenen Berichte werfen, denn die Analysen, auf die sich die Berichte stützen, sind teilweise so schwach, dass man sich über die breite Rezeption wundert.

Einige Teile des AHDR müssen als wissenschaftlich unseriös bewertet werden: Unter dem Titel 'Möglichkeiten schaffen für zukünftige Generationen' untersucht der erste AHDR zum Beispiel Schlüsselthemen für jungen Menschen.

Die Autoren stellen fest, dass "Bildung" für junge Männer das wichtigste Thema ist, für junge Frauen dagegen "berufliche Chancengleichheit". Die Aussage wurde auf der Basis von 120 Fragebögen aus fünf arabischen Ländern und 112 weiteren Fragebögen aus Jordanien getroffen.

Kein Soziologieprofessor würde Aussagen, die auf einer so kleinen, empirischen Basis stehen, für Deutschland akzeptieren, geschweige denn für eine Weltregion mit 280 Millionen Einwohnern.

Zum Vergleich: Die deutsche Shell Jugendstudie befragt für ihre Studien bis zu 2500 Jugendliche, um etwas über ihre Lebenssituation und Präferenzen in der Bundesrepublik zu erfahren. Das ist wissenschaftlich annehmbar.

Auch der Fragebogen des AHDR ist merkwürdig: Zwei von insgesamt nur 16 Fragen beschäftigen sich mit dem Familienauto: "Besitzt Ihre Familie ein oder mehrere private Autos? Wenn ja, welcher Marke?" Das ist an den Realitäten von 99% der arabischen Jugendlichen vorbeigefragt.

An der Realität vorbei ist auch die Frage nach der internen Demokratie von Nicht-Regierungsorganisationen. Hier werden Maßstäbe angesetzt, um Demokratisierungsfortschritte zu messen, die selbst in westlichen Demokratien kaum eingehalten werden.

Weltweit leben Nicht-Regierungsorganisationen von exzentrischen Persönlichkeiten, die sich für Ihre Ideen selbst ausbeuten. Der Gedanke, man könne sie abwählen, ist ihnen allen fremd – nicht nur den Arabern.

Auch die Ausblendung des informellen Sektors ist ein Manko der Studie. Er spielt nicht nur für die Wirtschaftsleistung eines jeden Landes eine wichtige Rolle, sondern ebenso für die kulturelle Produktion. Zwar gibt es Zensur und reichlich Verbote in der arabischen Welt, aber sie werden oft umgangen. Wieviele Literaturübersetzungen gibt es, für die keine Lizenzen gekauft wurden und die somit nicht in den offiziellen Statistiken auftauchen?

Ebenso täuscht die Statistik beim Thema Zugang zum Internet. Nur 1,6 % der Araber hat offiziell Zugang zum Internet und nur jeder 18. von 1000 Menschen besitzt einen Computer.

Das aber ist genau der Grund weswegen Internetcafés in der arabischen Welt noch im hinterletzten Dorf Zulauf haben, während sie hierzulande fast wieder eingegangen sind. Seit zwei Jahren gibt es darüber hinaus in einem Land wie Ägypten eine Vielzahl von staatlichen Einwahlnummern zum Ortstarif, die so extrem günstigen Zugang zum Internet für jeden ohne kommerziellen Provider bereitstellen. Eine bessere staatliche Förderung kann man sich wohl kaum vorstellen.

Empirische Lücken und fehlende Vision

Renommierte, deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben den AHDR in der Zeitschrift INAMO kritisch betrachtet. So schreibt die Politikwissenschaftlerin Cilja Harders zu Recht, der Bericht könne als politisches Signal für arabische Frauenpolitik nicht hoch genug bewertet werden. Seine analytischen und praxisorientierten Teile seien dabei aber eher mager und genügten den eigenen Ansprüchen nicht.

Wer Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe fordert, darf sie schließlich in den eigenen Reformempfehlungen nicht vergessen. Die Autorin bilanziert, dass der Bericht die Formulierung einer Vision verfehlt.

Der Direktor des Bochumer Instituts für Entwicklungsforschung, Prof. Volker Nienhaus, sieht in den Berichten weniger wissenschaftliche Abhandlungen als politische Streitschriften, die mit plakativen Zahlen und eingängigen Thesen arbeiten. Er wundert sich, dass die immerhin 36 nationalen Berichte menschlicher Entwicklung keine Erwähnung im AHDR finden.

Man muss hinzufügen, dass die jeweiligen Indikatoren für menschliche Entwicklung sehr wohl eine Wende zum Positiven aufzeigen: In den letzten 25 Jahren stieg in einem Entwicklungsland wie Ägypten die Lebenserwartung von 55 Jahre auf 67,1 Jahre. Die Kindersterberate sank von 157 Toten je 1.000 Lebendgeburten 1970 auf 30 Tote im Jahr 2001. Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zu sicherem, gepumpten Wasser stieg von 70,9 % 1976 auf 91,3 2001.

Auch die post-kolonialen Bildungsinvestitionen sind nicht umsonst gewesen. Zwischen 1960 und 2001 stieg die Alphabetenrate der über 15-jährigen von 25,8% auf 65,6%. In anderen arabischen Staaten sieht dies nicht anders aus. Diese enorme Entwicklungsleistung der post-kolonialen Staaten darf nicht ausgeblendet werden, will man vernünftige Reformempfehlungen für die Zukunft geben.

Kritik an Israel ausgeblendet

Bisher werden ebenso die Feststellungen aus dem AHDR ausgeblendet, die man hier nicht hören will: "Israels illegale Besetzung arabischen Bodens ist eines der alles durchdringenden Hindernisse für Sicherheit und Entwicklung in der Region – geografisch (da die ganze Region davon beeinflusst wird), temporär (seit mehreren Jahrzehnten) und entwicklungspolitisch (da alle Aspekte menschlicher Entwicklung und menschlicher Sicherheit beeinträchtigt werden, auf direkte Art für Millionen, für andere indirekt)", schreiben die Autoren auf Seite 1 des ersten Bandes.

Meistens wird ein Verweis auf diese Kausalität als faule Ausrede der autoritären Staatsoberhäupter abgetan, die mit dem ungelösten Israel-Palästina Konflikt nur von ihren internen Problemen, und dabei insbesondere der unzureichenden Demokratisierung, ablenken wollen. Trotzdem spielt dieser Konflikt ebenso wie die "anglo-amerikanische Invasion" des Irak auch für die Autoren der AHDR eine kaum zu unterschätzende, entwicklungshemmende Rolle.

Im Kapitel über die 'Okkupation des Iraks' im zweiten Bericht betonen sie noch einmal ihr Anliegen: Sie wollen die Formulierung einer eigenen strategischen Vision arabischer Eliten auslösen, die die Region von innen erneuert - nicht von außen. Wenn ein Sprecher des Weißen Hauses nun sagt, es sei wichtig, dass die arabischen Länder 'Bushs Initiative' unterstützen, dann ist das genau die Verdrehung von Tatsachen, die einen Demokratisierungsprozess in Nahost gänzlich zum erliegen bringen wird.

Die Europäer haben seit bald zehn Jahren im Rahmen ihrer 'Euro-Mediteranen Partnerschaft' eigene Erfahrungen bei der Förderung von Demokratie und Zivilgesellschaft, beim Aufbau von Freihandelszonen und in der Sicherheitskooperation mit den arabischen Staaten gesammelt. Eine gemeinsame arabisch-europäische Evaluation dieser Phase wäre jetzt viel nützlicher als das neue Übernahmeangebot aus den USA.

Sonja Hegazi © Qantara.de 2004

Die Autorin ist Islam- und Politikwissenschaftlerin am Zentrum Moderner Orient in Berlin.