Das Licht der Weisen einfangen 

Über fünfzig Jahre lang hat der britische Fotograf Peter Sanders Heilige des Islam aufgesucht. Seine Arbeit eröffnet eine Welt, die kaum bekannt ist. Von Marian Brehmer 

Von Marian Brehmer

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es im Westen ein Bewusstsein für die Welt der Meister des indischen Subkontinents. Bücher wie Swami Yoganandas “Autobiographie eines Yogi” prägten eine ganze Generation von Sinnsuchenden; so sehr, dass zum Beispiel Steve Jobs verfügte, das Buch bei seiner Beerdigung austeilen zu lassen.  

Die Heiligen und Erleuchteten des Islam hingegen sind kaum jemandem ein Begriff. Zwar existiert in der islamischen Mystik des Mittelalters eine lebendige Tradition, die Biographien von großen Meistern in Form von hagiographischen Legenden und Erzählungen festzuhalten. Die Bekanntheit zeitgenössischer muslimischer Heiliger reicht jedoch selten über ihre Heimat hinaus. 

So ist es auch ein Gefühl von Berufung, das den britischen Fotografen Peter Sanders dazu bewegt hat, Heilige in der islamischen Welt aufzuspüren und für die Nachwelt vor das Objektiv zu bringen. Fast fünf Jahrzehnte lang reiste Sanders zwischen Nordafrika und Südostasien, um Zeit in der Präsenz von spirituellen Führern des Islam zu verbringen und — sofern sie es erlaubten — ein Porträt von ihnen anzufertigen. 

Dabei begann Peter Sanders Karriere in ganz anderen Gewässern: Im London der Sechziger machte sich der junge Künstler als Fotograf von Größen der damaligen Jugendkultur einen Namen. Sanders brachte Legenden wie Bob Dylan, Eric Clapton und die Rolling Stones vor die Kamera und machte eines der letzte Fotos von Jimi Hendrix, bevor dieser an seinem Drogen- und Alkoholkonsum starb.  

Desillusioniert vom Materialismus der britischen Gesellschaft

“Diese Menschen waren damals die Poeten unserer Zeit. Sie kommentierten die Geschehnisse in der Gesellschaft”, sagt Sanders im Interview über Zoom in seinem Arbeitszimmer, vor einem Regal mit Fotobänden und Schallplatten. “Bevor ich meine spirituelle Reise begann, waren sie meine Referenzpunkte. Nachdem ich jedoch Muslim wurde, waren meine Referenzpunkte weise Menschen.” Im Rückblick sehe er die Rockstars ähnlich wie die Dichter der Dschahiliyya — jener Periode der Unwissenheit in Arabien vor dem Propheten Mohammed — denn als wirkliche Vorbilder, nach denen man sein Leben ausrichten könne, taugten sie nicht.  

Spirituelle Führer aus verschieden islamischen Ländern. (Foto: Peter Sanders)
Neben Marokko und dem Maghreb dokumentiert der britische Fotograf Peter Sanders in seinem Bildband „Meetings with Mountains“ unter anderem spirituelle Führer aus Ägypten, der Türkei und Syrien, von der Arabischen Halbinsel und dem indischen Subkontinent, aus Zentralasien und China. „Die Porträts der Würdenträger berühren, sie haben nichts Folkloristisches, sondern vermitteln ein Gefühl vom tiefgreifenden transformativen Potenzial islamischer Spiritualität, schreibt Marian Brehmer.

Desillusioniert vom Materialismus und Hedonismus in der englischen Gesellschaft begab sich Sanders wie viele seiner sinnhungrigen Zeitgenossen auf die spirituelle Suche nach Indien. 1971 entschied er sich infolge eines Traums für den Islam als spirituellen Pfad. Drei Wochen später reiste er nach Marokko und hatte eine Begegnung, die sein Leben prägte — das Zusammentreffen mit Muhammad ibn al-Habib, Sufi-Meister des Dharqawi-Orden.  

Die Begegnung mit Al-Habib im Ramadan 1971 ist zu Beginn von Sanders beeindruckendem Fotoband "Meetings with Mountains“ dokumentiert. Neben der wirkungsvollen Aufnahme, die den Heiligen in weißer Robe und Turban, mit kohl-umrandeten Augen und einer Gebetskette zeigt, beschreibt Sanders, dass sich seine anfängliche Scheu in der Gegenwart des Heiligen auflöste:  

"Es fühlte sich an, als seien wir in ein stilles Bad des Friedens eingetreten. Unter seinem Blick schmolzen meine Ängste plötzlich und auf unerklärbare Weise dahin, verwandelten sich in Leichtigkeit. Es wurde wenig gesprochen. Sayyiduna Shaikh strahlte ein Mitgefühl aus, das den Raum erfüllte. Wenn er mich ansprach, tat er dies mit großer Sanftheit und einer Akzeptanz von all dem, was ich war, ohne Beurteilung.“

Nicht Charisma, sondern eine Qualität der Seele 

Damals bekam Sanders ein Gefühl für das, was im Sufismus als insan-i kamil oder "vollkommener Mensch“ bezeichnet wird — ein Mensch, der das höchste Potenzial in sich verwirklicht hat: "Es ist etwas Besonderes, in die Gesichter dieser Menschen zu blicken. Sie haben schöne Gesichter. Es geht dabei nicht um Charisma, viel mehr um eine Qualität, die tief aus der Seele entspringt. Diese ist so fein, dass man sie leicht übersehen kann.“ 

Neben Marokko und dem Maghreb dokumentiert Sanders in seinem Bildband unter anderem spirituelle Führer aus Ägypten, der Türkei und Syrien, von der Arabischen Halbinsel und dem indischen Subkontinent, aus Zentralasien und China. Die Porträts berühren, sie haben nichts Folkloristisches, sondern vermitteln ein Gefühl vom tiefgreifenden transformativen Potenzial islamischer Spiritualität.  

 

 

"Porträts aufzunehmen war nie leicht für mich, denn ich bin von Natur aus eher schüchtern. Ich musste also erst einmal den nötigen Mut aufbringen. Doch mit diesen Menschen ist es leichter, sie haben kein Ego. Menschen hingegen, die ein Ego besitzen, setzen eine Maske auf“, sagt Peter Sanders. "Viele dieser Heiligen wurden nie zuvor fotografiert. Das liegt an ihrer Bescheidenheit, denn sie wollen nicht den Eindruck erwecken, etwas zu sein.“ 

Über die Jahre bemerkte Sanders, dass viele seiner Subjekte nur wenige Wochen, nachdem er sie vor die Kamera gebracht hatte, verstarben. Auch Muhammad ibn Al-Habib starb Anfang 1972 auf dem Weg nach Mekka bei seiner dritten Hadsch-Reise. Was Sanders am Anfang wie eine unheimliche Kette von Zufällen erschien, führte bald in ihm zu der Erkenntnis: Die Bereitschaft der alten Meister, sich fotografieren zu lassen, rührte aus ihrem Wissen, dass sie bald die Erde verlassen würden.

Tatsächlich sind Sanders Aufnahmen oft die einzigen Bilder, die von dem jeweiligen Heiligen je entstanden sind. Sie tragen somit eine historische Bedeutung, der sich Sanders erst im Nachhinein bewusst wurde. “Es ist wichtig, dass wir die Gesichter dieser Menschen zu sehen bekommen. Es ist, als ob diese Facette entfernt wurde. Doch wir müssen dieses Bild vom Islam wiederherstellen”, sagt Sanders. “Oft wissen Muslime heute gar nicht, warum sie eigentlich Muslime sind. Viele fühlen sich von der Religion, wie sie heute gelebt wird, entfremdet. Wir leben in solch polarisierenden Zeiten. Besonders jetzt ist es wichtig, die Menschen zusammenzubringen.“

Marian Brehmer

© Qantara.de 2022

Peter Sanders, "Meeting with Mountains. Encounters with the Saints and Sages of the Islamic World", ‎ Inspiral Books 2019