Schutzlos ausgeliefert

Tausende von Frauen aus Afrika und Asien arbeiten als Haushaltshilfen oder Kindermädchen im Libanon. Auf der Suche nach guten Jobs kommen sie unter dem sog. Kafala-System ins Land, das ihnen keinerlei Arbeitsrechte gewährt. Gewalt und Misshandlung durch ihre Arbeitgeber sind eine häufige Folge, wie Antoine Abou-Diwan berichtet.

Von Antoine Abou-Diwan

Grace* kam vor fünf Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben in den Libanon. Sie war damals 38 Jahre alt, die Lage in ihrem Heimatland Togo war instabil und eine Arbeitsagentur versprach ihr einen guten Job als Haushaltshilfe in Beirut. Sie würde auch beim Arbeitgeber wohnen können.

 

Grace sagt, dass sie anfangs vorsichtig optimistisch war. Ihr Gehalt, wenn auch gering, erlaubte es ihr, der Familie im Heimatland dringend benötigtes Geld zu schicken. Aber ihr Optimismus währte nicht lange. Bald war ihr Leben der pure Horror. Ihr Arbeitgeber, den sie mit „Mister“ ansprechen musste, schlug sie nicht nur mehrfach. „Ich wurde vergewaltigt“, sagt sie und starrt in die Ferne. Wenn Grace davon erzählt, zeichnet sich der Schmerz auf ihrem Gesicht ab.

Verzweifelt, wollte sie der Grausamkeit und Misshandlung durch ihren Arbeitgeber entkommen und lief einfach weg. Ihr Reisepass blieb jedoch beim Arbeitgeber. Er hatte ihr das Dokument weggenommen. So entspricht es dem Kafala-System (System der Bürgschaft). Er händigte den Reisepass der Polizei aus, meldete Grace als flüchtig und entzog sich damit aller weiteren Verantwortung.

 

In den Augen der libanesischen Justiz war Grace nun auf der Flucht. Sie durfte sich eigentlich nicht im Libanon aufhalten, konnte aber ohne Reisepass das Land nicht verlassen. Sollte sie sich an die Behörden um Hilfe wenden, riskiert sie, in einem von Libanons berüchtigten Gefängnissen zu landen und vielleicht nie wieder das Tageslicht zu erblicken.

 

Grace ist eine von tausenden ausländischer Hausangestellter im Libanon, die Opfer gewissenloser Praktiken unter dem Kafala-System sind. Das System beraubt die Arbeitsmigrantinnen ihrer Rechte und macht sie komplett abhängig von den Arbeitgebern, die für sie bürgen. Ohne deren Einwilligung ist es den Arbeiterinnen beispielsweise nicht erlaubt, den Job zu wechseln oder das Land zu verlassen.

Hunderte gingen am 24. Juni auf die Straßen in Beirut, um gegen das Kafala-System zu demonstrieren. Dieses beraubt Gastarbeiter ihrer Rechte und macht sie von ihren Arbeitgebern abhängig. | ©Antoine Abou-Diwan
„Woher kommt deine bint?“ lautet eine Frage, die man im Libanon oft hört. Bint ist das arabische Wort für Mädchen, bezieht sich hier jedoch auf eine weibliche Haushaltshilfe, ein Dienstmädchen oder Kindermädchen von außerhalb des Libanon. Ausländische Arbeiterinnen wie diese unterliegen im Libanon dem sogenannten Kafala-System, in dem der/die ArbeitgeberIn als „SponsorIn“ (bzw. BürgIn) eines oder mehrerer ausländischer MitarbeiterInnen agiert. Bint ist eine geladene Bezeichnung für tausende von Arbeiterinnen aus Asien und Afrika, die es jedes Jahr in den Libanon zieht.

Das Kafala-System ist moderne Sklaverei

Um die 250.000 ausländische Hausangestellte arbeiten wie Grace im Libanon unter dem Kafala-System. Die meisten von ihnen kommen aus Äthiopien, Sri Lanka, Nepal und den Philippinen.

 

Das Kafala-System stammt ursprünglich aus den Golfstaaten und wurde nach dem Bürgerkrieg im Libanon (1975 -1990) eingeführt. Für ausländische Hausangestellte gelten danach die allgemein gültigen Bestimmungen zum Arbeitsschutz nicht. Dies führt dazu, dass die Arbeiterinnen oftmals wie Eigentum behandelt werden. Ihre Arbeitgeber besitzen die volle Kontrolle über den legalen Status ihrer Haushaltshilfen. Dadurch besteht für die Arbeiterinnen ein besonders hohes Risiko, Opfer von Ausbeutung und Misshandlung zu werden.

Berichte über Missbrauch sind im Libanon so häufig, dass die Regierungen von Äthiopien, Nepal und den Philippinen ihren Bürgerinnen und Bürgern untersagt haben, zu Arbeitszwecken in den Libanon zu reisen. Allerdings hat die libanesische Regierung die Einreise aus diesen Ländern bislang nicht verhindert. Die libanesischen Medien interessieren sich höchstens für besonders abscheuliche Fälle, aber nicht für das alltägliche Schicksal der Frauen.

 

Francis*, ein Sudanese, der im Südlibanon arbeitet, erzählt von einer Haushaltshilfe aus Ghana, die von ihrem Arbeitgeber drei Jahre lang misshandelt wurde. Ihr Gehalt bekam sie nie voll ausgezahlt. Jemand aus der Kirchengemeinde half ihr mit Lebensmitteln und konnte ihren Arbeitgeber schließlich davon überzeugen, der Frau ein Flugticket nach Hause zu kaufen. Francis kennt auch eine Frau aus Kenia, die seit 2016 im Libanon lebt. Sie muss in der Küche schlafen und wird regelmäßig von ihrem Arbeitgeber verprügelt. „Das Kafala-System ist moderne Sklaverei“, sagt Francis.

Grace aus Togo lebt jetzt im Verborgenen. „Wenn ich zur Polizei gehe, verhaften sie mich“, sagt sie. „Ich habe ja keine Aufenthaltserlaubnis.“  Und auch keine Arbeitserlaubnis, denn diese bekommt sie nur, wenn jemand für sie bürgt. Ohne diese Bürgschaft darf sie nicht arbeiten. Jetzt putzt sie illegal in den Häusern von vier Familien und teilt sich mit anderen eine Wohnung außerhalb von Beirut.

Besonders schwierig ist die Lage der Kinder von Arbeitsmigrantinnen. Nach libanesischem Gesetz haben Kinder von Männern, die aus dem Ausland stammen, kein Recht auf die libanesische Staatsbürgerschaft. Selbst dann nicht, wenn sie auf libanesischem Boden geboren wurden und über eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung verfügen. Kinder von zugewanderten Hausangestellten, die im Libanon geboren wurden, haben deshalb nicht dieselben Rechte wie libanesische Bürger. Sie leben in der ständigen Angst vor der Abschiebung in ein Land, das ihnen vollkommen fremd ist.Das Versagen der Gerichte

Human Rights Watch hat im Jahr 2010 über 100 Urteile libanesischer Gerichte untersucht, die ausländische Hausangestellte betrafen.

In dem Bericht der Menschenrechtsorganisation heißt es, dass das libanesische Justizsystem die Rechte migrantischer Haushaltshilfen nicht schütze und die Strafverfolgungsbehörden bei Verdacht auf Missbrauch und Gewaltanwendung nicht ausreichend ermittelten.

 

Für Hausangestellte ist die Lage im Vergleich zu anderen Arbeitskräften besonders schwierig. Viele von ihnen werden im Haus ihrer Arbeitgeber eingesperrt. Sie werden gezwungen, sieben Tage die Woche und bis zu 20 Stunden täglich zu arbeiten und dürfen keinen Kontakt zur Familie im Heimatland halten. Gehälter werden nicht ausgezahlt. Meist haben die Hausangestellten keine Privatsphäre und müssen im Wohnzimmer, in der Küche oder sogar auf dem Balkon schlafen. Körperliche und verbale Gewalt sind weit verbreitet.

Die betroffenen Frauen leiden derart unter der Situation, dass sie jede Möglichkeit zur Flucht wahrnehmen. Selbst wenn das bedeutet, vom Balkon zu springen und schwere Verletzungen oder sogar den Tod zu riskieren.



Laut Human Rights Watch stirbt im Libanon eine ausländische Haushaltshilfe pro Woche eines nicht natürlichen Todes. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich sogar höher. Die häufigsten Todesursachen sind dabei Selbstmord und Unfälle bei der riskanten Flucht.

„Alle Verantwortlichen – die libanesischen Behörden, die Botschaften der Heimatländer von Arbeiterinnen, die Arbeitsvermittlungsagenturen und die Arbeitgeber – müssen sich fragen, was diese Frauen dazu bringt, Selbstmord zu begehen oder auf der Flucht ihr Leben zu riskieren“, sagt Nadim Houry, Forschungsleiter bei Human Rights Watch.

 

Unbarmherzig wird auch mit jenen Arbeiterinnen umgegangen, die den Sturz vom Balkon überlebt haben oder erfolgreich geflohen sind. Wenn die Polizei sie aufgreift, werden sie in Gewahrsam genommen und dann zu ihrem Arbeitsplatz zurückgebracht. Dort geht die Misshandlung dann weiter.

 

Kleine Fortschritte

So trostlos die Situation für migrantische Haushaltsangestellte auch erscheint, so sind sie doch nicht allein mit ihrem Schicksal. Mehrere Nichtregierungsorganisationen geben wertvolle Unterstützung. Und tatsächlich konnten schon so einige Erfolge errungen werden.

 

Vor einigen Jahren verklagte eine aus dem Ausland stammende Hausangestellte ihren Arbeitgeber, als dieser sich weigerte, ihr den Reisepass auszuhändigen – unter dem Vorwand, sie habe ihren Arbeitsvertrag noch nicht erfüllt. Das Gericht entschied zugunsten der Klägerin; der Arbeitgeber habe das Recht der Frau auf Freizügigkeit eingeschränkt.

 

Außerdem habe der libanesische Staat eine Standardvorlage für den Arbeitsvertrag zwischen Hausangestellten und ihren Arbeitgebern eingeführt, sagt Ramy Shukr, Programmbeauftragter bei Anti-Racism Movement (ARM), einer libanesischen Nichtregierungsorganisation. „Arbeitgeber und Migrantinnen lesen allerdings nur selten den Vertrag. Außerdem ist er nicht in der Muttersprache der Migrantinnen verfasst“, sagt er.

 

ARM hat im Libanon mehrere Zentren für Arbeitsmigranten eingerichtet, in denen die Hausangestellten Gemeinschaft erfahren und Unterstützung finden. Die Zentren organisieren Workshops über die Rechte und Pflichten von Arbeitsmigranten und klären über Fragen der Sicherheit auf. Sie bieten Computerkurse sowie Unterricht in Arabisch, Englisch und Französisch an. „Jeder Migrant und jede Migrantin sollte politische Rechte haben“, sagt Shukr.

 

Weiter sagt er, dass die Öffentlichkeit mittlerweile mehr Verständnis dafür habe, wie verwundbar gerade Hausangestellte seien und wie oft sie ausgebeutet werden. Aber Libanons Hausangestellte wollen nicht darauf warten, dass die Regierung das Kafala-System abschafft und ihnen die gleichen Arbeitsschutzrechte wie allen anderen zuspricht. Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand. Immer häufiger melden sie sich mit ihren Anliegen zu Wort und fordern öffentlich ihre Rechte ein.

 

*Die Namen wurden zum Schutz der Interviewpartner geändert.

 

Übersetzung: Jana Duman



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