Hat sich die Welt verändert?

Hat sich die Welt nach dem 11. September verändert? Hat sich das Verhältnis zwischen islamischer Welt und Europa verändert? Ant-worten des Islamwissenschaftlers Ludwig Ammann.

Hat sich die Welt nach dem 11. September verändert? Hat sich das Verhältnis zwischen islamischer Welt und Europa verändert? Antworten des Islamwissenschaftlers Ludwig Ammann.

Ludwig Ammann, Foto: privat
Ludwig Ammann, Foto: privat

​​Wenn es doch wahr wäre! Wenn nach dem 11. September nichts mehr wäre, wie es war - wie schön! Deutschland würde sich nicht mehr vor überfälligen Reformen drücken, und in Palästina würden nicht länger Radikale hüben wie drüben jeden Frieden sabotieren. So ist es aber nicht: auf die Kräfte des selbstmörderischen Beharrens ist Verlass. Trotzdem ist der 11. September der Beginn einer Wende; und vielleicht war der Massenmord am Ende ein heilsamer Schock.

Denn eines, immerhin, hat sich geändert: Die massive Bedrohung durch al-Qaida und verwandte Terrorverbünde wird endlich ernst genommen. Wir können die Augen nicht länger vor der Tatsache verschließen, dass es eine radikale Auslegung des Islam gibt, die der westlichen Welt schon vor Jahren den Krieg erklärt hat, in Wort und Tat. Wir erschrecken, verspätet, wenn wir die Mordaufrufe Osama bin Ladens lesen – „Die Amerikaner und ihre Verbündeten, ob Militärs oder Zivilisten, zu töten und zu bekämpfen ist die Pflicht eines jeden Muslims in jedem Land“ (1998) – und erfahren, dass quotengeile Medien diesen Mann wunschgemäß interviewten (CNN und ABC). Dieses Erschrecken ist gut: Nur so können in Zukunft die monströsen Sicherheitspannen verhindert werden, die dem angekündigten zweiten Anschlag aufs World Trade Center zum Erfolg verhalfen. Und nur so können sich moderne Muslime und Nichtmuslime der Herausforderung durch die Militanz der Glaubens- und Kulturkämpfer stellen.

Flut von Veröffentlichungen über den Islam

Tatsächlich begann nach dem 11. September 2001 zum ersten Mal seit der Iranischen Revolution von 1979 eine nachhaltige und breitenwirksame Islamdebatte. Eine Flut von Büchern, Sendungen und Veranstaltungen klärt seither auf. Das ist ein Fortschritt – auch wenn unter dem Eindruck des Schocks mancherorts ein hysterischer Antiislamismus an die Stelle der früheren, allzu blauäugigen Apologie des Islam trat. Der Massenerfolg von Oriana Fallacis Hetzschrift „Die Wut und der Stolz“ ist ein erschreckendes Beispiel, der aufklärungsfundamentalistische Antiislamismus des MERKUR-Herausgebers Karl-Heinz Bohrer ein zweites. Glücklicherweise melden sich nun auch besonnene muslimische Stimmen zu Wort, die die notwendige Selbstkritik des Islam formulieren, ohne 1,2 Milliarden Muslime als Terroristen zu diffamieren. Zwei Bücher ragen hervor: „Die Krankheit des Islam“ von Abdelwahab Meddeb und „Der Aufbruch“ von Irshad Manji. Beide weigern sich, die Schuld an allen Übeln der islamischen Welt anderen, dem Westen, den Amerikanern, den Zionisten und Kreuzfahrern in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Durchbruch; denn wer sich im Bann von Ressentiments und einseitiger Orientalismus-Kritik immer nur als Opfer fühlt, wird nie Verantwortung für die eigene Zukunft übernehmen.

Feinde haben leichtes Spiel

Allerdings wird auch der Westen einen Beitrag zur Gesundung leisten müssen. So lange die Werber al-Qaidas tatsächliche Übel anprangern können, so lange der Westen gegen seine propagierten Werte die Diktaturen der islamischen Welt unterstützt und die kolonialistische Besatzung der Westbank duldet, haben seine Feinde leichtes Spiel. Dass die USA im Frühjahr ihren Klientelstaat mit Nachdruck zu Konzessionen aufforderten, deutet darauf hin, dass man des Terrors politischen Sitz im Leben im Prinzip erkannt hat. Nun steht noch die Einsicht aus, dass nur ein Machtwechsel der islamischen Welt helfen kann: von den unendlich korrupten und unfähigen säkularen Diktatoren zu den Vertretern eines moderaten Islamismus, welche die Entkolonialisierung durch das Ringen um eine eigene, islamische Moderne vollenden.

Die Türkei ist auch darin Vorreiter. Das stellt Europa vor die denkbar schwierige Frage: Soll das europäisierte Land an seiner südöstlichen Grenze das künftige Selbst Europas mit uns entwerfen, wollen wir es als Wahlverwandten willkommen heißen im sich verdichtenden Regio-Bund der eurogenen Modernen um den Preis neuer binnenkultureller Balancen – denn sterbende Gesellschaften (Geburtenrate D: 1.34) verlieren die Kraft zu prägen? Die Diskussion um die Zukunft Europas ist eröffnet, die ignoranten Ressentiments Hans-Ulrich Wehlers waren hoffentlich nicht das letzte Wort.

Ludwig Ammann

© 2003, Qantara.de

Ludwig Ammann ist Islamwissenschaftler, einer der Geschäftsführer des ungewöhnlichen Filmverleihs Kool-Filmdistribution sowie Autor mehrerer Aufsätze und Bücher.