So schnell hat der Krieg noch nie begonnen

"Für Libanon war es der rascheste Übergang vom Frieden zum Krieg. Am Mittwoch, den 12. Juli, ab 9.15 Uhr war alles anders. Vor diesem alles entscheidenden Morgen war niemand gewarnt ...", schreibt der libanesische Schriftsteller Hassan Dawud aus Beirut.

Keines der Anzeichen gab es, die sonst auf einen Kriegsausbruch hindeuten.

Am Dienstag waren die Libanesen noch hoch erfreut über die Zunahme der Touristen, die unser Land Jahr für Jahr verzeichnete. Die Autos mit vielfältigen ausländischen Nummernschildern schienen in den Strassen von Beirut täglich zahlreicher zu werden.

Nein, niemand war irgendwie gewarnt. Viele im Ausland lebende Libanesen, die alljährlich die Sommermonate in der Heimat verbringen, waren bereits angekommen. Schon lange vor ihrer Abreise hatten sie sich von hiesigen Bekannten Billette für die Veranstaltungen des Fairûs-Festivals reservieren lassen, das am 14. Juli beginnen sollte. Diese Billette sind schon seit über einem Monat ausverkauft.

Und nun muss man sich fragen - auch wenn das angesichts der gravierenderen Probleme trivial erscheint -, was sie mit diesen Billetten anfangen.

Alte Bilder

Innerhalb eines Tages hat sich Libanon verändert. Aus der Beiruter Verdun-Strasse verschwanden die Besucher, und an die Stelle von Lärm und Geschrei anlässlich der Fussball-WM sind Lähmung und Furcht getreten, sichtbar auf den Gesichtern jener wenigen, die noch auf den Stühlen im Café "Amore" verweilen.

Die Bewohner Südlibanons, die bis zum vergangenen Mittwochmorgen geglaubt hatten, die Jahre der Bombardements und der Evakuierungen gehörten der Vergangenheit an, sahen im Fernsehen die alten Bilder wieder:

Flüchtlinge, beladen mit ihrer armseligen Habe in kleinen Taschen oder Plastiktüten, angstvoll über die Trümmer der Brücken kletternd, die die israelischen Bomber wenige Stunden zuvor zerstört hatten.

Falscher Zeitpunkt?

Im Zusammenhang mit der Entführung der beiden Soldaten durch den Hizbullah, die Israel als Vorwand für die Bombardierungen dient, ist ständig vom "falschen Zeitpunkt" die Rede - ein Ausdruck, mit dessen Hilfe man es umgeht, die Entführungsaktion eindeutig zu missbilligen; denn unter den Zuhörern könnte sich ja jemand befinden, der sie befürwortet.

Zerstörte Brücke; Foto AP
"Auch die Zerstörung der meisten, vielleicht aller Brücken in Libanon wird zu unseren Gunsten verbucht, als Hinweis nicht nur auf die Brutalität Israels, sondern auch auf das Schweigen der Welt angesichts dieser Zerstörung", schreibt Hassan Dawud.

​​Sogar Politiker führen im Fernsehen diesen Ausdruck ständig im Mund - Resultat eines politischen Lebens, in dem man nicht vorsichtig genug sein kann.

Wer nun behauptet, der Zeitpunkt sei falsch gewählt, stellt sich zwischen die Entführer der beiden Soldaten und die progressiven Kräfte der "Zedernrevolution", die in einer Erklärung diese Entführung wegen ihrer ruinösen Folgen verurteilten.

Sie sind nicht eigentlich gegen die Entführung, aber sie hätten sie gern zu einem anderen Zeitpunkt gesehen - nach Abreise der Touristen und der Sommergäste, wenn die Libanesen wieder unter sich sind.

Diese Aufforderung zur "Verschiebung" deutet, grotesk, wie sie ist, auf jenes endlose Schwanken Libanons zwischen dem Weg zum Frieden und der Rückkehr zum Krieg. Das Schlimmste dabei ist, dass man den Frieden als eine Art Zwitterzustand will: Die Zahl der Touristen soll Jahr für Jahr zunehmen, der Krieg aber niemals eigentlich aufhören.

Kollektive Furcht

Das scheint das Schicksal Libanons seit 1967 zu sein: Anders als in den übrigen arabischen Länder muss man sich dort noch immer schämen, den Krieg zu missbilligen und die Zeit für gekommen zu halten, die gleiche Ruhe wie andere zu geniessen.

Der Libanese sagt, der Zeitpunkt sei falsch gewählt, weil er nicht sagen darf, was er sagen will. Es handelt sich um eine kollektive Furchtsamkeit, von der nur diejenigen ausgenommen sind, die den Slogan vom Krieg und von der bewaffneten Auseinandersetzung hochhalten.

Sie dürfen seit Jahrzehnten bestimmen, was verboten und was erlaubt ist. Und so wiederholt sich das immer Gleiche: plattgewalzte Häuser, tiefe Bombenschneisen, endlose Flüchtlingsströme.

Diesmal vollzog sich der Übergang vom Friedens- zum Kriegszustand rascher als je zuvor. In einem einzigen Tag veränderte sich das Land und versetzte alle zurück in ihre schlimmsten Tage:

Urplötzlich drängten sich die Autos bei den Tankstellen, füllten sich die Bäckerläden mit Menschen, die nach Brot verlangten, wurden die Prüfungen an den Universitäten unterbrochen, publizierten die Zeitungen auf ihren ersten Seiten das Bild eines Mädchens, das zusammen mit seiner ganzen Familie in ihrem Dorf von einer israelischen Bombe zerfetzt wurde.

Dieses Massaker soll uns an ähnliche erinnern - das vor Jahren in Nabatija, durch israelische Bomben verursacht, oder dasjenige in al-Mansuri, dem wenige Tage später das noch schrecklichere in Kana folgte.

Sinnloses Aufrechnen

Dies sind Massaker, die zu unseren Gunsten verbucht werden. Wir betrachten sie als immer wieder neue Belege israelischer Brutalität, auf die wir unablässig verweisen, ohne zu begreifen, dass die entsetzlichen Bilder ausser uns niemandem mehr wehtun. Ja, auch die Zerstörung der meisten, vielleicht aller Brücken in Libanon wird zu unseren Gunsten verbucht, als Hinweis nicht nur auf die Brutalität Israels, sondern auch auf das Schweigen der Welt angesichts dieser Zerstörung.

Zerstörte Häuser in einem Beiruter Vorort; Foto: AP
Die Häuser könnten wieder aufgebaut werden, der Brücken werde sich die Armee annehmen, so ein Sympathisant der Hizbullah.

​​In einer Fernsehsendung äusserte am Donnerstag, dem zweiten Tag der Eskalation, ein Sympathisant des Hizbullah, alles Zerstörte könne leicht wieder repariert werden. Die Häuser, sagte er, könnten wieder aufgebaut werden, der Brücken werde sich die Armee annehmen. Und das in einem Augenblick mitten im Krieg, als israelische Flugzeuge bereitstanden, weitere Brücken zu bombardieren und weitere Menschen zu töten, was sie in den folgenden Tagen auch taten.

Ähnlich der Ausspruch eines unserer hohen Verantwortlichen, der unser Verhältnis zu Israel so charakterisieren zu können glaubte: "Es zerstört, wir bauen auf." Und so weiter, ohne Ende. Er war stolz auf sein Bonmot, und es klang, als ob Israel sein eigenes Land zerstörte und wir unseres aufbauten.

Nein, wir begreifen ohne viele Beispiele, dass das eigentliche Problem nicht ein solches der Formulierung ist, sondern eines der Logik. Sogar wir, die wir all diese Jahre unter dem Druck dieser Logik gelebt haben, verstehen nicht mehr, wie ihre Mechanismen wirken und wie sie angemessen in Worte gefasst werden kann.

Hassan Dawud

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich

© Neue Zürcher Zeitung 2006

Hassan Dawud ist Schriftsteller und Feuilletonchef der libanesischen Zeitung "Al-Mustaqbal". Zwei seiner Romane sind beim Lenos-Verlag auf Deutsch erschienen.

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