Neue Allianz im Libanon?

Mit Unterstützung der Hisbollah baut die Hamas im Libanon eine militärische Präsenz auf, die für das Land verheerende Folgen haben könnte. Eine Analyse von Mohanad Hage Ali aus Beirut

Von Mohanad Hage Ali

Seit zwei Jahren befindet sich der Libanon im Aufruhr. Seitdem untergräbt die Hisbollah immer mehr die akzeptierte politische Nachkriegsordnung des Landes in Bezug auf die palästinensischen Flüchtlingslager und die palästinensische Frage insgesamt. 

Am letzten Freitag des Ramadan organisiert die Hisbollah in den südlichen Vororten Beiruts üblicherweise eine Art Militärparade, um den Jerusalem-Tag (Yaum al-Quds) zu begehen, bei der neben Modellen von Flugzeugen und Waffen auch zahlreiche Partisanen mitmarschieren.

Dieses Jahr konnten aufmerksame Beobachter jedoch Veränderungen beider Militärparade feststellen: Auf der eng mit der Hamas koordinierten Veranstaltung waren auch einige Vertreter aus dem Führungskader dieser palästinensisch-islamistischen Gruppierung anwesend. Ihre Teilnahme an der Parade zeigt die neue Rolle des Libanon im palästinensisch-israelischen Konflikt. In gewisser Weise erfolgt hier ein Rückgriff auf die zerstörerischen 1970er und 1980er Jahre. 

Seit 2019, als im Libanon Proteste wegen der wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Krise im Land ausbrachen, hat die Hisbollah die Rolle des Libanon im Nahostkonflikt auf drei wesentlichen Ebenen verändert:

Erstens ist Beirut immer mehr zu einem Zufluchtsort für Hamas-Führer geworden, die aufgrund politischer Entwicklungen aus Katar und der Türkei vertrieben wurden. Hierzu muss man wissen, dass die Hamas den syrischen Aufstand anfangs unterstützt hatte, weshalb in Damaskus ansässige führende Köpfe der Organisation das Land verlassen mussten. Die meisten gingen nach Doha in Qatar oder Istanbul.

Die Haltung der Hamas belastete auch die Beziehungen zur Hisbollah und zum Iran. Kürzlich kam es zu einem Wechsel in der Führungsstruktur der Organisation: Mit Yahya al-Sinwar kam ein Unterstützer der vom Iran geführten "Achse des Widerstands“ an die Spitze der Organisation.

Mitglieder der al-Qassam-Brigade der Hamas (Foto: Reuters)
Aufbau militärischer Präsenz: Ein Indiz für die militärische Präsenz der Hamas im Libanon ist eine Explosion in einem mutmaßlichen Waffendepot der Hamas im Flüchtlingslager Burj al-Shemali in Nähe der südlibanesischen Stadt Tyrus am 12. Dezember 2021. Der Explosion ging ein israelischer Medienbericht vom 3. Dezember voraus. Darin wurde behauptet, dass "die Hamas im Geheimen einen libanesischen Ableger ihrer im Gazastreifen ansässigen Terrorgruppe gegründet hat“ und dass "der Ableger seinen Sitz in Tyrus an der libanesischen Küste hat“.

Hisbollah und Hamas: Die neuen Verbündeten

Nachdem Qatar 2017 von rivalisierenden Golfstaaten und deren regionalen Verbündeten boykottiert wurde, flüchtete der stellvertretende Hamas-Anführer Saleh al-Arouri von Qatar nach Beirut. Doha zog damals seine schützende Hand von aktiven Hamas-Führern zurück, um dem Vorwurf entgegenzutreten, das Land unterstütze Terrorgruppen. Auch die jüngste Annäherung zwischen der Türkei und Israel setzt die Hamas unter Druck. Laut Medienberichten wies Ankara auf Drängen Israels zehn Hamas-Aktivisten aus. 

Unabhängig davon, ob diese Meldungen zutreffen, leben seit kurzem zwei weitere führende Köpfe der Hamas in Beirut, die beide die Türkei verlassen haben, nämlich Khalil al-Hayyeh und Zaher Jabareen. Al-Hayyeh gehört dem Politbüro der Hamas an und ist bei der Organisation für die Beziehungen zur islamischen und arabischen Welt zuständig. Jabareen ist stellvertretender Chef der Hamas im Westjordanland und zuständig für das Register der Organisation über inhaftierte Palästinenser in Israel. Auch Ziyad Al-Nakhaleh, Chef des Islamischen Dschihad in Palästina, hat seinen Sitz in Beirut. Der Islamische Dschihad in Palästina ist, wie die Hamas, vor allem im Gazastreifen aktiv, wo gerade erst wieder Auseinandersetzungen mit Israel ausgetragen wurden. 

Zweitens scheint die Hamas erstmals eine militärische Präsenz im Libanon aufzubauen. Ein Indiz dafür ist eine Explosion in einem mutmaßlichen Waffendepot der Hamas im Flüchtlingslager Burj al-Shemali in Nähe der südlibanesischen Stadt Tyrus am 12. Dezember 2021. Hierbei kam der Hamas-Aktivist Hamza Shahin ums Leben. Die Hamas bestreitet zwar, dass sich die Explosion in einem Waffendepot ereignete, aber in der von ihr veröffentlichten Todesanzeige für Shahin heißt es, er sei bei einer "Dschihad-Mission“ ums Leben gekommen.

Bezeichnenderweise ging der Explosion ein israelischer Medienbericht vom 3. Dezember voraus. Darin wurde behauptet, dass "die Hamas im Geheimen einen libanesischen Ableger ihrer im Gazastreifen ansässigen Terrorgruppe gegründet hat“ und dass "der Ableger seinen Sitz in Tyrus an der libanesischen Küste hat“.

Feierlichkeiten aus Anlass des 25-jährigen Gründungsjubiläums der Hamas in Nablus, 2002 (Foto: AFP/Getty Images)
Einheitsfront gegen Israel: Al-Arouri, einer der Hamas-Führer, der sich jetzt in Beirut aufhält, erklärte im März 2022 Monat in einem Interview, dass "wir immer unbedingt berücksichtigen sollten, was [Hisbollah-Generalsekretär Hassan] Nasrallah in seiner Rede gesagt hat, nämlich dass [israelische Übergriffe in] Jerusalem zu einem regionalen Krieg führen könnten“. Nasrallah hielt die erwähnte Rede im Mai 2021 nach Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern, die aus ihren Häusern im besetzten Ost-Jerusalem vertrieben worden waren. "Wenn heilige Stätten in Gefahr sind“, so Nasrallah, "sind falsche Grenzen ohne Bedeutung.“ Auch israelische Sicherheitsexperten weisen zunehmend auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass Israel im Südlibanon bei künftigen Auseinandersetzungen nicht nur mit Hisbollah-Kämpfern, sondern auch mit Hamas-Rekruten konfrontiert sein wird. 

Die Machtgewichte verschieben sich

Der Bericht erwähnt auch die Ausbildung von Hamas-Kämpfern im Libanon unter Leitung der Hisbollah. Sollte dies zutreffen, wäre das eine Erklärung für den Schusswechsel auf der Beerdigung von Shahin, bei dem drei Hamas-Mitglieder getötet wurden. Libanesische Medien schrieben den Angriff einer mit der Fatah verbundenen Gruppierung zu.

Zwar kam es mittlerweile zu einer Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas, aber jeder Versuch der Hamas, die palästinensischen Lager im Libanon zu dominieren, würde das bisher bestehende Gleichgewicht der Kräfte zwischen den verschiedenen Fraktionen stören. Die Fatah und ihre Ableger sind nach wie vor die dominierende Kraft in den Lagern. In den letzten Jahren haben dort allerdings auch islamistische Gruppierungen an Einfluss gewonnen.

Palästinensische und libanesische islamistische Quellen berichten von einer stärkeren Präsenz und einer größeren Aktivität der Hamas in den Lagern, was zum Teil auf die Zusammenarbeit der Organisation mit der Hisbollah zurückzuführen sein dürfte. Ein örtliches libanesisches Medienorgan schrieb der Hamas kürzlich einen Raketenangriff auf Israel zu, ohne dafür allerdings Beweise vorzulegen. Derartige Angriffe würden sich jedoch mit der jüngsten Rhetorik der Hamas zur Ausweitung des Konflikts über den Gazastreifen hinaus decken. 

Drittens hat sich die Abstimmung zwischen der Hamas und den Verbündeten des Iran in der Region verändert: Libanon, Irak und – in geringerem Maße – auch Syrien und Jemen.  Bei dieser Abstimmung spielt die Hisbollah eine zentrale Rolle, zumindest was die politisch-militärischen Gruppierungen im Irak betrifft. Führende Köpfe unterstützen die Palästinenser an der Grenze zwischen Libanon und Israel, einer Hisbollah-Hochburg, als sie diese zuletzt 2017 besuchten.

 

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Menetekel für den Libanon

Al-Arouri, einer der Hamas-Führer, der sich jetzt in Beirut aufhält, erklärte im März 2022 in einem Interview, dass "wir immer unbedingt berücksichtigen sollten, was [Hisbollah-Generalsekretär Hassan] Nasrallah in seiner Rede gesagt hat, nämlich dass [israelische Übergriffe in] Jerusalem zu einem regionalen Krieg führen könnten“. Nasrallah hielt die erwähnte Rede im Mai 2021 nach Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern, die aus ihren Häusern im besetzten Ost-Jerusalem vertrieben worden waren.

"Wenn heilige Stätten in Gefahr sind“, so Nasrallah, "sind falsche Grenzen ohne Bedeutung.“ Auch israelische Sicherheitsexperten weisen zunehmend auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass Israel im Südlibanon bei künftigen Auseinandersetzungen nicht nur mit Hisbollah-Kämpfern, sondern auch mit Hamas-Rekruten konfrontiert sein wird. 

Indem sie Hamas-Funktionären Zuflucht gewährt und rhetorisch permanent eine Einheitsfront gegen Israel beschwört, reißt die Hisbollah im Libanon alte Wunden auf. 1975 rutschte der Libanon in einen Bürgerkrieg, nachdem das Land zum Rückzugsort für palästinensische Kämpfer geworden war, die 1971 gewaltsam aus Jordanien vertrieben worden waren. Daher löste auch der Besuch von Hamas-Führer Ismail Haniyya im Sommer 2020 in Palästinenserlagern im Libanon eine heftige Kontroverse aus. Einige Libanesen erinnerten sich noch gut an die Zeit, als Jassir Arafat und andere Palästinenserführer in den 1970er und 1980er Jahren ins Land kamen. 

Die neue Politik der Hisbollah gegenüber der Hamas erklärt sich auch aus der zunehmend inkohärenten Außenpolitik des libanesischen Staates angesichts der wachsenden militärischen Stärke der Hisbollah und ihrer Operationen im Ausland. Dies zeigt sich insbesondere seit der Entscheidung der Hisbollah im Jahr 2012, sich in den Syrienkonflikt einzumischen. Damit verschärften sich die Spannungen im Libanon, dessen Regierung das Land aus dem brodelnden Konflikt jenseits der Grenze herauszuhalten versuchte. 

Die Aufnahme von oppositionellen Gruppen aus den Golfstaaten durch die Hisbollah, die bereits im Libanon eigene Medien gegründet haben und immer wieder öffentlichkeitswirksame Konferenzen abhalten, löste im vergangenen November eine diplomatische Krise mit Saudi-Arabien aus, die erst im Frühjahr 2022 nach einer erfolgreichen kuwaitischen Initiative beigelegt werden konnte. Die Politik der Hisbollah gegenüber der Hamas stellt sich angesichts der desolaten wirtschaftlichen und finanziellen Lage des Libanon als besonders riskant und potenziell schädlich dar und macht das Land noch verwundbarer. Für den bereits tief zerrütteten Libanon hätte jeder Konflikt zwischen den beiden islamistischen Gruppierungen und dem Nachbarn Israel verheerende Folgen. 

Mohanad Hage Ali

© Carnegie Middle East Center 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers