Der Mensch als Treuhänder Gottes auf Erden

Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer erörtert Spielräume und Grenzen im Verhältnis von Islam und Menschenrechten

Wenn heute das Verhältnis von Islam, Menschenrechten und Demokratie diskutiert wird, dann geschieht das häufig mit Verweis darauf, was der Koran und die Überlieferung des Propheten Muhammad, die Sunna, "dazu sagen". Die normative Tradition, die diese Texte begründen, enthält allerdings nur allgemeine Hinweise auf "rechtes" Handeln und eine "gerechte" Ordnung; sie bietet kein kohärentes Konzept für das Verhältnis von Individuum, Staat und Gesellschaft. Der Koran ist - entgegen der Überzeugung mancher Muslime - nicht die Verfassung eines islamischen Staates. Fragen kann man daher nur, was heutige Musliminnen und Muslime mit Bezug auf die normativen Texte zu Menschenrechten und Demokratie sagen.

G.Krämer Foto: BR-Online

​​Prof. Dr. Gudrun Krämer, Jahrgang 1953, leitet das Islamwissenschaftliche Institut der Freien Universität Berlin. Sie unterrichtete bereits an Universitäten in Bonn, Kairo, Paris, Bologna und Hamburg.Unter ihnen verdienen diejenigen "islamistischen" Theoretiker und Aktivisten besondere Aufmerksamkeit, die ausdrücklich auf die Errichtung einer "islamischen Ordnung" hinwirken, die an die Stelle "unauthentischer" westlicher Modelle treten und kulturelle Authentizität, soziale Gerechtigkeit und kollektive Stärke gewährleisten soll. Im Zeichen der Globalisierung wird kulturelle Authentizität größer geschrieben denn je, und daher kann es vielleicht nicht erstaunen, dass Islamisten sich mehr für die Legitimität einer demokratischen Ordnung im Rahmen der eigenen religiös-rechtlichen Tradition als für deren Leistungsfähigkeit zu interessieren scheinen. Sunnitische Islamisten von den ägyptischen Muslimbrüdern bis hin zu Anhängern der malaysischen PAS engagieren sich in erster Linie für die Durchsetzung der Scharia, der auf Gott zurückgeführten Rechts- und Werteordnung, die mit "islamischem Gesetz" nur unzulänglich beschrieben wird. Für die Begründung bürgerlicher wie politischer Rechte und Pflichten ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen, denn die Idee der Volkssouveränität, aus der sich diese Rechte und Pflichten ableiten ließen, hat in ihrer theozentrischen, auf Gottes Gesetz und Willen gegründeten Ordnungsvorstellung keinen Platz. Die Normen und Werte der Scharia bilden Fundament und Maßstab für individuelles Handeln und gesellschaftliche Ordnung. Die Form, die ein auf die Scharia gegründetes Gemeinwesen annimmt, tritt demgegenüber in den Hintergrund; die Wiedererrichtung des Kalifats, das 1924 in der Türkischen Republik abgeschafft wurde, ist nur noch Wenigen ein Anliegen. Die viel gebrauchte Formel, "der Islam ist Religion und Staat" (al-islam din wa-daula), bedeutet demnach nicht, dass der Islam eine bestimmte Staatsform diktiert, sondern dass er auch politisches Handel erfasst und normiert.

Kalifat und Scharia

Die Ausrichtung auf die Scharia lässt dem Wandel der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse mehr Spielraum als die Fixierung auf das Kalifat, erlaubt somit eine größere Anpassung an unterschiedliche Bedingungen, ja selbst die Einbeziehung neuer, zunächst im nicht-islamischen Raum entwickelter Organisationsformen - solange sie sich im Rahmen der Scharia bewegen, die nach muslimischer Überzeugung von Gott gesetzt und von Menschen nur interpretiert bzw. "angewendet" wird.

Tatsächlich handeln die meisten Autoren die Institutionen und Verfahren politischer Ordnung recht knapp und allgemein ab. Bemerkenswert ist dabei allerdings ihr Beharren auf politischer Mitsprache und Kontrolle, die unverkennbar moderne Anliegen widerspiegelt und für die Koran und Sunna nur wenige Anknüpfungspunkte bieten.

Im Mittelpunkt steht das Prinzip der Konsultation (schura), das den Muslimen im Koran in allen Lebensfragen anempfohlen wird; freilich handelt es sich dabei um ein Verfahren, nicht etwa eine Institution. Dennoch setzen viele heutige Muslime Schura mit parlamentarischen Gremien gleich. Die parlamentarische Demokratie kann ihrer Meinung nach als eine zeitgemäße Form von Schura gelten, solange sie sich auf dem Boden des Islam bewegt. Wie sie im einzelnen organisiert sein soll, bleibt umstritten. Das Mehrheitsprinzip beispielsweise hat im Islam keine Tradition, wird von vielen heutigen Muslimen aber propagiert, solange die Mehrheit keine "islamwidrigen" Entscheidungen fällt. Eine Gewaltenteilung ist, zumindest durch Delegation der an sich unteilbaren Gewalt des Herrschers, auch nach klassischer Lehre möglich; sie wird von vielen Zeitgenossen befürwortet. Zwar gibt es nach islamischer Lehre streng genommen keine Legislative, da Gott ja die Normen, Werte und Gesetze des Lebens festgelegt hat und Menschen sie nur "anwenden".Recht und Verantwortung

Dies aber kann nach moderner Auffassung durchaus im Rahmen einer parlamentarischen Ordnung erfolgen, und zwar - das ist durchaus beachtenswert - durch gewählte Abgeordnete, nicht allein durch muslimische Religions- und Rechtsgelehrte (Ulama). "Gute Regierungsführung" gilt allgemein als hohes Gut. Die Mechanismen politischer Machtausübung, parlamentarischer Kontrolle und demokratischer Partizipation bleiben allerdings oft undeutlich; Funktion und Grenzen der Opposition werden selten systematisch durchdacht.

Grundsätzlicher ist die Auseinandersetzung mit der normativen Begründung einer "islamischen" wie einer demokratisch-pluralistischen Ordnung. Demokratie lässt sich ja nicht auf bestimmte Verfahren und Institutionen reduzieren (knapp gefasst: Pluralismus, Wettbewerb, Partizipation), sondern setzt gewisse Wert- und Rechtsvorstellungen voraus, die sich allerdings keineswegs nur auf christlich-abendländischem Boden entfalten können. Auch hier sind selbst in islamistischen Kreisen interessante Neuansätze zu verzeichnen. Rechtsstaatlichkeit, das wird sehr betont, ist im Rahmen einer islamischen Ordnung, die auf der Scharia ruht, grundsätzlich gewahrt; sie beinhaltet jedoch nicht zwingend bürgerliche Gleichheit und Freiheit. Die Idee der Menschenrechte wird zwar von vielen Musliminnen und Muslimen aus dem Koran abgeleitet, wo von der Würde des Menschen die Rede ist, der von Gott mit bestimmten Rechten und Pflichten ausgestattet ist.

Die Freiheit und Autonomie des Individuums findet im göttlichen Gesetz jedoch ihre Grenzen, die im Bereich von Sexualität, Kunst und Wissenschaft besonders eng gezogen sind. Gravierend eingeschränkt ist auch die Religionsfreiheit (der Muslime!), denn der Abfall vom Islam (Apostasie) wird nach islamischem Recht mit zivilrechtlichen Sanktionen wie dem Verlust der Erb- und Testamentierfähigkeit, wenn nicht gar dem Tod bedroht.

Stärkere Betonung als die Freiheit des Individuums findet im allgemeinen seine Verantwortung: Gerade Islamisten appellieren eindringlich an die religiöse und gesellschaftliche Verantwortung der Individuen, die laut Koran als Stellvertreter (khalifa, dt. Kalif) oder Treuhänder Gottes auf Erden eingesetzt sind. Dieser Verantwortung bewusst, soll sich der Einzelne harmonisch in die Gemeinschaft einfügen; Individualismus ist aus dieser Sicht weder gefordert noch erstrebenswert: Gemeinnutz geht vor Eigennutz, und Individualismus, so meinen nicht nur Islamisten, gleitet allzu leicht in spalterisch-zersetzenden Egoismus ab.

Freiheit in Grenzen

Einen Pluralismus der Meinungen, Interessen und gesellschaftlichen Gruppen schließt das nicht aus. Die historische Bilanz fällt in dieser Hinsicht sogar sehr viel günstiger aus als im Falle Europas: Eine Verfolgung Andersgläubiger und religiöser Minderheiten, wie sie in Europa vom Mittelalter bis in die Moderne praktiziert wurde, blieb in der islamischen Welt die seltene Ausnahme. Einem Ausspruch des Propheten Muhammad zufolge bilden Meinungsunterschiede sogar eine "Gnade" für die Gemeinde - aber die Freiheit ist, wie angedeutet, nicht grenzenlos. Nach Meinung zeitgenössischer Autoren gilt die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit "in den Grenzen des Islam".

Deren Definition ist natürlich Ausdruck sozialer und politischer Machtverhältnisse. "Islamfeindliche" Kräfte schließt sie im allgemeinen aus. Über die Rechtsschulen hinaus, in denen sich das pluralistische Prinzip schon früh verfestigte, sind die unterschiedlichen Auffassungen und Auslegungen islamischer Werte und Normen in der Vergangenheit überdies kaum institutionalisiert worden.

Auch für die Gegenwart lehnen viele Islamisten politische Parteien ab; nicht umsonst meiden islamistische Gruppierungen im Allgemeinen die Bezeichnung "Partei" und nennen sich statt dessen "Gemeinschaft", "Vereinigung" oder allenfalls "Front". Das Ideal der Einheit der muslimischen Gemeinschaft bleibt - möglicherweise gerade wegen der real existierenden Vielfalt, die nicht immer spannungsfrei blieb - übermächtig.

Schwierige Gleichheit

Erhebliche Schwierigkeiten bereitet der Gleichheitsgrundsatz: Nach islamischer Lehre gilt die Gleichheit aller Menschen (zumindest aber der Gläubigen unter ihnen) zwar vor Gott, nicht aber vor dem Gesetz, wo Frauen und Nichtmuslime insbesondere im Ehe- und Erbrecht männlichen Muslimen nicht gleichgestellt sind. Nach vorherrschender Auffassung nehmen Mann und Frau komplementäre gesellschaftliche Rollen ein, wobei die Frau zunächst einmal Hausfrau und Mutter ist und weitere Aufgaben nur nach Erfüllung dieser Pflicht und mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vormunds (üblicherweise des Ehemannes) übernehmen kann. Nichtmuslimen werden - und dies bricht mit klassischen Vorstellungen über den Status von "Schutzbefohlenen" (Dhimmis) in einer islamischen Gesellschaft - vielfach "gleiche Rechte und Pflichten" zugestanden, doch sollen sie von bestimmten Ämtern ausgeschlossen bleiben.

Traditionelle Konzepte

Dies gilt an erster Stelle für das Amt des Staatsoberhauptes, weil es die von den Muslimen dominierte Gemeinschaft repräsentiert, und das Richteramt, weil es die Scharia anwendet, der Nichtmuslime nicht in allen Belangen unterstehen. Das geht über traditionelle Konzepte von Toleranz hinaus, erfüllt aber nicht das Gleichheitsgebot.

Zusammen genommen ergibt das ein uneinheitliches Bild: Im Bereich der "Techniken" politischer Organisation haben sich auch Islamisten deutlich über klassische Vorbilder hinausbewegt. Das Kalifat ist keineswegs mehr verbindliche Norm.

Bei den "Werten" hingegen - und viele Muslime versuchen, zwischen Werten und Techniken zu unterscheiden - sollen Grenzen gewahrt bleiben, die als göttlich verfügt und daher unantastbar gelten. Das schränkt die Freiheits- und Gleichheitsrechte sowohl der Muslime wie der Nichtmuslime ein.

Natürlich werden die "göttlichen" Normen von Menschen interpretiert und umgesetzt, und natürlich werden diese Menschen von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt, unter denen sie leben. Das gilt ganz selbstverständlich auch für Islamisten. Sie sprechen im Namen des Islam, besitzen jedoch kein Monopol auf seine Auslegung. Über das Verhältnis von Islam, Menschenrechten und Demokratie wird also weiter gestritten werden.

Quelle: Das Parlament 03-04/2002

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