Was den Dichter in die geistige Ferne trieb

Als der 60jährige Goethe in den Jahren 1814 und 1815 über zweihundert lyrische Werke zu seinem West-östlichen Divan zusammenfasste, hatte er sich bereits zeitlebens mit dem Orient beschäftigt. Aber was trieb den Dichter in die geistige Ferne? Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

Die Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis seines West-östlichen Divans eröffnet Goethe mit den Worten: "Wer das Dichten will verstehen / Muß ins Land der Dichtung gehen; / Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen".

Der Vierzeiler, den er dem prosaischen Teil des Divan vorausschickt, ist aber nicht nur für den Divan-Leser von Bedeutung, sondern auch für uns. Denn wenn wir verstehen wollen, an was sich die Orientbegeisterung Goethes manifestierte, wodurch sie sich bedingt und letztendlich in die Produktion eines seiner herausragendsten Werke mündete, muss der Mensch Goethe und natürlich die Zeit, in der er sich bewegt hat, ergründet werden.

Es lebe die Kunst!

Beflügelt von dem Toleranzgedanken der Aufklärung und wirkungsmächtigen Gestalten wie Voltaire, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit Goethes zeitlebens auf die Kunst. Er begeisterte sich für die schönen Dinge im Leben – solche, die ihm Freude bereiteten, die ihn auf intellektuelle Reisen schicken konnten und seine Wissbegierde nährten.

Scheherazade und der Sultan aus "Tausendundeiner Nacht", Foto: picture-alliance/Mary Evans Picture Library
Bereits im Kindesalter genoss Goethe das orientalische Flair aus den Erzählungen aus „Tausend und einer Nacht“. Neben seiner Vorliebe für das Genre war er besonders von der Erzähltechnik des orientalischen Märchenbuchs angetan.

Neben seinen intensiven Studien zur Farblehre und seinem Interesse für die Astrologie fand er diese Bedürfnisse insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem Orient befriedigt, von dem er außerordentlich fasziniert war. Bereits im Kindesalter schöpfte der Dichter literarisches Bildmaterial und orientalischen Flair aus den Erzählungen der Sherezade, dem berühmten Märchenbuch aus "Tausend und einer Nacht".

Neben seiner Vorliebe für das Genre war Goethe besonders von der Erzähltechnik des orientalischen Märchenbuchs angetan. Und so kam es, dass er das Angebot Schillers, Erzählungen in den "Horen" zu veröffentlichen, als Chance sah, seinem orientalischen Vorbild formal zu folgen und die geplante Reihe im Fortsetzungscharakter zu veröffentlichen.

Rasch kam es jedoch zu Unstimmigkeiten zwischen dem Dichter und seinem Redakteur. Schiller wollte die einzelnen Stücke im Ganzen abgedruckt sehen und hielt Goethe in einem Brief dazu an, nicht auf das Trennen der Erzählungen zu bestehen. Aber der deutsche Dichterfürst hielt nichts davon, sich an Zwänge und Vorgaben zu halten und verlor daraufhin kein Wort mehr über die Auseinandersetzung. Erst später vermerkte er an anderer Stelle, dass das Märchen immer mit Fortsetzung erzählt werden muss, weil es nur so Neugierde schaffen würde und seine wirkliche Intention entfalten könnte.

Wenn es um die Kunst ging, ließ sich Goethe ungern belehren. Nicht grundlos markierte Heine den Beginn der Kunstepoche "bei der Wiege Goethes" und vermutete deren Ende mit dem Ableben des Dichters.

Goethe als Vermittler der Kulturen

Auch wenn Goethe zeitlebens mit Lob überhäuft wurde und seine orientalischen und an den Orient angelehnten Dichtungen und die intensive Auseinandersetzung mit demselbigen auf Wohlgefallen und Begeisterung stießen, so begegneten ihm dennoch einige Zeitgenossen mit Kritik. Abgesehen von der Kunstperiode, in der Heine insbesondere den Ausschluss der Realität und das Desinteresse Goethes an Politik mit Blick auf den Orient anprangerte, wurde den Goetheanern häufig das Kreieren einer Parallelwelt zum Vorwurf gemacht, die der Kunst nicht förderlich sei.

Goethe-Buchreihe; Foto: Fotolia/Stefan Merkle
Wenn Goethe im frühen 19. Jahrhundert eine Reise in den Orient geplant hätte, wäre er vermutlich nicht über die Grenzen des heutigen Europa hinausgekommen. Der Ursprung der Menschheit, wie er vermutete, befand sich zur damaligen Zeit in jenem Territorium, in welchem die Osmanen seit dem 16. Jahrhundert ihre Herrschaft ausbreiteten, dem Orient.

Goethe, der sich im Rahmen seiner Orientbeschäftigung als Vermittler der Kulturen positionierte, machte jedoch aus seiner tiefen Sympathie für diesen mythischen Ort und dem kritisierten Indifferentismus keinen Hehl und bekannte sich öffentlich zu seiner romantisierten und subjektiven Darstellung, die er im Rahmen seiner fiktiven Reisen manifestierte; denn bereist hatte der Dichterfürst den Orient nie.

Wenn Goethe im frühen 19. Jahrhundert aus den deutschen Staaten eine Reise in den Orient geplant hätte, wäre er vermutlich über die Grenzen des heutigen Europa nicht hinausgekommen. Der Ursprung der Menschheit, wie es neben Goethe und Herder auch Kant vermutete hatte, befand sich zur damaligen Zeit in jenem Territorium, in welchem die Osmanen seit dem 16. Jahrhundert ihre Herrschaft ausbreiteten, dem Orient.

Zum Ursprung der Sprache

Für Goethe verkörperte dieser Ort somit nicht nur Inspirationsquelle und literarische Muse, sondern in ihm sah er auch den Ursprung der Weltreligionen beheimatet, die sogenannte "Wiege der (menschlichen) Kultur". Wenn sich der Dichter somit auf seine fiktiven Reisen in den Orient begab, waren es für ihn auch immer Reisen in die eigene Vergangenheit und ein Ort kollektiver Identifizierung für viele seiner Zeitgenossen. Goethe zog daraus den Analogieschluss, dass der Ursprung des Menschen auch mit dem Ursprung unserer Sprache zusammenfallen muss, die nach goetheschem Verständnis in ihrer reinsten Form als Poesie daherkommt und den Orient folglich zu unserer lyrischen Heimat macht.

Wenn sich der Dichter mit dem Koran beschäftigte, was er viel und ausgiebig tat, war es für Goethe besonders wichtig, die sprachliche Kraft und Schönheit des Heiligen Buches der Muslime herauszustellen, dem er, wie er immer wieder betonte, keinen geringeren Wert beimaß wie der Bibel. Auch wenn er einräumte, dass ihm das volle Erleben des Koran aufgrund seiner fehlenden Arabischkenntnisse verwehrt blieb, so empfand der Dichter doch sein ausgeprägtes literarisches Empfinden als Berechtigung genug, dem Koran diesen hohen Stellenwert zukommen zu lassen. Im prosaischen Teil des Divan diskutierte Goethe den Unterschied zwischen Prophet und Poet und gab deutlich zu verstehen, dass es ihm zuweilen schwer fiel, den Propheten Mohammed auf die Rolle des Überlieferers zu reduzieren und ihn nicht als Poeten behandeln zu dürfen.

Einband von Goethes West-östlicher Divan; Foto: PD
Der West-östlicher Divan (erschienen 1819, erweitert 1827) ist Goethes umfangreichste Gedichtsammlung. Sie ist von den Werken des persischen Dichters Hafis inspiriert. Goethes Reinschrift des Werkes ist Teil des UNESCO Weltdokumentenerbes.

Goethes Wertschätzung für den Koran lag aber nicht nur am Glanz der Sprache, sondern auch in der Tatsache begründet, dass der Dichter Hauptlehren des Koran im christlichen Glauben wiederfand und dadurch eine Verbindung zur fremden Religion aufbauen konnte.

Goethes Liebe zu Hafis

Ausschlaggebend für Goethes Divan-Produktion ist zweifelsohne die von Goethe erkorene "Zwillingsbruderschaft" zu dem persischen Dichter Hafis. Der wohl bedeutendste persische Lyriker aus dem 14. Jahrhundert hinterließ eine wahre Schatzkammer lyrischer Produktionen. Und so kam es, dass auch die deutsche Übersetzung des Divan des Hafis eines Tages in Goethes Hände fiel. Beim Lesen und bei der Beschäftigung mit dessen Werk entwickelte Goethe eine außerordentliche Bewunderung für die sprachliche Kunst von Hafis, bei der der Dichter viele Gemeinsamkeiten ausmachen konnte und von dessen Geisteshaltung er tiefgreifend inspiriert wurde.

Besonders in der Zeit, als er seinen eigenen Divan verfasste diente ihm Hafis, wie Goethe immer wieder betont, als elementarer Dialogpartner, durch den es dem deutschen Dichterfürsten erst möglich wurde, die Brücke zwischen Orient und Okzident lyrisch schlagen zu können und somit die Vermittlerrolle zwischen Ost und West, die ihm bis ins 21. Jahrhundert zukommt, einnehmen zu können.

Das Konstrukt "Orient" gestaltete der Dichter und Goethe-Mensch für sich so vielfältig wie nur möglich. Der aufmerksame Beobachter findet sich daher nicht selten in einem Meer von Verbindungen wieder, die der Reisende, als welchen er sich selbst verstand, auf seiner zeitweisen Flucht in die geistige Ferne hinterließ um am Ende klarzustellen: "Wer sich selbst und andere kennt, / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen".

Melanie Christina Mohr

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