Die Quellen des Extremismus austrocknen

Ein Grund für den Terror ist eine aus den Fugen geratene internationale Ordnung, die auf die Krisen dieser Welt nicht mehr angemessen reagiert, meint der syrische Publizist Mohammed Dibou. Sowohl "nationale" als auch "kontinentale" Maßnahmen sind offenkundig ungeeignet, die eigenen Bürger zu schützen.

Von Mohammed Dibou

Die Anschläge von Brüssel haben gezeigt, dass der Terror in Europa keine Ausnahmeerscheinung mehr ist. Ein Anschlag folgt auf den nächsten; der alte Kontinent, aber auch die USA (Boston) stehen im Fadenkreuz. Dazu kommen die zentralen Konfliktherde der Welt in Asien, Nahost (Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan etc.) und Afrika (Boko Haram in Nigeria und Umgebung, Libyen, Tunesien…).

Damit ist praktisch die ganze Welt mit dem Terror konfrontiert, und man müsste ihm weltweit gemeinsam entgegentreten. Es gilt aber auch, die Hauptgründe zu identifizieren, die den Terror nähren, anstatt rein regional nach Lösungen zu suchen, wie es heute üblicherweise geschieht. Einzelne Kontinente versuchen sich vor dem Terror und der Flüchtlingskrise zu schützen, wie Europa es tut. Drei Hauptgründe für die Zunahme des weltweiten Terrorismus lassen sich benennen und sollten global beziehungsweise globalisiert behandelt werden, denn die Welt ist zunehmend miteinander vernetzt.

Die erste und bedeutendste Ursache besteht in einer religiös-theologischen Tradition (islamischer ebenso wie christlicher, jüdischer und sonstiger), aus der der Fundamentalismus seine Legitimation bezieht. Diese Tradition wurde noch keiner wissenschaftlichen, religiösen Kritik unterzogen, und muss dekonstruiert und abgestoßen werden. Zu sagen, das radikale Religionsverständnis sei nur ein "Missklang" in Abweichung von der Hauptlinie, bemäntelt nur den Terror.

Und da islamische Ideen heute als produktivste Quellen für Terrorismus gelten, obliegt es den islamischen Autoritäten (den schiitischen ebenso wie den sunnitischen oder kleineren muslimischen Konfessionen) sowie den islamischen wie säkularen Denkern, sich ihrem Erbe kritisch zu stellen und sich von bestimmten Inhalten, die bis heute in vielen Staaten und Einrichtungen offiziell gelehrt werden, zu trennen.

Rohstoff für Extremismus

Innenhof der Al-Azhar in Kairo; Foto:
"Das herrschende Denken in Institutionen wie Al-Azhar und Religionsschulen in Afghanistan und anderswo (alle unter diktatorischen Regimen) sowie die Werke von angeblich gemäßigten Gläubigen ist der Rohstoff für Extremismus, denn es enthält eine riesige Menge an Absurdem, Magischem und an Märchen", kritisiert Mohammed Dibou.

Dies wäre eine echte Revolution, denn viele dieser Inhalte überschneiden sich mit einem fundamentalistischen Religionsverständnis, das hier seinen Nährboden findet und sich durch diesen legitimiert. Das herrschende Denken in Institutionen wie Al-Azhar und Religionsschulen in Afghanistan und anderswo (alle unter diktatorischen Regimen) sowie die Werke von angeblich gemäßigten Gläubigen ist der Rohstoff für Extremismus, denn es enthält eine riesige Menge an Absurdem, Magischem und an Märchen. Dies gilt besonders für das, was auf mittelalterliche Gelehrte zurückgeführt wird, die sich wiederum auf "unantastbare" Quellentexte berufen.

Auch die religiösen Minderheiten im Irak, die dem IS zum Opfer fallen, haben oft ein abergläubisches und magisches Religionsverständnis, mit dem ihre Anhänger ihre eigene Gewalt, die sie Selbstverteidigung nennen, rechtfertigen. Wir haben es hier mit "Gegenfundamentalismen" zu tun, die sich auf sich selbst und nicht nur auf die Gewalt der Gegenseite beziehen.

Der zweite Grund für den Terror besteht in der Tyrannei, die ihrerseits in den genannten Fundamentalismen einen Nährboden findet, den sie ins Politische wendet. Diktaturen nehmen ein fundamentales Religionsverständnis besonders gerne in ihre Lehrpläne auf, denn dies ermöglicht ihnen, insbesondere gegenüber dem Westen als Garant gegen Extremismus aufzutreten. Dieses Erpressungsspielchen ist mittlerweile offensichtlich geworden, doch diese Logik findet Anhänger bei westlichen Intelektuellen und Politikern. In Italien hat eine Partei bereits angekündigt, sie würde die Beziehungen zum syrischen Assad-Regime wiederherstellen, wenn sie an die Macht käme.

Von dieser Sichtweise, das Schlechte sei dem Schlimmen vorzuziehen, muss man sich verabschieden, denn sie kommt lediglich Diktaturen zugute, die den Extremismus bewusst schüren und auf ihn bauen.

Proteste gegen den bestialischen Mord an Giulio Regeni in Rom; Foto: picture-alliance/dpa/M. Percossi
Proteste gegen den bestialischen Mord an Giulio Regeni. Der Student und Journalist war am 25. Januar in Kairo verschwunden und neun Tage später tot aufgefunden worden. Sein Körper wies Zeichen schwerster Folter auf, darunter ausgerissene Finger- und Fußnägel und abgeschnittene Ohren.

Dem europäischen Blick darauf kommt bei der Unterstützung des Terrors großes Gewicht zu. Dass man den autokratisch regierenden ägyptischen Präsidenten Al-Sisi in Europa empfangen hat und im Umgang mit dem iranischen Regime, das schiitische Extremisten fördert, wirtschaftlichen Interessen den Vorzug vor Menschenrechten gibt, spielt hier eine wichtige Rolle.

Der brutale Mord an dem italienischen Studenten Giulio Regeni (mutmaßlich  durch ägyptische Sicherheitskräfte) ist ein weiterer Beleg dafür, wie fruchtlos der europäische Ansatz ist. Wieder einmal treffen sich die Sicht des Westens und der Diktaturen, indem man die Bekämpfung des Terrors allein auf Sicherheitsaspekte verengt und gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte sowie Menschenrechte außer Acht lässt.

Demokratie als einziges Gegenmittel zum Terror

Die Diktaturen, die sich als Kämpfer gegen den Terror darstellen, lassen Fundamentalisten in stabilen Zeiten beobachten und unterdrücken, nur um sie im Augenblick der Bedrohung ihres Regimes aus den Gefängnissen zu entlassen. Dadurch stellen sich die Machthaber als einzige Alternative zu religiösen Extremisten dar. Extreme religiöse Ansichten werden in ihren Schulen und theologischen Fakultäten aber permanent gelehrt, während Säkularisten und friedliche Aktivisten weggesperrt werden.

Europa begnügt sich unterdessen mit der Bewachung seiner Außengrenzen und wirtschaftlichen Vorteilen und sieht dabei über die Diktaturen hinweg, die den Terror hervorbringen. Demokratie müsste stattdessen im Mittelpunkt des Kampfes gegen den Terror stehen, wenn er erfolgreich geführt werden soll.

Anhänger Moncef Marzoukis im Wahlkampf in Tunis; Foto: DW/S. Mersch
Vorzeigeland der "Arabellion": Tunesien ist das einzige arabische Land, in dem der demokratische Übergang einigermaßen funktioniert hat. Und genau deshalb hat es vermocht, den Terrorismus im eigenen Land zu bekämpfen, obwohl das Land von Unruheherden und Rückzugsgebieten der religiösen umgeben ist, schreibt Mohammed Dibou.

Tunesien hat bei dem Überfall auf den Grenzort Ben Guerdane Anfang März bewiesen, wie wichtig das ist. Tunesien ist das einzige arabische Land, in dem der demokratische Übergang einigermaßen funktioniert hat. Und genau deshalb hat es vermocht, den Terrorismus im eigenen Land zu bekämpfen, obwohl das Land von Unruheherden und Rückzugsgebieten der religiösen umgeben ist, während alle diktatorischen Regime, die sich als Garanten gegen den Terror darstellen, daran gescheitert sind. Demokratie ist das einzige Gegenmittel zum Terror.

Der dritte Grund für den Terror ist eine aus den Fugen geratene internationale Ordnung, die nicht in der Lage ist, mit den Krisen dieser Welt fertigzuwerden. Die Globalisierungskrise vertieft mit den Worten von der US-Soziologin Saskia Sassen systematisch den Ausschluss und die Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung. Auch fördert die Globalisierung "nationale" oder "kontinentale" Lösungen, unter dem Deckmantel des angeblichen Schutzes und der Sicherheit, zu Krieg und Interventionen im weltweiten Maßstab.

Denn der Terror, der sich in Irak, Syrien oder Nigeria eingenistet hat, lässt sich nicht unabhängig von westlichen Interventionen sehen, die die Interessen des Westens und seiner Bürger höher stellt als die der übrigen Welt.

Doch solche "nationalen" oder "kontinentalen" Lösungen haben sich offenkundig als ungeeignet erwiesen, die eigenen Bürger zu beschützen. Was nationale Politik weit weg anrichtet, führt heute zu Terror im eigenen Land, wie die jüngsten Anschläge von Brüssel gezeigt haben.

Nötig ist daher eine globale Lösung, um dem Terror wirksam entgegenzutreten. Sie muss die genannten Überlegungen mitberücksichtigen und die Notwendigkeit der Etablierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Süden ebenso in Erwägung ziehen wie die Garantie von mehr Sicherheit im Norden. Andernfalls wird der Terror in der Welt unvermindert weitergehen.

Mohammed Dibou

© Qantara.de 2016

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Der syrische Publizist, Schriftsteller und Sozialwissenschaftler Mohammed Dibou schreibt für führende arabische Zeitungen. Er wurde nach Ausbruch der syrischen Revolution in Damaskus zwischenzeitlich verhaftet.