Tyrannen der Steppe

Der Byterek Turm ist sichtbar im Zentrum von Astana als ein Soldaten außerhalb des Präsidentenpalastes in Astana, Kasachstan, Wache steht, 1. Juli, 2013. David Cameron besuchte Kasachstan am 30. Juni 2013, es war der erste Besuch eines britischen Premierministers, um die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern zu vertiefen, aber auch um Menschenrechtsfragen anzusprechen.  TOPSHOTS  AFP PHOTO/POOL/ LEON NEAL (Foto by LEON NEAL / POOL / AFP)
Der Byterek Turm ist sichtbar im Zentrum von Astana als ein Soldaten außerhalb des Präsidentenpalastes in Astana, Kasachstan, Wache steht, 1. Juli, 2013. David Cameron besuchte Kasachstan am 30. Juni 2013, es war der erste Besuch eines britischen Premierministers, um die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern zu vertiefen, aber auch um Menschenrechtsfragen anzusprechen.  TOPSHOTS  AFP PHOTO/POOL/ LEON NEAL (Foto by LEON NEAL / POOL / AFP)

Der Präsident von Kasachstan droht seinen Bürgern mit Schießbefehl. Von was für einem Land reden wir da eigentlich? Von Sonja Zekri

Von Sonja Zekri

Im Herzen der Stadt Nur-Sultan, die seit ein paar Jahren den Vornamen des "Führers der Nation" Nursultan Nasarbajew trägt, ragt der Bajterek-Turm auf. Der britische Architekt Norman Foster hat das 97 Meter hohe urbane It-Piece nach der kasachischen Legende gestaltet. Danach legte der Vogel Samruk jeden Tag ein goldenes Ei in die Krone des Lebensbaumes Bajterek, aber nachts wurde das Ei von einem Drachen gefressen, bis, ja, bis die Kasachen auszogen, um den Drachen zu töten und das strahlende Licht des Samruk-Eies sich in die Weiten der kasachischen Steppe ergoss.

Als Kasachstan noch Besucher aus dem Ausland ins Land ließ, also: bis vor Kurzem, konnten die Gäste mit einem Aufzug den Bajterek-Turm hinauffahren bis in das goldene Ei an der Spitze, dort ihre Hand auf die Stele mit dem goldenen Handabdruck Nursultan Nasarbajews legen, woraufhin die Nationalhymne erklang oder patriotische Lieder, die Nasarbajew selbst verfasst hatte.

Verglichen mit den Exzessen des einstigen Nachbar-Diktators Saparmurat Nijasow pflegte Nasarbajew eine abgemilderte Form des Personenkults. Nijasow, der sich als Vater der Turkmenen - "Turkmenbaschi" - und als Prophet Gottes auf Erden verehren ließ, hatte den Turkmenen mit seinem Epos "Ruhnama" über einen tapferen kleinen Waisen namens Saparmurat Nijasow nicht nur eine Art Nationalgeschichte aufgezwungen. "Ruhnama" wurde in Moscheen präsentiert und in Universitäten gelehrt, Gefangene mussten vor der Entlassung einen Eid auf das Buch schwören. "Ruhnama" war Teil des Einstellungstests für Ärzte und der Führerscheinprüfung.

Spätestens mit der Einführung neuer Monats- und Jahresnamen, in denen er und seine Familie prominent gewürdigt wurden, galt Nijasow als einer der exzentrischsten Tyrannen der Gegenwart. Die goldene Nijasow-Statue in der Hauptstadt Aschgabat, die sich mit der Sonne drehte, wurde zum Symbol für einen zentralasiatischen Führerkult, der noch den Bombast Gaddafis, noch den blutigen Narzissmus Saddam Husseins in den Schatten stellte.

Als Nijasows Zahnarzt Gurbanguly Berdymuchamedow nach dem Tod des Turkmenbaschi 2006 Präsident wurde, wirkten seine Anfänge fast bescheiden. Inzwischen aber hat er in der Hauptstadt ein goldenes Reiterstandbild von sich selbst und die goldene Statue eines der berühmten turkmenischen Alabaj-Hunde errichten lassen.

Bei den Unruhen wurden auch Läden in Almaty geplündert; Foto: Valery Sharifulin/TASS/dpa picture-alliance
Proteste und Unruhen in Kasachstan. "Noch gibt es kein klares Bild darüber, wer genau wofür oder wogegen in Kasachstan protestiert und manchmal auch geplündert hat,“ schreibt Soja Zekri. "Aber einer der Slogans lautete 'Großvater, hau ab' und zielte auf Nasarbajew und seine kleptokratische Familie. Die geliebten Führer sind angezählt.“ Nasarbajew war bis 2019 der Präsident Kasachstans.

Nasarbajew: "Mein Denkmal ist Astana"

Es ist leicht, sich über den Führungsstil der Länder in dem riesigen Gebiet zwischen der Mongolei und dem Kaspischen Meer zu amüsieren. Zu gewalttätig, zu bizarr wirken die Regime: die sprichwörtliche Grausamkeit des einstigen usbekischen Langzeit-Herrschers Islam Karimow; die Fragilität der so oft wechselnden Regierungen in Kirgisistan; die neuen Hauptstädte, die immer so aussehen, als habe gerade jemand feucht durchgewischt, wie eben auch Nur-Sultan mit der Shoppingmall in einer Riesenjurte und den marmornen Fassaden, und das früher Astana hieß und davor Aqmola und davor Zelinograd, und das ist nicht das Ende. Nasarbajew hat alle öffentlichen Gebäude persönlich eröffnet. Er brauche kein goldenes Denkmal wie der Turkmenbaschi, hatte er erklärt: "Mein Denkmal ist Astana."

Inzwischen gibt es Gerüchte, dass der Führer der kasachischen Nation seine geliebte und von ihm nach Kräften geplünderte Heimat verlassen haben könnte, was sein Sprecher auf Twitter allerdings dementiert. Nasarbajews Nachfolger, Präsident Kassym-Schomart Tokajew, hat die Situation mit Rücksichtslosigkeit und Russlands Hilfe für sich entschieden, entscheidende Staatsämter neu besetzt und Nasarbajew entmachtet. Ob er die Gelegenheit zur Neuordnung nur genutzt oder doch selbst geschaffen hat, ist in der derzeitigen Nachrichtenlage nicht zu sagen und rein vom Ergebnis her betrachtet auch nicht wichtig.



Tokajew will Polizei und Militär ohne Warnung auf Demonstranten schießen lassen, er wird den neuen Spielraum kaum für eine Öffnung seines Landes nutzen. Kasachstan, das achtmal so groß wie Deutschland ist, bei einem Viertel seiner Einwohner und gigantischen Öl- und Gasreserven, wird so bald wohl keine Demokratie.

Es hat, so fair muss man sein, keine idealen Bedingungen. Anders als die Usbeken mit ihren glanzvollen Metropolen wie Samarkand oder Buchara waren die Kasachen wie die Kirgisen Nomaden. Über Jahrhunderte zogen sie mit Kamelen und Rindern ihren Weg zwischen Syrdarja und Irtysch. Im 15. Jahrhundert vereinigten sie sich in drei "Horden", deren Rivalitäten die russischen Zaren schürten und nutzten. 1731 leistete der Khan der Kleinen Horde als Erster der russischen Zarin den Treueid, die beiden anderen Khane folgten. Russische Siedler kamen, darunter Fjodor Dostojewski.

Für Dostojewski war die kasachische Weite noch ein Ort der Klärung, der Läuterung, ja, der Freiheit. Fünf Jahre lebte er als Offizier in Semipalatinsk, dem heutigen Semej, berauscht von der "offenen Steppe, der reinen Steppe". Rodion Raskolnikow aus "Schuld und Sühne", erlebte beim Anblick der sonnendurchfluteten Ebene eine Wiedergeburt: Am Horizont zogen die Nomaden vorbei, "Menschen, die völlig anders waren als die Menschen, die er kannte". Die Zeit schien still zu stehen. Raskolnikow, der reuige Mörder, fand zurück zu seinem Menschsein.

Nun, die Zeit stand nicht still. 100 Jahre später wurde Semipalatinsk Nukleartestgelände, "Poligon", kasachisches Ground Zero. Mehr als 600 Atomexplosionen, in Stollen, zu Lande, in der Luft, zerstörten in vier Jahrzehnten eine Landschaft von der Größe Belgiens. Heute ragen die Reste der Messtürme wie Haifischflossen aus einem Meer aus Gras, und die Krebsrate liegt hoch. Der "Poligon" ist das zuoberst liegende, unübersehbare Erbe der Sowjetherrschaft. Andere Verwerfungen reichen tiefer.

Menschen vor einem kleinen Laden in Almaty; Foto: Anatolij Weisskopf/DW
Menschen vor einem kleinen Laden in Almaty. Kasachstan ist das letzte Land, das seine Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte. "Eine politische Identität als Nationalstaat hatte Kasachstan nach 70 Jahren Sowjetherrschaft ebenso wenig herausbilden können wie viele seiner postsowjetischen Nachbarn,“ schreibt Sonja Zekri. "Der Personenkult, die extreme Personalisierung der Herrschaft, all die Schulen, Straßen und Städte, die nach Jahrzehnte herrschenden Autokraten benannt wurden, die mythologisch verbrämten Manifeste, die die Suche nach einer nationalen Identität in die richtige Richtung lenken sollten, sind nur ein paar der Folgen.“

Zwei Millionen Kasachen starben während der Zwangssesshaftmachung

Wie in Kirgisistan hatte der Islam auch im nomadischen Kasachstan erst spät Fuß gefasst, und die Gesellschaft, die weiterhin dem Schamanismus und Ahnenkult verbunden blieb, nie so tief durchdrungen wie die urbanen Kulturen der Region: In der Steppe standen keine Moscheen. Bis heute beschreiben viele das Verhältnis der Kasachen zum Islam als "pragmatisch".

In seinem Buch "Inside Central Asia" erinnert der Asien-Kenner Dilip Hiro an eine Islam-Debatte unter kasachischen Intellektuellen vor der Revolution 1917. Damals diskutierten die Denker über das Verhältnis von Scharia und Adat, dem traditionellen Sittenkodex, wobei einige von ihnen die Anpassung des Islam an die kasachische Kultur forderten. Mit der Ankunft des Bolschewismus hatte sich diese Frage allerdings erledigt.

Die Bolschewiken wüteten furchtbar in ihrem Modernisierungswahn. Gewiss, sie brachten Bildung und Strom, bauten Schulen, Kraftwerke, Kanäle und befreiten die Frauen. Aber sie zwangen die Nomaden, ihre Jurten zu verlassen und sesshaft zu werden, und das Vieh wurde kollektiviert. Viele Kasachen schlachteten die Rinder, ehe sie konfisziert werden konnten. Andere verhungerten. Zwei Millionen Kasachen starben während der Zwangssesshaftmachung, schreibt Beate Eschment in "Zentralasien - Ein Lexikon", eine Million floh nach China oder in die Mongolei.

Als die Sowjetunion zerfiel, war Kasachstan das letzte Land, das seine Unabhängigkeit erklärte. Auch die anderen Staaten Zentralasiens wurden zur Unabhängigkeit fast genötigt. Eine politische Identität als Nationalstaat hatte Kasachstan nach 70 Jahren Sowjetherrschaft ebenso wenig herausbilden können wie viele seiner postsowjetischen Nachbarn. Der Personenkult, die extreme Personalisierung der Herrschaft, all die Schulen, Straßen und Städte, die nach Jahrzehnte herrschenden Autokraten benannt wurden, die mythologisch verbrämten Manifeste, die die Suche nach einer nationalen Identität in die richtige Richtung lenken sollten, sind nur ein paar der Folgen. Noch gibt es kein klares Bild darüber, wer genau wofür oder wogegen in Kasachstan protestiert und manchmal auch geplündert hat. Aber einer der Slogans lautete "Großvater, hau ab" und zielte auf Nasarbajew und seine kleptokratische Familie. Die geliebten Führer sind angezählt.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2022