Surrealismus levantinisch

Georges Schehadé gehört zweifelsohne zu den einflussreichsten frankophonen Lyrikern und Theaterautoren des Libanon. Sein poetisches Werk ist unlängst in zweiter Übersetzung in deutscher Sprache erschienen. Heribert Becker hat es gelesen.

Georges Schehadé; Foto &copy fabienma.club.fr
Lyrik zwischen Symbolismus und Surrealismus - der libanesische Dichter Georges Schehadé

​​Der Name Georges Schehadé hat auch in Deutschland einmal einen guten Klang gehabt. Der beruhte auf den Theaterstücken dieses libanesischen Dichters, von denen in den 50er und 60er Jahren einige sogar im deutschen Sprachraum – in Zürich, München, Berlin und Bochum – uraufgeführt wurden.

"Monsieur Bob'le", "Der Sprichwörterabend", "Geschichte des Vasco", "Die Reise" lauten die Titel einiger dieser Bühnenwerke, in denen sich groteske Elemente des absurden Theaters mit ausgeprägt märchenhaft-poetischen, volkstümlichen und humoristischen Akzenten verbinden.

Provokation und antimilitaristische Polemik

Das eine oder andere Stück empfanden manche seinerzeit als provozierend oder gar skandalös – etwa die "Geschichte von Vasco", über die man sich wegen ihrer antimilitaristischen Polemik erregte. Nachdem man diese Stücke gespielt hatte, wurde es in Deutschland jahrzehntelang still um Schehadé.

Wer war dieser Theaterautor und Lyriker? Schehadé wurde 1905 im ägyptischen Alexandria als Sohn gutbürgerlicher libanesisch-orthodoxer Christen geboren, die 1920 nach geschäftlichen Misserfolgen des Vaters in den Libanon zurückkehrten.

In Beirut studierte Schehadé Jura, arbeitete für das französische Hochkommissariat im Libanon, dann für das Justizministerium und später als Generalsekretär der "Ecole Supérieure des Lettres" in Beirut. Obwohl er hervorragend Arabisch sprach, bediente er sich als Schriftsteller ausschließlich der französischen Sprache.

Einflüsse des Surrealismus

Bereits Mitte der 20er Jahre begann er, poetische Texte zu veröffentlichen. 1933 lernte er in Frankreich bedeutende Dichter wie Saint-John Perse, Max Jacob und Jules Supervielle kennen – und den Surrealismus, der für ihn zu einer entscheidenden Anregung wurde.

Schon frühe Gedichte, 1938 erschienen, mehr noch aber der Band "Rodogune Sinne" von 1947 verraten deutlich surrealistische Einflüsse. Nachdem Schehadé 1949 nach Paris übergesiedelt war, beteiligte er sich sogar eine Zeitlang direkt an den Aktivitäten der Pariser Surrealistengruppe um André Breton.

Es folgte, von 1951 an, die Zeit des Erfolgs seiner Theaterstücke, die er zum Teil bereits vor dem Krieg verfasst hatte. 1969 kehrte er in den Libanon zurück, verließ das Land aber 1977 wieder, als der dort grassierende Bürgerkrieg kein Ende nehmen wollte.

Die Académie Française verlieh ihm 1986 den "Grand Prix de la Francophonie". Drei Jahre später starb Schehadé in Paris. Wie zu hören ist, hinterließ er eine große Anzahl unveröffentlichter Texte (Theaterstücke, frühe Gedichte, Kritiken und Briefe).

Shehadés Poésies I – VI

Obwohl sein veröffentlichtes poetisches Werk alles andere als umfangreich ist, gehört dieser "poète des deux rives" ("Dichter der beiden Gestade des Mittelmeers"), wie man Schehadé genannt hat, zu den wichtigsten und einflussreichsten Lyrikern der Levante.

Ein großer Teil dieses Werks ist unlängst in der zweiten Übersetzung Jürgen Brôcans in deutscher Sprache erschienen: eine gute Gelegenheit, diesem Autor neu zu begegnen.

Der Band enthält, die französischen Originaltexte einschließend, die Gedichtbände Poésies I – VI, die 1938, 1948, 1949, 1951, 1972 und 1985 in Paris erschienen sind, dazu den Band Poésies VII, der 1998 posthum in Beirut veröffentlicht wurde.

In der Zusammenschau dieser Publikationen ist deutlich erkennbar, dass Schehadés poetische Sprache im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer knapper und reduzierter – sozusagen kristallinischer – wurde, so dass sein Freund Saint-John Perse ihr "die Durchsichtigkeit hellen Wassers" attestieren konnte.

Andere französische Kritiker haben die "tiefgründige Leichtigkeit" von Schehadés Lyrik, ihre Anmut und Eleganz, ihre überraschenden Bilder gerühmt. Mehr und mehr hielt sich der Libanese an die von ihm selbst entwickelte Ästhetik des präzisen, pointierten und dennoch mit großem Sinngehalt aufgeladenen Bildes.

Dabei war Schehadé kein Freund literarischen Theoretisierens. Noch mehr lehnte er es ab, Schreiben und Leben zu vermischen. So fand die Welt draußen mit ihren unsäglichen Gräueln – der Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg im Libanon usw. – keinen Eingang in seine Verse.

Rückgriff auf christliche Symbole

Diese beschwören vielmehr immer wieder die libanesische Heimat und vor allem die Kindheit des Dichters, etwa in diesen Zeilen:

Es gibt Gärten, die keine Länder haben / Und die mit dem Wasser allein sind / Tauben durchfliegen sie, blau und ohne Nester / Doch der Mond ist ein Glückskristall / Und das Kind erinnert sich eines großen klaren Durcheinanders.

Über allem schwebt, melancholisch, zuweilen trauernd, die Sehnsucht nach einer anderen, offenbar als verloren empfundenen Welt jenseits unserer Realität – einer Welt, die sich nur in Träumen zu erschließen scheint.

Nicht selten greift Schehadé bei der Evokation dieser Traumwelt auf christliche Symbole zurück, eine Tatsache, die vielleicht zu seiner Entfremdung von den Surrealisten geführt hat, die bekanntlich militante Gegner alles Christlichen waren.

Heribert Becker

© Qantara.de 2006

Georges Schehadé, Poesie I–VII, französisch – deutsch, übersetzt von Jürgen Brôcan, Verlag Hans Schiler 2006

Qantara.de

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Georges Schehadé im Verlag Hans Schiler