Gefährliche Fehlkalkulation

Politische Stabilität muss im Nahen Osten ganz oben auf der Tagesordnung stehen, denn Instabilität nützt nur den radikalen und antidemokratischen Kräften, schreibt John Brenkman.

Ein US-Soldat vor einer Straßensperre in Bagdad; Foto: AP
Die Intervention im Irak basierte auf dem Trugschluss, dass das Land aus der Instabilität heraus zu einem fortschrittlichen politischen Wandel kommen würde

​​In diesem Sommer wurden die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Irak unvermindert fortgesetzt; Iran und Syrien haben die Hisbollah in einen Krieg mit Israel getrieben.

Israels Reaktion auf die Angriffe hat die libanesischen Bemühungen um staatliche Souveränität und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft entscheidend zurückgeworfen; und von Al Qaida inspirierte oder gar dirigierte terroristische Zellen haben unter britischen Muslimen gefährliche Metastasen gebildet.

Ein "glokaler" Konflikt

Was ist das für ein Konflikt, der sich so schwer festmachen lässt? Es ist kein "Clash of Civilizations", denn der Konflikt wird zwischen Muslimen ebenso ausgetragen wie zwischen dem radikalen Islamismus und dem Westen.

Es ist aber auch kein "Bürgerkrieg" zwischen moderaten und radikalen Strömungen innerhalb des Islam, denn folgenschwere Kriegshandlungen zwischen verschiedenen muslimischen Staaten liegen ebenso im Bereich des Möglichen wie bewaffnete Auseinandersetzungen mit westlichen Ländern oder Israel.

Ebenso wenig ist es auf den Begriff "globaler Terrorismus" reduzierbar, denn Al Qaida und die ihr nahe stehenden Gruppierungen sind nur eine von vielen Quellen des Extremismus und der Gewalt.

Und schließlich ist es auch keine Auseinandersetzung des Islamismus mit dem Rest der Welt, denn die tiefsten Gräben verlaufen gerade zwischen den sunnitischen und schiitischen Zweigen des Islam, die sich alles andere als freundschaftlich gesinnt sind.

Kurz, die Umwälzungen, die derzeit in der muslimischen Welt stattfinden, sind sowohl ziviler als auch geopolitischer Art. Geopolitische Konflikte können in Religionskriege ausarten, religiöse Konflikte können zu Bürgerkriegen eskalieren, und Bürgerkriege können sich über Landesgrenzen hinweg ausbreiten und geopolitisch werden. Der proteische Konflikt sollte deshalb beim Namen genannt werden: geo-ziviler Krieg.

Verschleierungsstrategien

Wenn man den Konflikt, in den die USA und der Westen seit dem 11. September hineingezogen wurden, in diesem Sinne neu benennt, klären sich vielleicht einige der Missverständnisse auf, die den Blick auf ihn verstellen.

Ein US-amerikanischer Soldat bedeckt die Statue Saddam Hussains mit einer amerikanischen Flagge; Foto: AP
Der Optimismus der ersten Tage nach Kriegsende ließ schnell nach und eine Spirale anhaltender Gewalt manifestiert sich seitdem in den Straßen Iraks

​​Denn weder politisches Denken noch Handeln kann ein komplexes Phänomen angemessen in den Griff bekommen, bevor es nicht begrifflich scharf konturiert ist. US-Präsident Bush fährt den semantischen Kurs Demokratie vs. Tyrannei und Freiheit vs. Terror. Dahinter steckt zwar ein klares politisches Konzept, aber der Konflikt, um den es dabei geht, wird eher verschleiert als geklärt.

Die ursprünglichen Fehleinschätzungen der USA in Bezug auf den Irak erklären sich aus dem Glauben, dass ein Volk, das unter einer Tyrannei zu leiden hat, das Geschenk der Demokratie, das ihnen von wohltätigen Ausländern gemacht wird, doch wohl dankbar annehmen wird, da Demokratie schließlich das Gegenteil von Tyrannei ist.

Systemwechsel ist ein anderes Schlagwort, das im Kontext der Invasionen von Afghanistan und Irak immer wieder auftauchte. So lehnten die USA diplomatische Gespräche mit Iran und Syrien über die Krise im Libanon ab, weil es den USA eher um die Regierungsform ging als um Stabilität, wie Präsident Bush selbst ausdrücklich anmerkte.

Inzwischen hat dieses Vokabular sich erschöpft. Zunächst sind Länder wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, die als Verbündete der USA gelten, schwerlich demokratisch zu nennen, ja sie haben nicht einmal definitiv den Weg der Liberalisierung eingeschlagen.

Die Invasion des Irak war auch dazu gedacht, innerhalb dieser Autokratien zu demokratischem Wandel zu führen, hat dieses Ziel aber nicht erreicht. Nicht liberale Reformer und Demokraten profilieren sich als Opposition, sondern sunnitische Radikale und populistische
Dschihadisten.

Politische Gratwanderung

Das Regime des pakistanischen Regierungschefs Pervez Musharraf beispielsweise, das zu den wichtigsten Verbündeten des Westens im Kampf gegen Al Qaida und bei den Bemühungen zur Sicherung einer nicht-totalitären Regierung in Afghanistan zählt, ist nicht nur undemokratisch, sondern der Präsident vollzieht einen permanenten Drahtseilakt:

Einerseits will er mit den USA kooperieren, andererseits muss er ständig sein eigenes Militär und den Apparat der inneren Sicherheit zufrieden stellen, von wo aus gute Beziehungen gerade zu Al Qaida und den Taliban unterhalten werden.

Und die alles andere als souveränen, geschwächten Staaten wie der Irak, Palästina, der Libanon und Afghanistan sind geradezu Brutstätten des radikal-islamistischen Terrors geworden.

Das fatale Versäumnis der US-Außenpolitik bestand darin, die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Ordnung als Grundlage von Staatssouveränität und Demokratie unterschätzt zu haben. So war es erst in Afghanistan und im Irak, dann aber auch im Libanon.

Antidemokratische Allianzen in Nahost

Genau wie Europa und die Vereinten Nationen sahen die USA seelenruhig im Fernsehen der Zedernrevolution zu, während zugleich die Hisbollah aufgerüstet wurde, um die Staatssouveränität des Libanon sabotieren und Israel angreifen zu können.

Exil-Iraner demonstrieren gegen die nuklearen Ambitionen der iranischen Führung; Foto: dpa
Es muss ein neuer, innovativer diplomatischer Kurs gegenüber dem Iran eingeschlagen werden, der der fortgesetzten Radikalisierung des Landes einen Riegel vorschiebt, schreibt John Brenkman

​​Und schließlich basierte die Intervention im Irak auf dem Trugschluss, dass es aus der Instabilität heraus zu einem fortschrittlichen politischen Wandel kommen würde. Bisher jedoch hat diese regionale Instabilität immer nur zugunsten antidemokratischer Kräfte gewirkt, die nun untereinander um die Vorherrschaft kämpfen.

Eine Auflistung dieser Kräfte lässt ahnen, in welche verschiedenen Richtungen der geo-zivile Krieg der muslimischen Welt führen kann:

  • Der panarabische Nationalismus, dem es mitunter sogar gelungen ist, die Antagonismen zwischen Sunniten und Schiiten zu überwinden oder zumindest zu unterdrücken, wird für die politische Lage im Nahen Osten zweifellos von Bedeutung bleiben.

    Möglicherweise ist er sogar die letzte Trumpfkarte, die die Führer der angeblich moderaten Staaten Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien ausspielen werden, um den Islamisten, die ihre Herrschaft bedrohen, die Sympathien abspenstig zu machen.

  • Umgekehrt nutzt die schiitische Theokratie in Persien ihren Einfluss auf die arabischen Schiiten im Irak und im Libanon, um einen Panislamismus unter iranischer Vorherrschaft zu propagieren. Man darf nicht vergessen, dass die iranische Revolution von 1979 selbst unter sunnitischen Dschihadisten einen guten Ruf genießt, welche die Schiiten sonst als ihre Feinde ansehen.
  • Ebenfalls möglich erscheint die Entstehung einer neuen Form von arabischem Panislamismus im Dunstkreis des charismatischen Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah, der Schiiten und Sunniten im Namen des "Widerstands" gegen Israel und den Westen vereinen möchte. Sein Einfluss könnte auch die Position der Muslimbruderschaft in Ägypten, Jordanien und Syrien stärken.
  • Die Dschihadisten der Al Qaida hingegen werden sich kaum von einer solchen schiitisch-sunnitischen Allianz von der Bildfläche verdrängen lassen, denn ihrem Salafismus, der einen heiligen Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer predigt, gilt der Schiismus als Apostasie.

    Al Qaida hat höchste Ambitionen, die eigene reine Glaubenslehre über die gesamte muslimische Welt zu verbreiten und schreckt auch nicht davor zurück, deshalb Mord und Selbstmord heilig zu sprechen. Auf historische Kompromisse wird sich diese Bewegung kaum einlassen.

  • Schiitisch-Sunnitischer Flächenbrand?

    Während also diese verschiedenen antidemokratischen Strömungen untereinander um die Vorherrschaft streiten, könnten die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten immer weitere Kreise ziehen und sich schließlich zu einer sektiererischen Konfrontation auswachsen, die vom Libanon bis nach Pakistan reicht.

    Der latente Konflikt zwischen den großen Gegnern der Region, dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Pakistan, könnte sich mit unvorhersehbaren Konsequenzen entladen und dabei zu einer weiteren Stärkung der jeweiligen radikalen Kräfte in beiden Staaten führen.

    Zu den besorgniserregendsten Szenarien gehört dabei natürlich, dass in Pakistan die Dschihadisten an die Macht und damit in den Besitz nuklearer Waffen gelangen und sich dann mit Al Qaida verbünden.

    Die USA, Europa und die internationale Gemeinschaft müssen endlich das Kind beim Namen nennen: Niemand ist letztlich sicher vor dem geo-zivilen Krieg der muslimischen Welt. Und was die amerikanische Politik angeht, muss sich in dreifacher Hinsicht dringend etwas ändern:

    Zunächst muss die unnachgiebige Verfolgung der Al-Qaida-Führer und die Zerschlagung der weltweit verstreuten Zellen jener Organisation strategisch wie rhetorisch von den Problemen entkoppelt werden, vor die die Hamas, die Hisbollah und der Iran die Völkergemeinschaft stellen.

    Zweitens muss ein neuer, innovativer diplomatischer Kurs gegenüber dem Iran gefahren werden, der der fortgesetzten Radikalisierung des Landes einen Riegel vorschiebt.

    Der islamofaschistische Fanatismus des Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad hat eine reale Dimension, doch muss die US-Politik anerkennen, dass im Iran zwar eine "totalitäre" Fahne gehisst wird, die Gesellschaft aber keineswegs geschlossen und kampfbereit hinter seinen Theokraten steht.

    Eine neue Strategie muss her

    Auch auf den Umstand, dass das Land angesichts der potenziellen nuklearen Bedrohung durch Pakistan, die USA und Israel um seine eigene Sicherheit besorgt ist, muss verständig eingegangen werden, statt diese Sorge durch Drohgebärden noch zu verstärken.

    Da schließlich der Fehler der Irak-Invasion weder mit einem Truppenabzug noch mit einem Festhalten am einmal eingeschlagenen Kurs revidiert werden kann, muss drittens ein neues Fernziel definiert werden.

    Während Afghanistan, der Irak und der Libanon darum ringen, ihre staatliche Souveränität wiederherzustellen - unter dem Schutz der Nato, der amerikanischen und britischen Besatzer und der von den Europäern geführten UNO-Friedenstruppen – sollten die USA diese diversen Interventionsanstrengungen maximal unterstützten, finanziell, personell und rhetorisch.

    So mühsam es auch sein wird - jetzt ist die Gelegenheit, die Staatenbildung und die Verbreitung der Demokratie in der muslimischen Welt in die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zu legen, sodass derartige Anstrengungen nicht länger als messianisch-amerikanischer Idealismus erscheinen müssen.

    Oder so knapp formuliert, wie man es in Washington gewohnt ist: Al Qaida zerschlagen, mit dem Iran reden und in Afghanistan, dem Irak und dem Libanon neue Staaten aufbauen.

    John Brenkman

    Aus dem Englischen von Ilja Braun

    © Yale Center for the Study of Globalization 2006

    John Brenkman ist Professor an der New Yorker City University und leitet am dortigen Baruch College das U.S.-Europe Seminar. Er lebt in New York und Paris. Sein Buch "The Cultural Contradictions of Democracy" erscheint 2007 bei der Princeton University Press.

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