"Inshallah, wenn Gott uns so lange am Leben lässt"

Die algerische Filmemacherin Drifa Mezenner schildert ihre persönliche Sicht auf die widersprüchliche Erwartungshaltung der jüngeren und älteren Generation in ihrer Heimat, den gewachsenen gesellschaftlichen Druck und ihren inständigen Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Von Drifa Mezenner

Jeden Tag steht meine Mutter vor allen anderen auf und bereitet Kaffee zu. Manchmal bäckt sie große Mengen Kesra (algerisches Fladenbrot). Ich wache spät auf. Oh, diese Freude, mit dem Duft frischen Kesras aufzuwachen, das meine Mutter so herrlich zubereitet! Noch etwas verschlafen setze ich mich an den Tisch, nippe ganz langsam an meinem Kaffee, so als wollte ich die Zeit anhalten.

Gierig greife ich nach dem noch heißen Kesra und beobachte gedankenversunken meine Mutter, die in aller Seelenruhe das Mittagessen vorbereitet. Ich schaue auf ihre schönen Hände und ihre Falten. Wie kann sie diese Ruhe nur genießen?

Ich denke viel über das Ende von irgendetwas nach, sie dagegen ist in Gedanken stets bei den Anfängen. Sie möchte, dass ich möglichst schnell heirate, dass ich eine Familie gründe, ein oder zwei Kinder bekomme, aber nicht mehr.

Doch ich bin nicht schwanger. Immer wieder sehe ich in ihrem Blick: "Wie kann es sein, dass du noch immer keinen Mann gefunden hast? Wie kann ein Mädchen wie du sich das ganze Jahr über zurücklehnen, statt Gelegenheiten zu suchen und diese zu nutzen?" Ihr Schweigen sagt mir: "An deiner Stelle würde ich ja einen Minister heiraten." Das fehlte mir noch gerade!

Mir fällt ein, dass ich heute ziemlich viel zu tun habe. Ich werde gar nicht alles schaffen, denn dafür hätte ich früh aufstehen müssen. "Morgenstund' hat Gold im Mund", sagt meine Mutter dann immer. Doch mir ist das nicht so wichtig, ich werde geduldig sein und tun, was ich kann. Man muss nicht alles genauestens planen – angesichts der Absurditäten, die ständig um einen herum geschehen.

Die ewigen Ratschläge der Mutter im Ohr

Ich ziehe mich um. Vor dem Spiegel trage ich etwas Kajal auf. Ich mag es, meine Augen besonders hervorzuheben, in ihnen den Glanz zu sehen, der mir etwas mehr Vertrauen verleiht. Meine Mutter läuft an mir vorbei und kommentiert wie jedes Mal: "Lass' die Schminke sein, mein Kind. Du bist viel hübscher ohne diese Malerei!"

Algerisches Frühstück; Quelle: Facebook/Drifa Mezenner
Unterschiedliche Erwartungshaltungen und Lebenswelten: "Morgenstund' hat Gold im Mund", sagt meine Mutter dann immer. Doch mir ist das nicht so wichtig, ich werde geduldig sein und tun, was ich kann. Man muss nicht alles genauestens planen – angesichts der Absurditäten, die ständig um einen herum geschehen, schreibt die algerische Filmmacherin Drifa Mezenner.

Und wie jedes Mal lächele ich. Ich sammle mein Zeug zusammen: meinen Computer, meine Handtasche etc. Auf dem Weg zum Auto mahnt mich meine Mutter unterwegs vorsichtig zu sein und nicht wie immer so spät nach Hause zu kommen. Dann lässt sie ihre Ratschläge und murrt: Ich würde zu viel arbeiten, nie zur Ruhe kommen und es wäre doch am besten, ich würde mir einen neuen Job suchen oder gleich einen Mann, der mich von all den Qualen befreit.

Ich nicke. Ich habe es bereits vor langer Zeit aufgegeben meine Meinung und meine Einwände zu all jenem kundzutun, was meine Mutter unter Erfolg versteht. Ich finde den Gedanken sehr verstörend, dass eine Ehe angeblich das Komfortabelste für mich sein soll.

"Work in Progress"

Ich fahre langsam durch den städtischen Verkehr. Ich sitze in meinem kleinen, roten Auto und denke über all die Dinge nach, die ich heute noch erledigen muss. Dabei geht mir auch durch den Kopf, dass ich bis zum Sonnenuntergang wieder zu Hause sein muss. Auf dem Highway gebe ich schließlich Gas. Ich werde den heutigen Tag damit verbringen, zwischen mehreren Projekten hin- und herzupendeln, von denen keines abgeschlossen ist.

Ich weiß, dass ich meine Gedanken sortieren und mich auf die Projekte konzentrieren muss. Der Verkehr reißt mich plötzlich aus meinen Gedanken. Durch das Rückfenster des Wagens vor mir lächelt mich ein Kind an, ich lächele zurück. Ich denke daran, dass ich eine Tochter haben möchte, und dass ich sie Luisa nennen werde, nach meiner großen Schwester.

Ich möchte, dass sie so intelligent ist wie ihre Tante. Aber sie soll studieren – im Gegensatz zu ihrer Tante, die im Leben kein Glück hatte, außer mit ihrer Gesellschaft Großvater und Großmutter trösten zu können – Gott vergib ihnen – und die nie die Stadt zu sehen bekam wie meine Brüder und Schwestern zu jener Zeit.

Und ich möchte, dass Luisa lernt. Dass sie in einer Umgebung aufwächst, die sie nicht jedes Mal daran erinnert, dass sie ein Mädchen ist, wenn sie darüber nachdenkt draußen zu spielen, sich mit jemandem streitet oder sich verteidigt. Ich möchte, dass sie aus ihren Fehlern lernt und sich nicht schuldig fühlt. Ich möchte, dass sie ihre Ideen verteidigt und sich selbst und anderen gegenüber ehrlich ist. Dass sie ihre Entscheidungen selbst trifft und ein Leben für sich wählt, das sie glücklich macht. Ich möchte, dass sie furchtlos ist. Doch werde ich ihr dabei helfen können?

Warte erst mal ab, bis du ihren Vater triffst, sage ich zu mir selbst. Ich lache und versuche aus der Masse an Autos vor mir herauszukommen. Endlich finde ich eine Lücke und denke, dass ich mit meiner Mutter doch Glück gehabt habe. Bis auf ihre Beharrlichkeit in Sachen Hochzeit. Immer hat sie mir zugehört und mir das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein – und tut dies auch weiterhin. Nicht einen Tag hat sie mich kontrolliert. Ich konnte ihr beinahe alles erzählen, ohne ihre Reaktion fürchten zu müssen, und ihr Vertrauen in mich ist grenzenlos. Manchmal wiegt dieses Vertrauen schwer – dieses Gewicht nicht enden wollender Traditionen und Verbote.

Scripps/NSCAA European Soccer: Kind mit algerischer Nationalfahne; Foto: E.W. Scripps School of Journalism, CC BY-SA 2.0 via flickr.com
Plädoyer für eine andere Kindheit, für ein anderes Leben: „Ich möchte, dass mein Kind in einer Umgebung aufwächst, wo sie nicht jedes Mal daran erinnert wird, dass sie ein Mädchen ist, wenn sie darüber nachdenkt draußen zu spielen, sich mit jemandem streitet oder sich verteidigt. Ich möchte, dass es aus ihren Fehlern lernt und sich nicht schuldig fühlt“, so Mezenner.

Meine Mutter heiratete meinen Vater nach der Scheidung von ihrem ersten Mann. Sich scheiden zu lassen war eine mutige Entscheidung, auch wenn das Wort "geschieden" damals noch nicht so sehr mit Ablehnung und Missbilligung beladen war wie heute. Sie heiratete meinen Vater, der sechs Söhne hatte.

Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, all seine Söhne großzuziehen und sich rund um die Uhr um sie zu kümmern. Und diese Fürsorge hielt an, auch als sie schließlich ihre eigenen Kinder zur Welt brachte. Natürlich zerbrach sie sich nicht über all die kleinen und größeren Dinge den Kopf, so wie ich. Sie gehört einer Generation an, die so viel arbeitet, wie sie nur kann, und zugleich großzügig ist ohne dabei eine Gegenleistung zu erwarten.

Ich besitze nicht ein Quäntchen ihrer Geduld, Ausdauer und Beständigkeit. Die Wahrheit ist, ich möchte gar nicht geduldig sein, ich möchte nicht das ertragen, was sie jahrelang ertrug, denn es war nicht gerecht.

Selbstbild einer gehetzten Generation

Vielleicht möchte ich egoistisch sein und mir ein einfacheres Leben wünschen, vielleicht möchte ich nicht diesem Bild einer Mutter entsprechen, die sich selbst vergisst und für alles aufopfert, vielleicht möchte ich nicht, dass die Mutter sich aufopfert, bis sie sich nicht mehr um die Frau in ihr selbst kümmern kann, und vielleicht gehöre ich einer gehetzten Generation an, die alles auf einmal will und die den Mythen und der Technologie mehr Glauben schenkt als der eigenen Mutter.

Endlich erreiche ich mein Ziel. Ich arbeite für ein paar Stunden und entscheide mich dann nach Hause zurückzukehren, um von dort aus weiterzuarbeiten. Es ist bequem, sich seine Zeit frei einteilen zu können. Meine Mutter ruft an und möchte, dass ich ihr einige Dinge mitbringe. Ich schreibe alles auf. Sie sagt, ich solle mich nicht verspäten. Das ärgert mich, aber ich lasse es mir nicht anmerken und frage, ob das alles sei.

Voll bepackt kehre ich nach Hause zurück und begrüße meine Mutter vollbepackt mit Einkaufstüten. Dann beschwert sie sich wieder mal, ich würde mein Geld gedankenlos ausgeben. Und ich erwidere dann, dass ich damit glücklich sei und meine finanzielle Situation sich schon bald verbessern werde. Sie glaubt mir nicht, wie gewöhnlich, und ich witzele: "Bald werde ich alleine wohnen, dann werden sich meine Ausgaben verringern." Sie antwortet nicht darauf, womöglich gefällt ihr diese Idee auch nicht.

"Ich bin erschöpft. Ich möchte, dass ihr erreicht, was ich nicht erreicht habe", sagt meine Mutter, während sie die Einkäufe aus den Plastiktüten holt, die auf dem Küchentisch stehen. Ich versuche ihr zu helfen und wechsele dann das Thema. Ich frage, ob meine Schwester Sohaila angerufen hat, sie verneint.

Ich frage weiter: "Gibt es noch Kesra?" Sie antwortet: "Es ist alle. Aber wenn du möchtest, kannst du dir selbst eines backen." Ich antworte müde: "Es wird nicht so gut schmecken wie deines, aber morgen backe ich." Spöttisch erwidert sie: "Inshallah, wenn Gott uns so lange am Leben lässt."

Drifa Mezenner

© Goethe-Institut | Perspektiven 2018

Die Autorin studierte bildende Künste und englische Literatur. Bevor sie beschloss Dokumentarfilme zu drehen, arbeitete sie sieben Jahre lang als Grafikdesignerin. Ihr erster Kurzfilm erschien 2011 unter dem Titel "J'ai habité l'absence deux fois". Er wurde auf mehreren Filmfestivals gezeigt und ausgezeichnet. 2017 produzierte sie einen Dokumentarfilm über lokal gewählte Mandatsträgerinnen in Algerien. Drifa arbeitet als Regisseurin und Kulturmanagerin und lebt heute in Algier.