Die Stimme der Revolution

Das neueste Album der türkischen Sängerin und Songwriterin Gaye Su Akyol nimmt ebenso Anleihen an der kalifornischen Surfmusik der 1960er Jahre wie an den Liedern der anatolischen Sängerin Selda Bağcan und an der Grunge-Musik der 1990er Jahre. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Als konsequent unabhängige Künstlerin hat Gaye Su Akyol ihr drittes Album "Istikrarl Hayal Hakikattir" (dt.: Der beständige Traum wird zur Realität) mit ihrem eigenen Label in der Türkei produziert und vertreibt es weltweit über Glitterbeat. Sie selbst bezeichnet ihr Werk als "befreites und revolutionäres Album auf der Grundlage einer Do-it-yourself-Philosophie, das von kapitalistischen oder sonstigen Verpflichtungen weder bevormundet noch befleckt werden kann".

Ein solcher Eklektizismus mag beim ersten Hineinhören etwas irritierend anmuten, aber er ist auch erfrischend und abwechslungsreich. Es gibt zu viele Bands, die einmal ihren Groove gefunden haben und dann dabei bleiben – Song für Song. Gelegentlich ändert man das Tempo oder die Instrumente, aber nach einer Weile klingt die Musik immer wieder gleich. Irgendwann schalten wir ab. Akyol und ihre Begleiter ersparen uns das: Denn jeder Song überrascht aufs Neue im Wechsel zwischen Genres und Stilen.

Akyol selbst schreibt ihrem Album eine bunte Instrumentation zu: "Zum konventionellen Trio aus Gitarre, Bass und Schlagzeug gesellen sich Geige, Oud, Cümbüş und türkische Laute (Bağlama), elektronischer Beat und Blasinstrumente, wie Saxophon und Trompete".

Akyol und ihre Band weben damit Klangräume von außergewöhnlicher Tiefe und Lebendigkeit.  Dass die Musik nicht zu einem wilden Durcheinander gerät, sagt auch etwas über das Können von Akyol und ihrem Gitarristen und Co-Produzenten Ali Güçlü Şimşek aus. Jedes Instrument hat seinen Platz und darf gerade so weit hervortreten, dass die intendierte Stimmung entsteht.

Erweiterter organischer Klang

Cover Gaye Su Akyol: "Istikrarl Hayal Hakikattir"; Label Glitterbeat
Die Musik auf "Istikrarl Hayal Hakikattir" ist zwar nicht das, was die meisten Leute Punk nennen würden, aber das Unabhängigkeitsethos und die Widerstandshaltung, die ihr zugrunde liegen, sind dem Motiv der Punk-Bands sehr nahe. Gaye Su Akyol traut sich, uns zu zeigen, wie wir Träume von einer besseren Welt wahr werden lassen können.

Die Band spielt eigentlich als vierköpfiges Ensemble. Neben Akyol und ihrem Gitarristen Ali Güçlü Şimşek sind es Görkem Karabudak an Bass und Keyboards sowie als Background-Stimme und Ediz Hafızoğlu am Schlagzeug.

Offensichtlich musste die Band für dieses Album ihr Line-Up erweitern, um die neuen Instrumente einbinden zu können. Musiker mit neuen Instrumenten klingen leicht wie ein Fremdkörper. Nicht so bei Gaye Su Akyol. Hier wachsen sie organisch aus dem bereits existierenden Ganzen, sodass etwas Neues entsteht.

Wie der Titel des Albums andeutet, evoziert die Musik eine traumhafte, fast halluzinogene Qualität, die den Hörer immer tiefer in die von Akyol geschaffene Realität zieht.

Akyol glaubt nämlich nicht, dass Träume eine Flucht aus der Wirklichkeit sind. Vielmehr sensibilisieren sie uns dafür, das Geschehen um uns herum wahrzunehmen.

Der dauerhafte Traum als erstrebenswerter Zustand

"In einem schwierigen Land wie der Türkei, das an den Nahen Osten, Europa und Russland grenzt, in einer zunehmend konservativen Atmosphäre und in einer Welt, die mit ihrem Chaos und ihren Machtkämpfen zu dieser Düsternis beiträgt, glaube ich, dass wir eine Gegenrealität schaffen müssen, die das organisierte Böse und die damit verbundene schreckliche Realität infrage stellt. Die mächtigste Lösung ist beständiges Träumen."

Wir, die wir gegebenenfalls kein Türkisch verstehen, müssen unseren Weg zu dem von ihr beschriebenen beständigen Traumzustand ohne Zuhilfenahme der Liedtexte finden.

Das allerdings ist viel leichter, als es sich anhört. Dank ihrer musikalischen Qualität kann die Band Sphären erschaffen, die zum Träumen anregen, ohne das Denken zu unterlassen. Wir schlummern nie ganz ein, da uns immer etwas in der Wirklichkeit verwurzelt hält.

Dieses Etwas ist Akyols Vokalisierung. Sie webt ihre Stimme mühelos in ihre Musik ein und leitet uns den Weg vom Schlaf zum Bewusstsein. Im Gespräch über ihre musikalischen Vorbilder erwähnt sie eine der ikonischen Stimmen der amerikanischen Popmusik der 1960er und 1970er Jahre: Grace Slick, die Leadsängerin von Jefferson Airplane, Jefferson Starship und Starship.

Slick war dafür bekannt, dass sie mit ihrer Stimme scheinbar mühelos stratosphärische Höhen erklimmen konnte. Obwohl Akyol vielleicht nicht über die gleiche gesangliche Pyrotechnik wie Slick verfügt, ist sie doch in der Lage, in ihren Liedern Stimmungen und atmosphärische Übergänge zu erschaffen, die uns verzaubert zurücklassen.

Musik mit philosophischem Hintergrund

Dass ihre Musik so sehr auf ihrer persönlichen Philosophie und Lebensanschauung beruht, verleiht den Songs ihre Intensität. Auch ohne den Text zu verstehen, ist spürbar, wie Akyols Identität und Überzeugung jede Melodie erdet. Während wir ihr zuhören, wird ihre Sicht auf die Welt zur unsrigen.

Mit ihren eigenen Worten klingt das so: "Dieses Album ist auf der Suche nach der großen Existenzkrise, den Seltsamkeiten, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir uns weigern, uns an solche Dinge zu gewöhnen, wie Krieg oder Tod oder eine plötzliche Trennung von einem geliebten Menschen, irritierende Träume, das Wesen der Schöpfung. Dem, wonach wir auf diesem seltsamen Planeten suchen. Dem, was wir nicht finden können. Dem, was wir real nennen. Und dem, was wir als Träumerei abtun. Doch Träume halten dich wach. Und es ist Zeit, aufzuwachen."

Ihr Do-It-Yourself-Konzept bei der Erschaffung dieses Albums erinnert an das Punk-Rock-Credo der 1970er Jahre, das eine musikalische Eruption auslöste. Die Musik auf "Istikrarl Hayal Hakikattir" ist zwar nicht das, was die meisten Leute Punk nennen würden, aber das Unabhängigkeitsethos und die Widerstandshaltung, die ihr zugrunde liegen, sind dem Motiv der Punk-Bands sehr nahe. Gaye Su Akyol traut sich, uns zu zeigen, wie wir Träume von einer besseren Welt wahr werden lassen können.

Richard Marcus

© Qantara.de 2018

Aus dem Englischen von Peter Lammers