Schreiben trotz allem

Gamal al-Ghitani zählt zu den bedeutendsten ägyptischen Gegenwartsautoren. Im Gespräch mit Adelbert Reif äussert er sich zu aktuellen Problemen der arabischen Literatur und ihrer Verbreitung.

Gamal al-Ghitani, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten ägyptischen Gegenwartsautoren. Er ist Chefredakteur der wichtigsten arabischen Literaturzeitschrift, "Akbar al-adab", in Kairo. Im Gespräch mit Adelbert Reif äussert er sich zu aktuellen Problemen der arabischen Literatur und ihrer Verbreitung.

Gamal al-Ghitani, Foto: banipal
Gamal al-Ghitani

​​Herr al-Ghitani, von wenigen Büchern abgesehen ist die ägyptische Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt. Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Gamal al-Ghitani: Die Gründe liegen zum einen im mangelnden Willen der offiziellen staatlichen Institutionen Ägyptens, unsere zeitgenössische Literatur nach aussen zu repräsentieren. Als es zum Beispiel darum ging, die Übersetzung von ägyptischer Gegenwartsliteratur ins Englische zu unterstützen, wurden nur Werke ausgewählt, die der Regierung genehm waren.

Zum anderen ist das Interesse an arabischer und damit auch ägyptischer Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum sehr gering. Alle vorliegenden Übersetzungen von Werken arabischer Autoren sind den Anstrengungen weniger engagierter Verleger zu verdanken.

Worauf führen Sie dieses geringe Interesse zurück?

al-Ghitani: Das ist schwer zu sagen. Denn in der Vergangenheit wurde in Deutschland die beste Forschung auf dem Gebiet der klassischen arabischen Sprache und Literatur betrieben, und dieses Interesse stand in keinerlei Zusammenhang mit kolonialistischen Aktivitäten. Doch diese Tatsache vermag nichts daran zu ändern, dass die arabische Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum kaum Aufmerksamkeit findet. Wenn wir dagegenhalten, was an Übersetzungen deutscher Literatur in arabischen Ländern erscheint, dann stossen wir auf ein eklatantes Missverhältnis.

Sie sind Herausgeber der literarischen Wochenschrift "Akbar al-adab". Welche Rolle spielt diese Zeitschrift bei der Verbreitung der Literatur?

al-Ghitani: In Ägypten haben literarische Zeitschriften eine lange Tradition. "Akbar al-adab" erscheint in einem grossen Verlag, und obwohl es sich dabei um ein vom Staat abhängiges Unternehmen handelt, haben die Verantwortlichen mir als dem Herausgeber völlige inhaltliche Freiheit zugebilligt.

In "Akbar al-adab" können Texte veröffentlicht werden, die anderswo keine Chance hätten, an ein Publikum zu gelangen. So ist die Zeitschrift das wichtigste Medium zur Präsentation junger Literaten und neuer Literatur. Sie hat eine Auflage von 70.000 Exemplaren, von denen die Hälfte in Ägypten verkauft wird. Der Rest geht in andere arabische Länder und ein kleiner Teil auch nach Europa.

Zudem erhalten alle Universitäten der Welt mit einer Abteilung für arabische Literatur die Zeitschrift zugesandt. Wir wissen, dass die dort tätigen Orientalisten über sie die Entwicklung in der arabischen Literatur verfolgen und aus ihr auch Texte in ihre Landessprache übersetzen.

Wie würden Sie die gegenwärtige ägyptische Literaturlandschaft charakterisieren?

al-Ghitani: Gegenwärtig befindet sich die ägyptische Literatur in einer Übergangsphase. Von den grossen Autoren der alten Generation ist nur Nagib Machfus übrig geblieben. Dann gibt es die Schriftsteller der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, deren Produktion in eine politisch und gesellschaftlich ungemein turbulente Zeit fiel.

Damals begann der Fundamentalismus an Stärke zu gewinnen, und im Kampf zwischen ihm und dem Regime sah sich die Literatur in die unangenehme Lage versetzt, von beiden Seiten bedrängt zu werden.

Unterdessen ist eine neue Generation von Literaturschaffenden herangewachsen. Sie zeichnet sich durch eine hohe literarische Qualität aus und ist auch politisch und gesellschaftlich ungewöhnlich couragiert.

Allerdings sind diese Autoren bis jetzt nur einem kleinen Kreis bekannt. Dem offiziellen Kulturbetrieb geht es nicht darum, ihre internationale Eigenständigkeit zu fördern, sondern sie an sich zu binden und mithin zu korrumpieren.

Ist die Zensur in Ägypten moderater als in anderen arabischen Ländern?

al-Ghitani: Offiziell gibt es seit 1976 keine Zensur mehr. Es existiert auch keine offizielle Liste von Verboten, und viele arabische Autoren publizieren aufgrund der Zensur in ihren eigenen Ländern ihre Bücher in Ägypten.

Allerdings ergeben sich aus dem hier herrschenden gesellschaftlichen Druck gewisse Tabus. Jedem Ägypter steht es offen, den religiösen Institutionen im Land anzuzeigen, dass dieser oder jener Autor in seinem Buch etwas über Sexualität oder gegen die Religion geschrieben hat.

Dann können diese Institutionen eine "Empfehlung" herausgeben, dass das entsprechende Buch nicht mehr gedruckt oder sogar beschlagnahmt und verboten wird. Im Allgemeinen sind jedoch die Fälle, in denen es tatsächlich zur Beschlagnahmung von Büchern kommt, eher selten.

Nun ist das Schreiben und Veröffentlichen von Büchern eine Sache, das Verkaufen wieder eine andere. Haben Schriftsteller es schwer, sich auf dem arabischen Buchmarkt zu behaupten?

al-Ghitani: Die Vermarktung von Büchern bereitet im gesamten arabischen Raum grosse Probleme. Das Haupthindernis sind die Preise, die im Vergleich zum Einkommen der Bevölkerung viel zu hoch liegen.

Auch gibt es keinen freien Buchtransfer zwischen den einzelnen arabischen Ländern. Denn anders als in Ägypten wird in vielen arabischen Ländern eine rigide Zensur ausgeübt, beispielsweise in Saudiarabien oder in Libyen. Bis heute gelangte zum Beispiel kein einziges Exemplar von "Akbar al-adab" legal nach Saudiarabien.

Doch was die Zukunft angeht, bin ich optimistisch. Die Zensurbehörden mögen zwar das Buch in Papierform verbieten. Aber es ist ihnen nicht möglich, das Internet zu verbieten. Inzwischen erscheint eine Vielzahl hervorragender Texte junger Autoren im Internet. Dieser Markt wird wachsen und an Einfluss gewinnen.

Und wie ist es vor diesem Hintergrund um die soziale Lage der Schriftsteller bestellt?

al-Ghitani: Sehr schlecht. Ich bin seit fünfzig Jahren als Schriftsteller tätig und habe etwa fünfzig Romane geschrieben. Aber ich kann von meinen Büchern allein nicht leben. Auch Machfus, der so viele Bücher veröffentlicht hat und seit langem berühmt ist, musste immer wieder Artikel für Zeitschriften schreiben.

Glücklicherweise sichert mir meine Herausgeberschaft bei "Akbar al-adab" mein Auskommen und ermöglicht es mir zudem, Einfluss auf die Öffentlichkeit auszuüben.

Lassen sich Themenbereiche ausmachen, die die ägyptische Gegenwartsliteratur bestimmen?

al-Ghitani: Das Engagement der ägyptischen Schriftsteller gilt vor allem der Verteidigung der Freiheit, der Parteinahme für die armen Schichten der Bevölkerung und dem Kampf gegen das weit verbreitete Übel der Korruption. Dieser enge Bezug zur Wirklichkeit und zu den Problemen und Krisen der Zeit, in der wir leben, gehört zur Tradition der ägyptischen Literatur.

Arbeiten Sie an einem neuen Roman?

al-Ghitani: Ich arbeite an einem grossen Projekt, das mehrere Bücher umfasst. Drei sind bereits erschienen. Das zentrale Thema ist die Wiederbelebung der Erinnerung.

Der erste Band berichtet von Beziehungen zu Frauen, die nicht zustande kamen, Frauen, denen ich in meinem Leben flüchtig begegnete, mit denen ich in Wirklichkeit aber nie ein Wort wechselte. Das zweite Buch erzählt von den Zügen, mit denen ich in meinem Leben gereist bin, und das dritte Buch handelt von den Fenstern, durch die ich das Leben betrachtet habe.

Es geht mir darum, die Bedeutung des Nichtgeschehenen, des Verborgenen im menschlichen Leben aufzudecken. Aber natürlich wende ich mich auch den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu. Die Menschen in Ägypten erwarten von einem Schriftsteller, dass er sich zu den sie bewegenden Problemen äussert.

Welche Hoffnungen knüpfen Sie an die bevorstehende Frankfurter Buchmesse?

al-Ghitani: Im Prinzip bietet die Frankfurter Buchmesse der arabischen Welt eine grosse Chance. Wenn man in Europa an arabische Kultur denkt, dann versteht man darunter fast ausschliesslich eine islamisch bestimmte Kultur.

Aber die arabische Kultur wurde durch jüdische, christliche, griechische und die Einflüsse vieler noch älterer Religionen und geistiger Strömungen geprägt. Diese ganze Vielfalt zu präsentieren, wäre eine lohnende Aufgabe. Zu ihrer Bewältigung bedürfte es aber Intellektueller und nicht Staatsbeamter, die keinerlei Erfahrungen im Kulturbetrieb haben.

Die bisher von arabischer Seite getroffenen Vorbereitungen scheinen mir schon im Ansatz verfehlt. Da werden im Schnellverfahren Bücher übersetzt, darunter auch solche, die nur für die Messe geschrieben wurden. Die Kostenfrage ist ungeklärt. Geschätzt wurde eine Kostenhöhe von drei Millionen Dollar, vorhanden ist bisher gerade einmal eine Million, und die tatsächlichen Kosten dürften sich auf fünf Millionen Dollar belaufen.

Auch gibt es Länder wie Marokko, die sich nicht unter die Schirmherrschaft der Arabischen Liga begeben wollen, sondern einen eigenen Auftritt vorbereiten.

Und schliesslich stellt sich das Problem der zahllosen Schriftsteller, die in ihren Heimatländern verfolgt wurden und im Exil leben. Ich weiss, dass die Messeleitung beabsichtigt, einen Teil dieser Schriftsteller nach Frankfurt einzuladen. Aber wie will man das"Offizielle" mit dem "Inoffiziellen" organisieren? Man kann nur auf ein Wunder hoffen.

Das Interview führte Adelbert Reif

© Neue Zürcher Zeitung, 7. August 2004

Von Gamal al-Ghitani erschienen in deutscher Übersetzung die Romane «Seini Barakat» (1988), «Der safranische Fluch» (1991) und «Das Buch der Schicksale» (2001).