Die Geburt von Mythen und Helden

Vor 90 Jahren starben bei der Schlacht von Gallipoli 86.000 türkische Soldaten und über 40.000 Alliierte. Über die in Europa kaum bekannte Schlacht hat Tolga Örnek einen Dokumentarfilm gedreht. Amin Farzanefar stellt ihn vor.

Von Amin Farzanefar

​​Am Start-Wochenende in Istanbul sahen 150.000 Zuschauer den Film, insgesamt stand er fünf Wochen auf Platz eins der türkischen Filmcharts – für einen türkischen Dokumentarfilm ist das allerhand. Aber schließlich bereitet "Gallipoli" ja auch einen Mythos auf: die bis dahin größte Truppenanlandung der Geschichte, später nur übertroffen vom "D-Day" der Alliierten in der Normandie.

Die Schlacht von Canakkale

Als Churchills Plan, auf dem Seeweg durch die Dardanellen zu brechen, dabei die Versorgungswege zu den russischen Verbündeten herzustellen, Istanbul zu erobern und eine Balkan-Front gegenüber den Deutschen zu schaffen, scheitert, bleibt nur der Landweg. Im Morgengrauen des 25. April 1915 landen an mehreren Stellen der den Bosporus begrenzenden Halbinsel Gallipoli britische, australische, neuseeländische, französische und indische Einheiten. Die erhoffte schnelle Entscheidung kann nicht erzwungen werden; die Auseinandersetzung verkommt zu einem zermürbenden Stellungskrieg, in dessen Verlauf über 130.000 Soldaten ihr Leben lassen.

"Gallipoli" die filmische Umsetzung der historischen Ereignisse möchte anscheinend von vorneherein jeglichen Verdacht auf nationalistische Propaganda ausräumen und präsentiert sich zunächst als hoch ambitioniertes internationales Projekt, mit einer dichten Materialpräsentation, akribischen Nachinszenierungen und zahlreichen Experten-Interviews. Der Film geht nahe: als die gegenseitige Belagerung sich über Monate erstreckt – als Diphtherie und andere Durchfallerkrankungen zusätzliche Opfer fordern, wird der Grabenkrieg zur unmenschlichen Strapaze: Die britischen Strategen lassen ihre Männer zeitweise ohne Nachschub, weil andere Kriegsschauplätze ihnen wichtiger erschienen, Offiziere hetzen während der so genannten "Augustoffensive" ihre Männer in mehreren Angriffswellen in den sicheren Tod, um nach Monaten des Stillstandes endlich eine Entscheidung zu erzwingen.

Monumentale Geschichtslektion

Erst im Dezember/Januar ziehen die Alliierten endlich ihre Verbände ab; die Türkei, die hier eine Schlacht gewonnen hat, wird später einen Krieg verlieren. Dennoch wurden hier Mythen geboren – und Helden: Neben dem deutschen General Otto Limann von Sanders war vor allem ein Mann verantwortlich für die erfolgreiche Gegenwehr: General Mustafa Kemal gilt fortan als Retter der türkischen Nation und Ehre. Und noch eine Konsequenz hatte die Schlacht: Australien und Neuseeland, die jungen Staaten in "Down Under" wurden erstmals militärisch in das Weltgeschehen eingebunden. Vom britischen Mutterland gerufen, meldeten sich Freiwillige mit Begeisterung für den Einsatz bei den ANZAC-Truppen.

"Gallipoli" betont, dass sich Australier und Neuseeländer den Türken seither aufgrund der gemeinsam erlittenen Strapazen besonders verbunden fühlen. Tolga Örmek, der Regisseur dieser monumentalen Geschichtslektion, verhalf dem türkischen Dokumentarfilm zu neuer Popularität. Mit "Atatürk" (1998), "Fenerbahce" (1999), "Mount Nevrud" (2000) und zuletzt "Die Hethiter", der jüngst auch in deutschen Kinos zu sehen war, griff er zielsicher Ikonen des türkischen Nationalbewusstseins von der Antike bis in die Moderne auf - und gerät damit natürlich in den Verdacht der Einseitigkeit. "Gallipoli" hält sich in dieser Hinsicht zurück: die von sich selbst so begeisterte türkische Nation erscheint fast unterrepräsentiert, unter den Historikern findet sich kaum ein Türke.

Keine Einbindung in die Weltpolitik

Und Örnek bemüht sich, beiden Seiten gerecht zu werden, skizziert anhand von Feldpost-Auszügen, Tagebuchaufzeichnungen oder Erinnerungen Überlebender fünf Einzelschicksale. Seine Sympathien liegen ganz auf Seiten jener einfachen Männer hüben wie drüben, die sich in ihren Gräben oft bis auf fünf Meter Entfernung gegenüber liegen und in Zeiten relativer Waffenruhe Zigaretten schickten, gemeinsam Lieder sangen und den gegnerischen Freizeit-Fußball beobachteten. Solche Front-Geschichten sollen dem Zuschauer die Unmenschlichkeit eines Krieges näher bringen als nüchterne Fakten in den Geschichtsbüchern. Ein wenig zieht er sich mit solchen penibel recherchierten Detailschilderungen auch aus der Affäre: Dass er auf eine Analyse der größeren weltpolitischen Zusammenhänge weitgehend verzichtet, schützt ihn davor, eine Wertung geben zu müssen. Seine Kritik an der obersten Heeresleitung bleibt im Rahmen dessen, was man von jedem x-beliebigen Hollywood-Kriegsfilm kennt. Und im Mitleiden mit den Frontschweinen beschwört er etwas zu häufig Opfergeist, Mut und Kameradschaft.

Manche Zusammenhänge und Hintergründe muss man sich selber zusammensuchen. Der besagte Offizier Mustafa Kemal etwa, der Vaterlandsretter, war der spätere "Atatürk". Ohne seinen Heldenstatus hätte er seine einschneidenden Reformen wohl nicht mit der bekannten Rücksichtslosigkeit und Effizienz durchsetzen können. Nicht unwichtig beispielsweise auch, dass die Jungtürken vor der Schlacht die Halbinsel räumen ließen und dabei Zehntausende Griechen und Armenier deportierten, dass sie nach den Angriffen die Repressionen gegenüber den armenischen Christen verschärften und ihre Vernichtungspläne vorantrieben. Auf diese Verbindungen angesprochen, äußert Örnek, dass für eine solche Darstellung die Zeit, die Türkei noch nicht reif sei. Wahrscheinlich hat er Recht.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2005