"Die islamische Theologie kann Zwangsheirat bekämpfen"

"Kinderehen" und Zwangsheirat können nicht nur juristisch, sondern auch theologisch bekämpft werden, meint Mouez Khalfaoui, Professor für Islamisches Recht am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) in Tübingen. Bereits vor Jahrhunderten habe es islamische Theologen gegeben, die sich gegen Zwangsheirat und die Ehe mit Minderjährigen ausgesprochen haben, sagt er im Gespräch mit Judith Kubitscheck.

Von Judith Kubitscheck

Herr Khalfaoui, Sie haben den Lehrstuhl für Islamisches Recht inne. Ein wesentliches Thema ist das islamische Familienrecht, mit dem Sie sich auseinandersetzen. Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit Themen wie Zwangsheirat, Ehe von Minderjährigen und nichtregistrierten, islamischen Ehen in Deutschland umgehen?

Mouez Khalfaoui: Wir brauchen durch die Forschung eine neue Interpretation des klassischen islamischen Rechts, vor allem für die muslimischen Minderheiten, die in Europa leben. Bereits in früheren Epochen der islamischen Theologie gab es muslimische Gelehrte, die sich gegen die Ehe mit Minderjährigen und gegen Zwangsheirat stellten. Diese Ansichten, die im Diskurs untergingen und nicht zur Mehrheitsmeinung wurden, sollte die islamische Theologie wieder in den Diskurs mitaufnehmen und in den Vordergrund rücken.

Nehmen wir zum Beispiel das Thema "Ehe mit Minderjährigen". Für Muslime ist das Vorbild des islamischen Propheten maßgeblich, der mit Aischa ein minderjähriges Mädchen heiratete. Ist damit eine solche Ehe nicht bis heute für Muslime legitim?

Khalfaoui: Es gibt viele Diskussionen über das Alter von Aischa und ob Muhammad tatsächlich eine Minderjährige geheiratet hat. Aber natürlich kann es sein, dass seine Frau noch nicht erwachsen war, denn zu Muhammads Zeiten war es üblich, dass Mädchen schon äußerst früh verheiratet wurden, um wirtschaftlich und finanziell abgesichert zu sein. Wichtig ist, dass man dies in den historischen Kontext einordnet, in dem Muslime heutzutage nicht mehr leben. Das Interesse von jungen Frauen heute, im Gegensatz zur vormodernen Epochen, ist eher eine gute Ausbildung, eine glückliche Kindheit, oder ein guter Job.

Muhammad hat in seiner Zeit auch gekämpft und Kriege geführt, was für uns ebenfalls heute kein Vorbild mehr sein kann. Die allgemeine positive Botschaft des Propheten Muhammads ist auch für heute relevant - allerdings muss man manche Aussagen und Taten Muhammads im Rahmen des damaligen Lebenskontexts verstehen. Übrigens war Muhammad für seine Zeit sehr fortschrittlich: Es wird überliefert, dass er sich dafür eingesetzt hat, dass Frauen, die zwangsverheiratet oder in der Ehe misshandelt wurden, sich scheiden lassen können.

Deutsche Gerichte beschäftigen sich immer wieder mit Fällen von Polygamie oder sogenannten "Kinderehen" - wie sollte man damit umgehen?

Khalfaoui: Bis vor wenigen Jahren hatten wir diese Probleme hierzulande kaum, weil Migranten muslimischen Glaubens hauptsächlich aus der Türkei, Nordafrika und den Balkanstaaten kamen, wo säkulares Familienrecht gilt und Polygamie ebenfalls verboten ist. Die Ehefähigkeit ist dort stark an europäischen Maßstäben orientiert. In Ländern wie Afghanistan, Iran, dem Irak und Syrien sowie mancher Golfstaaten sieht das anders aus.

In den letzten Jahren ist die Zahl von Zwangsehen bzw. Ehen mit Minderjährigen und von nichtregistrierten Ehen in Deutschland gestiegen. Dies führte unter anderem zur Verschärfung des hiesigen Eherechts. Neben juristischen Bemühungen ist die Rolle der muslimischen Theologen auf diesem Gebiet nicht zu unterschätzen. Diese neue Disziplin sollte die Entstehung eines progressiven Islam-Diskurs fördern, der den juristischen Instanzen beiseite steht und zur Bekämpfung solcher Phänomene beiträgt.

Was können muslimische Theologen konkret tun?

Khalfaoui: Im Herbst dieses Jahres habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen der Universität Oxford, Professor Justin Jones, ein internationales Symposium organisiert, mit 50 Wissenschaftlern, die auf den Bereich des Islamischen Rechts spezialisiert sind. Thema des Symposiums, das von der Volkswagen-Stiftung gefördert wurde, war das Islamische Familienrecht in Europa und der Islamischen Welt. Wir Wissenschaftler waren uns einig: Es ist nötig, die innerislamische Debatte zu diesen Themen voranzutreiben.

In Ländern wie Marokko, Tunesien und Ägypten waren es muslimische Gelehrte, die islamisch legitimiert haben, dass das Familienrecht reformiert wird. Dies ist aus meiner Sicht effizienter, als diese Änderungen durch säkulare oder westliche Juristen im Recht durchsetzen, weil es mehr gesellschaftliche Akzeptanz gibt, wenn Reformen von innen erfolgen. Auf der anderen Seite brauchen wir in Europa mehr Informationen über die Rechtslage in muslimischen Staaten, in denen das Familienrecht in den letzten Jahren oft mehrfach geändert wurde.

Zum Thema "Ehe und Scheidung im Islam" haben Sie im vergangenen Jahr zusammen mit Studierenden des ZITh eine Vorstudie durchgeführt. Was waren die wesentlichen Ergebnisse?

Khalfaoui: Auch wenn die quantitative Vorstudie mit 101 Befragten nicht repräsentativ ist, zeigte sich in gewissen Bereichen eine neue, wichtige Entwicklung: So hebt die große Mehrheit der Befragten beispielsweise hervor, dass die Liebe das wichtigste Kriterium für die Partnerwahl ist und man die Partnerin oder den Partner vor der Ehe unbedingt persönlich kennenlernen muss. Die Mehrheit (78 Befragte) sprach sich für eine Kombination zwischen standesamtlicher und religiöser Eheschließung statt einer rein religiösen Eheschließung aus. Hier sehen wir einen großen Fortschritt, der Stereotypen und Klischees widerspricht.

Wies die Vorstudie auch auf problematische Einstellungen hin?

Khalfaoui: Ja, beispielsweise findet mehr als Dreiviertel der Befragten eine Ehe mit Nichtmuslimen problematisch - vor allem aus religiösen Gründen, wobei auch das soziale Umfeld und die kulturelle Prägung eine Rolle spielt.  Die meisten klassischen islamischen Gelehrten waren sich einig, dass eine Muslimin keinen Nichtmuslim heiraten darf. Dies sorgt für großen sozialen Druck. Es gibt viele muslimische Frauen, die anonym und von der Familie getrennt leben, weil sie sich für einen nichtmuslimischen Mann entschieden haben. Es ist eigentlich nicht so gedacht, dass man zwischen seinem Glauben und seiner Liebe entscheiden muss - beide gehören aus religiöser Sicht zusammen.

Was kann dagegen unternommen werden?

Khalfaoui: Es gibt einige Imame, die dennoch solche Paare verheiraten. Dies geschieht allerdings heimlich, aus Angst, dass sie in ihrem eigenen Job als Imam Schwierigkeiten bekommen.  Vor allem ist es auch hier wichtig, dass namhafte Gelehrte und große Institutionen etwas unternehmen und diese Menschen nicht im Stich lassen. Sonst entfernen sich viele Musliminnen und Muslime von ihrer Religion oder lehnen sie aus diesem Grund kategorisch ab.

Was waren weitere Erkenntnisse Ihrer Vorstudie?

Khalfaoui: Nur acht von 101 Befragten sprachen sich dafür aus, dass bei Eheproblemen Hilfe von außen herangezogen werden darf - wie Beratungsstellen oder Anwälte. In traditionellen Kreisen geht es bei Eheproblemen um die Ehre der Familie, die an die Ehre der Frau angedockt wird. Deshalb müssen alle Streitigkeiten, die die Frau betreffen, innerhalb der Familie in geschlossenem Kreis diskutiert und ausgetragen werden.

Da besteht akuter Handlungsbedarf. Frauen sollten Schutz und Beratung suchen, wenn sie Hilfe brauchen. Wenn man darauf beharrt, dass alle Probleme in der Familie bleiben, kann dadurch häusliche Gewalt gefördert werden. Auch die Ablehnung der juristischen Instanzen ist höchst problematisch. Hier muss ein Umdenken stattfinden, da waren sich auch alle Beteiligten auf der internationalen Konferenz einig: Juristische Instanzen sind nicht Gegner der Familie, sondern können helfen, Konflikte zu lösen und Beteiligten Schutz zu gewähren.

Solche Themen müssen weiter diskutiert werden - vor allem hier im Westen, wo islamische Gelehrte die Möglichkeit haben, frei und offen zu reden und zu forschen. Die Ansätze der christlichen und jüdischen Theologie können hierzu herangezogen werden und Kooperationen eine große Hilfe für muslimische Theologien sein.

Interview: Judith Kubitscheck

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