Mit Worten Gefängnismauern durchbrechen

Drei Jahre und vier Monate war der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan in Haft. Unbequem war er immer, unbequem blieb er auch im Gefängnis, wo er erst eine Essaysammlung und zuletzt einen Roman schrieb. Für sein unermüdliches Engagement erhielt er nun den Geschwister-Scholl-Preis. Von Gerrit Wustmann

Von Gerrit Wustmann

Abdülhamid II, der letzte Sultan vor dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, war als Reformer angetreten und wandelte sich zu einem dekadenten, paranoiden Despoten, der an jeder Ecke eine Verschwörung wähnte, der alles und jeden bespitzeln ließ und den sein Kontrollwahn fest im Griff hatte. Er baute Staat und Verwaltung so um, dass er sämtliche Fäden der Macht in der Hand hielt. Seine enorme Nase machte ihn zur Zielscheibe für Karikaturisten, die ihm keinen guten Riecher attestierten. Als er einen Putschversuch witterte, schlug er gnadenlos um sich.

"Mit der großen Verhaftungswelle, die am folgenden Morgen einsetzte, wurden etliche Paschas und hunderte von Offizieren der niederen Ränge in ihren Häusern abgeholt und in die Balmumdschu-Kaserne gebracht. (…) Und die Furcht, die sich wie ein von Zeit zu Zeit aus dem Untergrund auftauchendes Ungeheuer in Istanbul versteckt hielt, breitete sich wieder einmal aus wie eine Seuche. Auch unter der Zivilbevölkerung gab es Denunziationen und Verhaftungen. Ein jeder konnte seinen Widersacher anzeigen, indem er behauptete, es handele sich um einen von Fuat Paschas Knechten."

Man ersetze 'Fuat Pascha' durch Fethullah Gülen, den Sultan durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, und schon liest sich diese Passage wie ein Zeitungsartikel aus dem Sommer 2016, als ein gescheiterter Putschversuch ansetzte, die türkische Regierung zu stürzen. Doch der Text stammt nicht von 2016, sondern von 1998, und er steht nicht in einem Geschichtsbuch, sondern in Ahmet Altans Roman "Wie ein Schwertstreich" (Deutsch von Ute Birgi-Knellessen, Fischer Verlag 2018).

Ein Opfer des Gegenputsches

Altan wurde, zusammen mit seinem Bruder Mehmet Altan und der Journalistin Nazlı Ilıcak, nur wenige Tage nach jenem schicksalhaften 15. Juli im Zuge landesweiter Razzien gegen Oppositionelle, festgenommen. Auch die von ihm gegründete Tageszeitung Taraf wurde verboten. Die Anklage warf ihm Unterstützung der Putschisten vor, weil er es einen Tag vor der Putschnacht gewagt hatte, in einer Fernsehsendung die regierende AKP und Staatschef Erdoğan zu kritisieren. Altan ist nur eines von Zehntausenden Opfern dieses Gegenputsches, bis heute sind mehr als hundert Journalisten und Schriftsteller in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Welt.

In einem Essay erinnert sich Altan später an die Parallelen zwischen seiner Verurteilung und der des Protagonisten aus "Wie ein Schwertstreich". Wie seine Romanfigur sitzt er rastlos in der Untersuchungszelle und wartet auf das Urteil, Begriffe wie "Zukunft" und "Schicksal" zerfallen, das bisherige Leben bricht in sich zusammen. "Mein Leben äfft meinen Roman nach!" schreibt Altan in "Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis" (Deutsch von Ute Birgi-Knellessen, Fischer Verlag 2018).

Ein politisch motiviertes Urteil

Das Urteil für Altan lautete: Lebenslänglich unter erschwerten Bedingungen. Das bedeutet: Isolationshaft. Im Hochsicherheitsgefängnis Silivri nahe Istanbul. Jenes Gefängnis, in dem man, so heißt es, die beste Zeitung des Landes machen könnte, weil dort die wichtigsten Journalisten und Intellektuellen der Türkei einsitzen. Can Dündar war hier. Auch Deniz Yücel. Und das Urteil gegen Altan erging am selben Tag, an dem Yücel freigelassen wurde, was einmal mehr verdeutlichte, dass hier keine rechtsstaatlichen Urteile mehr gesprochen, sondern politische Statements gesetzt werden. Das Urteil wurde inzwischen vom türkischen Verfassungsgericht kassiert, das sich in letzter Zeit anschickt, sich dem Willen des Präsidentenpalastes zu widersetzen. Doch das Strafgericht in Istanbul intervenierte, eröffnete ein neues Verfahren, und so musste Altan vorerst weiter hinter Gittern bleiben.

Für die Essaysammlung erhält Ahmet Altan in diesem November den Geschwister-Scholl-Preis. "Mit dem politisch motivierten Urteil wurde ein kritischer Kommentator des Geschehens in der Türkei seiner Freiheit beraubt", heißt es in der Jurybegründung. "In der Situation größter Unfreiheit behauptet Ahmet Altan auf eine bewegende und mutige Weise seine innere Freiheit. Die Texte, geschrieben immer wieder auch im Dialog mit der Weltliteratur, sind ein Dokument des Widerstehens und der geistigen Unabhängigkeit." Am Ende sei die Literatur stärker als jede Willkürjustiz.

Journalisten demonstrieren im Juni 2017 vor dem Istanbuler Gerichtsgebäude für die Freilassung von Ahmet und Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak; Foto: DW
Protest gegen Willkürjustiz und drakonische Haftstrafen: Ahmet Altan wurde im Februar 2018 mit seinem Bruder Mehmet Altan und der Journalistin Nazlı Ilıcak wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, den Putschversuch von Juli 2016 unterstützt zu haben, für den Ankara die Gülen-Bewegung verantwortlich macht. Nach mehr als drei Jahren Haft hat nun ein türkisches Gericht die Freilassung von Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak angeordnet. Mehmet Altan war bereits im Juni 2018 aus der Haft entlassen und im Juli freigesprochen worden.

Das Vorgehen gegen Altan und viele andere hat einerseits seinen Zweck erfüllt: Es führte zu Angst und Selbstzensur unter jenen, die noch frei sind. Es hat aber auch gezeigt, wie Altan in seinen Texten bekräftigt, dass man zwar Autoren einsperren kann, nicht aber ihre Worte und Werke. Im Gegenteil: Diese erhalten weltweit mehr Aufmerksamkeit denn je. Und mit jeder Gewaltaktion seitens der türkischen Regierung wird das, was sie schreiben, bestätigt.

Inzwischen hat er, so teilte er dem britischen Observer in aus dem Gefängnis geschmuggelten Nachrichten mit, einen neuen Roman geschrieben. "Lady Life" soll der Titel lauten, "eine Komödie, die im heutigen Istanbul vor dem Hintergrund von Repressionen und politischem Aufruhr spielt, eine Geschichte einer Frau, die das Leben nicht zu ernst nimmt".

"Ich kann mühelos durch Wände gehen"

Der Roman soll demnächst auf Englisch erscheinen – und dann wohl bald auch auf Deutsch, während man zugleich nur hoffen kann, dass auch noch weitere der insgesamt acht Romane, die Altan seit 1982 veröffentlicht hat, ihren Weg zu uns finden. Dass "Lady Life" in der Türkei erscheint, ist vorerst unwahrscheinlich. Auch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" liegt nicht in einer türkischen Ausgabe vor. Dabei stehen alle anderen Altan-Bücher auch in der Gefängnisbibliothek in Silivri. Und jeder Häftling kann sie ausleihen. Nur Ahmet Altan selbst blieb das verwehrt. Den Grund hat er bis heute nicht erfahren.

"Ich schreibe diese Zeilen in einer Gefängniszelle", schreibt Altan am Schluss seiner Essaysammlung. "Aber ich bin nicht gefangen. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin. Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten. Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen."

Am Montag, den 4. November 2019, dann die überraschende und erleichternde Nachricht aus Istanbul: Das Gericht bestätigt zwar ein Hafturteil über zehn Jahre, erlaubt Altan aber zugleich, das Gefängnis zu verlassen. Nach fast dreieinhalb Jahren sieht er die Welt wieder – mit ihm wurde auch Nazlı Ilıcak entlassen. "Meine Jahre waren nicht verloren", sagte er, als er am späten Abend vor der Haftanstalt von Familie und Kollegen empfangen wurde. "Ich habe es mir nicht erlaubt, sie zu verlieren. Ich habe Bücher geschrieben."

In nächster Zeit darf er Istanbul nicht verlassen und muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Ob er in relativer Freiheit bleibt ist angesichts der in der Türkei herrschenden Willkürjustiz keineswegs sicher. Aber es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Ausreisesperre noch aufgehoben wird, wie es beispielsweise auch bei Aslı Erdoğan der Fall war. Dann könnte er vielleicht am 25. November in München den Geschwister-Scholl-Preis persönlich entgegennehmen. Und freie Worte sprechen.

Gerrit Wustmann

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