Die Frauen von "Dar Amneh"

In Jordanien hat die Zivilgesellschaft das erste Schutzhaus für Frauen durchgesetzt, die von ihren Familien mit dem Tod bedroht werden. Seit einem Jahr erhalten sie in "Dar Amneh" Hilfe und Unterstützung. Eine Reportage von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Als Raghda Al Azzehs Handy klingelt, wird sie nervös. Es könnte um eine Frau gehen, die dringend Hilfe braucht. Schutz vor ihrer Familie, die sie töten will. Aber es ist nur ein Anwalt dran, der mit ihr über einen Fall sprechen möchte.

Die promovierte Sozialarbeiterin mit beigem Kopftuch und schwarzem Hosenanzug lässt sich wieder erleichtert in den Sessel fallen. Raghda Al Azzeh, Mitte dreißig und ledig, leitet "Dar Amneh", eine Einrichtung zum Schutz von Frauen am Rande von Jordaniens Hauptstadt Amman. Das Sozialministerium hat das Frauenhaus im Juli 2018 eröffnet, im September kamen die ersten Schutzsuchenden.

"Dar Amneh" soll ein deutliches Signal sein, dass die Regierung es ernst meint mit dem Kampf gegen Morde im Namen der Familienehre. Zehn bis zwanzig Frauen pro Jahr erleiden nach Angaben von "Human Rights Watch" trotz aller Bemühungen immer noch dieses Schicksal: Ihre eigenen Brüder oder Väter bringen sie um, weil sie die Ehre der Familie "beschmutzt" hätten. Ihre Vergehen sind eigentlich keine: Sie haben ein uneheliches Kind, waren das Opfer einer Vergewaltigung oder wollen einen Mann heiraten, den die Eltern ablehnen. Bis heute sehen Teile einer patriarchalen, von beduinischem Stammesdenken geprägten Gesellschaft immer in den Frauen die Schuldigen. Selbst wenn sie die Opfer sind.

Wirkungsvolle Aufklärungskampagnen

Aber Aufklärungskampagnen von Frauenrechtlerinnen und Nichtregierungsorganisationen zeigen langsam Wirkung; die Zahl der Verbrechen geht zurück. In der Gesellschaft hat ein Umdenken eingesetzt. Immer mehr Menschen lehnen diese Gewalttaten ab.

Jetzt bietet auch "Dar Amneh" Frauen Schutz. "Endlich können wir Frauen besser helfen", sagt Sozialarbeiterin Al Azzeh. "Dar Amneh ist für mich ein Geschenk des Himmels. Es ist für mich wie ein Traum, der endlich Wirklichkeit geworden ist." Als die erste Frau im September 2018 kam, war das ein emotionaler Moment für sie und das ist es bis heute für die Direktorin, wenn eine Frau die Einrichtung betritt.

Jordanische Frauen im "Dar Amneh"; Foto: Claudia Mende
Schutz für Jordaniens Frauen: „Dar Amneh“ soll ein deutliches Signal sein, dass die Regierung es ernst meint mit dem Kampf gegen Morde im Namen der Familienehre. 31 Frauen im Alter von 19 bis 44 Jahren wurden dort bisher aufgenommen, 14 davon haben „Dar Amneh“ bereits wieder auf eigenen Wunsch verlassen. 17 Frauen leben zurzeit dort.

Wenn sie erstaunt die Augen aufreißt und sofort spürt, dass es ein guter Ort ist. 31 Frauen im Alter von 19 bis 44 Jahren wurden bisher hier aufgenommen, 14 davon haben "Dar Amneh" bereits wieder auf eigenen Wunsch verlassen. 17 Frauen leben zurzeit hier.

Keine Toleranz mehr für "Ehrenmorde"

"Dar" ist arabisch für Heim und "Amneh" bedeutet sicher. Das Haus, finanziert von der amerikanischen Organisation USAID, ist von einem hohen Zaun umgeben und wird von Polizisten in Zivil bewacht, sicher ist sicher. Drei Frauen teilen sich jeweils ein Zimmer, es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Küche, medizinische Versorgung und eine Spielecke für Kinder. Als Raghda Al Azzeh einen Rundgang durch das Haus macht, zeigt gerade eine Frisörin einigen Frauen an einem Modell, wie man einen Haarschnitt macht. Die Gesichter der Frauen sind schmal und verhärmt, ihr Lachen klingt verhalten. Zu ihrem eigenen Schutz sprechen sie nicht mit Journalisten.

Für "Dar Amneh" haben wir lange gekämpft, sagt Asma Khader von "Sisterhood is Global" (SIGI) in Amman. Jordanische Nichtregierungsorganisationen wie SIGI und "Mizan Law Group" haben jahrelang einen besseren Schutz von Frauen vor der Gewalt der Familien gefordert. Im Ministerium gab es lange Zeit Bedenken. Unter Sozialministerin Hala Latouf erfolgte dann der Durchbruch. Inzwischen hat Hala Latouf ihr Amt wieder verloren. "Dar Amneh" aber hat Bestand, hoffentlich.

Auch gesetzlich hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Nach langen Ringen im Parlament strichen im Juli 2017 die Abgeordneten Paragraph 98 aus dem Strafgesetzbuch. Er sah eine milde Strafe für Männer vor, die ein weibliches Familienmitglied "aus Wut über das ungesetzliche oder gefährliche Verhalten des Opfers" ermordet hatten. Jahrzehntelang waren die Täter mit skandalös niedrigen Strafen von unter zwei Jahren Haft davongekommen. Das ist nun vorbei. Die ersten harten Urteile mit Haftstrafen von 15 und 20 Jahren wurden bereits gesprochen.

Kulturelle Normen im Wandel

Das "Iftaa Department", eine staatliche Einrichtung, die moralische Fragen aus islamischer Sicht beurteilt, hat Ende 2016 ein Lehrschreiben (Fatwa) erlassen, wonach ein Mord aus Gründen der Familienehre ein besonders "abscheuliches Verbrechen" sei.  "Wer seine Verwandte umbringt, weil er damit die Familienehre wiederherstellen möchte, begeht eine Handlung gegen den Islam und muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden", unterstrichen die Gelehrten.

Aber kulturelle Normen lassen sich nicht so leicht ändern. Für die Frauen von "Dar Amneh" sind die Debatten in der Gesellschaft weit weg. Sie sind erst mal nur froh, in Sicherheit zu sein und zur Ruhe kommen zu können. "Als erstes kläre ich sie über ihre Rechte auf", beschreibt Sozialarbeiterin Al Azzeh ihre Vorgehensweise. "Ich sage ihnen, dass sie kommen und gehen dürfen, wie sie wünschen und niemand sie in 'Dar Amneh' festhält." Sie informiert die oft aus einfachen Verhältnissen stammenden Frauen über die Angebote in der Einrichtung: Sie können lernen, wie man Computer nutzt und Smartphones repariert. Wer es traditioneller mag, kann auch Nähen oder Haareschneiden lernen.

Wenn sie innerlich so weit sind. Denn viele brauchen erst einmal Zeit, um sich zu sammeln. Es ist schon schwer genug zu verdauen, dass einem die eigene Familie, Väter oder Brüder, nach dem Leben trachtet. In einer Gesellschaft, für die Familie über allem steht, ist es außerordentlich schwierig, auf sich allein gestellt zu sein. Manche Frauen werden von Schuldgefühlen geplagt, weil sie selbst verinnerlicht haben, dass sie sich ungebührlich verhalten hätten. Dann versinken sie in Depressionen und hängen wochenlang vor dem Fernseher ab.  Raghda Al Azzeh und ihr Team versuchen, für alle eine Lösung zu finden.

"Nach ein paar Tagen machen wir eine erste Fallbesprechung", erklärt Al Azzeh. Zusammen mit einem Anwalt, einer Psychologin, Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen, der Family Protection Unit (Spezialeinheit der Polizei zum Kampf gegen familiäre Gewalt) wird beraten. Jeder Fall sei anders, meint die Sozialarbeiterin. Aber jedes Schicksal fordert ihr volles Engagement. Diesen Frauen zu helfen, begreift sie als ihr Lebensthema. Sie ist Tag und Nacht für sie da. Nach Hause fährt sie nur am Wochenende. Für sie steht die Autonomie der Frauen ganz oben. "Es sind erwachsene Frauen, die über ihr eigenes Leben entscheiden können. Darin möchten wir sie bestärken."

Aber dieser Wunsch trifft auf die Vorstellungen einer traditionellen Gesellschaft, in der die Familie einen höheren Stellenwert besitzt als die Selbstverwirklichung des Individuums. Deshalb muss Al Azzeh eben auch versuchen, die Familien wieder zu versöhnen. Das ist Teil ihres offiziellen Auftrags.

Dazu spricht sie mit Clanchefs und trifft Familienangehörige. Sie redet mit Vätern und Ehemännern, versucht sie zu überzeugen, dass ihre Frauen und Töchter nichts Schlimmes getan haben. Dass sie doch nur einen Mann heiraten wollten, den sie lieben. Dass es nicht ihre Schuld ist, wenn jemand sie vergewaltigt hat. Sie versucht den Familien etwas Selbstverständliches klar zu machen: Du darfst nicht töten.

Zwischen Familie und Autonomie

Das Bemühen die Familien zu versöhnen, ist ein heikles Unterfangen. Wie kann ein Zusammenleben nach einer Todesdrohung noch möglich sein? Al Azzeh sieht die Grenzen dieses Vorhabens und sie weiß, dass man sie im Zweifel verantwortlich macht, wenn etwas schieflaufen sollte. Sie hält einen Moment inne. "Ja, das macht auch mir manchmal Angst", sagt sie dann nachdenklich. Es ist der Spagat zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem Wohl der einzelnen, der sie manchmal zerreißt.

Auch die beteiligten Nichtregierungsorganisationen wie SIGI und "Mizan Law Group" setzen stark auf den Versuch, die Familien zu versöhnen. Manchmal gehen sie dabei weiter, als es die betroffenen Frauen wünschen. Die Frauenrechtlerin und Journalistin Rana Husseini sieht dieses Bemühen daher kritisch. Die Organisationen wollten so den Vorwurf abwehren, dass sie die Familien zerstören, meint sie. Diesen Vorwurf bekommen Frauenrechtlerinnen in Jordanien standardmäßig zu hören. Die Gefahr bestehe dann, dass Frauen in eine Situation zurückkehren, in der sie erneut gefährdet seien.

Wenn die Zeit Wunden heilt

Raghda Al Azzeh weiß, wie viel auf dem Spiel steht. Sie hat alles schon erlebt. Tränenreiche Versöhnung, hartnäckige Verweigerung, späte Einsicht. In manchen Fällen gelingt es ihr, die Familien tatsächlich zu überzeugen, dass es abstrus ist, Frauen seien für die Familienehre verantwortlich. Die Gespräche erfordern sehr viel Geduld und noch mehr Fingerspitzengefühl.

Manchmal heilt die Zeit die Wunden. Einmal habe sie sehr lange mit dem Vater einer Frau gesprochen, der die Tochter bedroht hatte: "Ich bringe dich um, du hast Schande über uns gebracht." "Der Mann war schon älter und wurde dann schwer krank. Er wollte sich vor seinem Tod noch mit seiner Tochter versöhnen." Diese Frau kehrte dann tatsächlich zu ihrer Familie zurück.

In anderen Fällen ist das schlicht unmöglich. Dann müssen sich die Betroffenen auf ein Leben alleine einstellen. Das ist zwar teilweise möglich, aber nicht einfach. In Amman können Frauen heute alleine oder zusammen mit anderen Frauen leben. In der Provinz jedoch würde das für junge Frauen den sozialen Tod bedeuten; Ältere können eher alleine leben, wenn ihnen das Gerede nichts ausmacht. Auf sich allein gestellt zu sein, bedeute aber für Frauen auch aus einem anderen Grund eine große Herausforderung. "Bisher waren sie es gewohnt, dass die Familie alle wichtigen Entscheidungen für sie trifft. Viele wissen dann nicht, was sie überhaupt im Leben wollen. Wir helfen ihnen dabei, das herauszufinden."

Manchmal verzweifelt sie angesichts der Aufgabe. Dann schließt sie die Tür zu ihrem Büro und braucht einfach mal ihre Ruhe. Aber sie ist überzeugt, dass sich die jordanische Gesellschaft verändert. Die Vorstellung von der "beschmutzten Familienehre" werde eines Tages überwunden sein, meint auch Frauenrechtlerin Asma Khader. Als Beispiel nennt Khader die Arbeit der "Family Protection Unit" (FPU) bei der Polizei.

Als die FPU im Jahr 1979 mit ihrer Arbeit begann, war die Empörung noch groß: Sie bedrohen die Einheit der Familien, schallte es damals aus vielen Mündern. Heute empfehlen viele Familien bei Problemfällen: Hol dir dort Hilfe. "Die Haltung der Menschen ändert sich, aber das braucht Zeit."

Claudia Mende

© Qantara.de 2019