Marokkos unbeugsame Frauen

Nach dem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten in Marokko ist unklar, wie es mit der Gleichstellung der Frauen weitergeht. Was wird aus der Umsetzung der Familienrechtsreform von 2004? Einzelheiten von Martina Sabra

Die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) hat im neuen marokkanischen Parlament nicht nur die relative Mehrheit. Die PJD stellt auch 18 der insgesamt 67 weiblichen Abgeordneten und ist damit die Fraktion mit den meisten Frauen. Doch wesentliche Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern sollte man deshalb nicht erwarten.

Bassima Hakkaoui, Chefin der Frauenorganisation innerhalb der PJD, und inzwischen einzige Ministerin im neuen Parlament, fordert zwar eine stärkere Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit, mehr Rechte für Arbeiterinnen und Bäuerinnen und mehr Hilfen für Familien. Doch in Bezug auf das zentrale Thema der marokkanischen Genderpolitik – die Umsetzung der Familienrechtsreform von 2004 – hält sich die islamistische Partei bislang bedeckt.

Bis 2004 hatte das marokkanische Familienrecht auf einer äußerst konservativen Interpretation der Scharia basiert: Ehemänner durften ihre Ehefrauen ohne Angabe von Gründen verstoßen, während die Frauen so gut wie keine Möglichkeit hatten, sich aus einer unglücklichen Ehe zu befreien. Ehefrauen mussten ihren Männern unter allen Umständen gehorchen.

Zwei Frauen in Marokko; Foto: AP
Diskriminierung trotz Familienrechtsreform: Seit 2004 dürfen Frauen sich zwar scheiden lassen, einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen haben sie allerdings nicht. Unehelich Geborene gelten noch immer als "Kinder der Sünde".

​​Die Reform der "Mudawwana“ (Personenstandsrecht) beseitigte einige der eklatantesten Ungerechtigkeiten: Frauen und Männer wurden im Scheidungsrecht gleichgestellt. Die Gehorsamspflicht der Frauen und der Mann als Oberhaupt der Familie wurden gestrichen. Grundlage dieser Reformen war eine moderne Interpretation der religiösen Quellen.

Mehr Frauen, aber wenig Genderpolitik

Die jetzt regierende islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) hatte das Reformprojekt jahrelang bekämpft, dann aber unter dem Druck des Königs doch dafür gestimmt.

Säkulare Frauenrechtsaktivistinnen wie die Genderexpertin Atifa Timdjerdine von der "Marokkanischen Vereinigung Demokratischer Frauen" (ADFM) befürchten, dass nun, da die Islamisten die Regierung stellen, die ohnehin schwierige Umsetzung der Rechtsreformen noch mehr ins Stocken gerät: "Frauen können sich jetzt zwar scheiden lassen. Aber viele Männer zahlen nach einer Scheidung keinen Unterhalt. Es gab ein Projekt, um sicherzustellen, dass der Staat in solchen Fällen in Vorleistung tritt. Man weiß nicht, ob dieses Projekt nun weitergeführt wird."

Trotz mancher Verzögerungen hatte es bei der Umsetzung der Familienrechtsreform in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben. Neue Familiengerichte wurden installiert, das Justizpersonal wurde geschult. Doch viele Richter haben die neuen Gesetze noch nicht akzeptiert. Und vielen marokkanischen Frauen fehlt die Bildung oder schlicht das Geld, um ihre Rechte in einem Prozess zu erstreiten.

Gewalt und Ausgrenzung

Reformbedarf gibt es ohnehin nicht nur im Familienrecht. "Auch im Strafrecht müsse sich etwas ändern, fordern marokkanische Feministinnen. So kann ein marokkanischer Mann, der eine Frau vergewaltigt hat, bislang seiner Strafe entgehen, indem er das Opfer heiratet. "Es darf nicht sein, dass eine Frau, die vergewaltigt worden ist, dazu gedrängt wird, ihren Vergewaltiger zu heiraten, damit dieser der Strafe entgeht," kritisiert Atifa Timdjerdine.

Atifa Timjerdine, marokkanische Frauenrechtsaktivistin; Foto: DW
Dringender Reformbedarf: Die marokkanische Frauenrechtlerin Atifa Timdjerdine kämpft für eine Änderung des Strafrechts: "Es darf nicht sein, dass eine Frau, die vergewaltigt worden ist, dazu gedrängt wird, ihren Vergewaltiger zu heiraten, damit dieser der Strafe entgeht!"

​​Aus Sicht unabhängiger Ärzte und Frauenrechtsaktivistinnen muss auch das Abtreibungsrecht dringend überarbeitet werden. Bislang darf in Marokko eine Schwangerschaft legal nur dann abgebrochen werden, wenn unmittelbare Gefahr für das Leben der Mutter besteht. Eine Vergewaltigung ist kein Abtreibungsgrund. Ärzte, die betroffenen Frauen dennoch helfen, müssen mit jahrelangen Haftstrafen rechnen.

Ein weiteres heißes Eisen ist die Situation unverheirateter Mütter und ihrer Kinder. Sie sind in Marokko keine Randgruppe: Laut einer Studie der unabhängigen Hilfsorganisation INSAF sollen in Marokko allein zwischen 2003 und 2009 rund eine halbe Million Kinder außerehelich geboren worden sein. Die Gesamtzahl unehelicher Kinder wird auf über eine Million geschätzt.

Da in Marokko Sex außerhalb der Ehe strafbar ist, gelten Kinder aus solchen Beziehungen offiziell als "Kinder der Sünde". Und nicht nur das: Ein archaisch anmutendes Gesetz aus dem Jahr 1983 ermöglicht es den marokkanischen Gerichten, dem biologischen Vater die Anerkennung der Vaterschaft zu verbieten – selbst wenn der Vater dazu bereit ist.

Die Vereinigung "Frauensolidarität" (Solidarité Féminine), die in Casablanca eine Anlaufstelle für ledige Mütter und ihre Kinder unterhält, erlebt tagtäglich die Folgen dieser Ausgrenzung.

"Es ist sehr ungerecht den Kindern gegenüber", kritisiert die Gründerin Aicha Chenna. "Wir hatten hier jüngst den Fall eines jungen Mannes, dessen Mutter nicht verheiratet war. Er hatte das Abitur gemacht, studierte Jura im zweiten Jahr und wollte in den Polizeidienst eintreten. Die Eignungstests bestand er ohne Probleme, doch als er den Personalbogen ausfüllen wollte, wurde er nach dem Namen des Großvaters gefragt. Er sagte: Ich weiß den Namen meines Großvaters nicht, denn meine Mutter ist nicht verheiratet. Damit war seine Bewerbung gelaufen."

Aicha Chenna, Gründerin der Frauenorganisation Solidarité Féminine; Foto: DW
Gegen die konservativ-islamische Agenda der Regierungskoalition: Aicha Chenna, Sozialarbeiterin und Gründerin der Frauenorganisation Solidarité Féminine, engagiert sich für ledige Mütter und ihre Kinder die von der Gesellschaft geächtet werden.

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Verpasste Verfassungsreform

Hunderttausende uneheliche Kinder ohne volle Bürgerrechte, Abtreibungsverbot trotz Vergewaltigung: der Reformstau ist groß. Und Aicha Chenna ist skeptisch, dass diese heißen Eisen in naher Zukunft angepackt werden. Nicht nur, weil die Regierungskoalition aus Islamisten und Nationalisten eine konservativ-islamische Agenda verfolgt.

Für Aicha Chenna ist das Problem grundsätzlicher Natur. Sie meint, dass in Marokko endlich Religion und Staat getrennt werden müssten. Bei der jüngsten Reform der marokkanischen Verfassung im Sommer 2011 habe man trotz mancher Fortschritte diesen wesentlichen Punkt verpasst, kritisiert die 70-Jährige:

"Die Demagogen behaupten, dass diejenigen, die die Trennung von Religion und Staat fordern, die Religion zerstören wollten. Mir ist schleierhaft, wie gebildete Menschen solch einen Unsinn glauben können. Dass Staat und Religion getrennt werden, bedeutet doch nur, dass jeder selbst seine Religiösität nach seiner Auffassung leben kann." Aicha Chenna hofft, dass es eine starke Opposition geben wird.

Autorin: Martina Sabra

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de