Solidarität ist die Lösung!

Frauen sind seit Monaten die treibende Kraft hinter den gesellschaftspolitischen und sozialen Protesten im Libanon. Sie kämpfen für die Rechte aller Menschen im Libanon – ob für Frauen, Minderheiten, Geflüchtete oder Migranten. Aus Beirut informiert Julia Neumann.

Von Julia Neumann

"Nichts wird unsere Entschlossenheit und unser Engagement stoppen können", schrieben Libanons Feministinnen am vergangenen Samstagabend selbstbewusst auf Facebook und sagten damit den jährlichen Demonstrationszug zum internationalen Frauentag im Libanon offiziell ab. Ein Stab des Ministeriums hatte zuvor angeordnet, kulturelle Veranstaltung aufgrund des Coronavirus abzusagen.

Doch das heißt nicht, dass Frauen im Libanon still schweigen, wenn es um ihre Rechte geht. Ganz im Gegenteil: Bis heute gehen sie für ihre Rechte lautstark auf die Straße. Seit dem 17. Oktober 2019 protestieren sie gegen die korrupte Politik, die das Land an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht hat.

Das sollte nicht ohne Wirkung bleiben: Ende letzten Oktober trat Ministerpräsident Saad Hariri zurück. Mittlerweile hat sich eine neue Regierung gebildet – wenn auch mit engen Verbindungen zur alten Riege. Die Zahl der Protestierenden ist zwar zurückgegangen, doch feministische Gruppen sind weiterhin aktiv im Kampf für die Rechte aller Menschen im Libanon – ob LGBT, Geflüchtete oder Migranten.

Protest für die Rechte aller Benachteiligten Gruppen

"Viele Leute, die mit Megafonen auf der Straße sind, haben einen feministischen Hintergrund", berichtet Roula Seghaier, eine feministische Aktivistin aus Beirut. "Wir mobilisieren jedes Jahr zum Weltfrauentag, doch seit einiger Zeit sind viele von uns in die Organisation von Protesten involviert. Wir organisieren Demonstrationen und Kundgebungen, um unsere Rechte und die Rechte vieler anderer, weniger sichtbarer Communities im Libanon einzufordern."

Ob bei Straßenblockaden, Streiks von Juristen, Ärzten oder Studierenden – Frauen machten von Anfang an einen großen Teil der libanesischen Protestbewegungen aus. Doch noch nie zuvor waren die libanesischen Frauen so politisch aktiv wie heute. Wochenlang sammelten sie nach den Demonstrationen den entstandenen Abfall auf, sprühten Graffitis an die Wände, klopften mit Löffeln auf Töpfen, um Lärm zu machen und ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Und auch fünf Monate nach Beginn der Aufstände gegen die Regierung organisieren sie noch immer offene Diskussionen, Protestmärsche und Solidaritätsveranstaltungen.

Die Frauenrechtsaktivistin Roula Seghaier (l.v.m.) bei einer Demonstration in Beirut; Foto: Julia Neumann
„Wir versuchen die Stimmen derer, die normalerweise nicht beachtet werden, öffentlich hörbar zu machen“, berichtet die Frauenrechtsaktivistin Roula Seghaier. Wer die Einheit aller Libanesen unter einem Banner fordere, müsse alle gesellschaftlichen Gruppen einschließen. „Jedes Anliegen ist wichtig und die Lösung heißt: Solidarität."

"Viele Anwälte haben angeboten, den Frauen, die während der Revolution belästigt oder misshandelt wurden, zu helfen", berichtet die 22-jährige Frauenaktivistin Paula Moussallem. "Das ist eine großartige Initiative. Doch mit diesen Kämpfen haben Frauen täglich zu kämpfen. Sie werden missbraucht, verletzt und belästigt. Doch juristische Hilfe ist teuer und für viele damit nicht zu finanzieren."

Folgenreicher Leistentritt

Den Mut der Frauen honorierten viele Mitstreiterinnen im Libanon mit einem Marsch, bei dem sie gegen sexuelle Belästigung, häusliche Gewalt und für die Selbstbestimmung der Frau protestierten. Zum Symbol dieses Proteste avancierte eine recht taffe Frau: Als der Bildungsminister von Protestierenden umringt wurde, feuerte sein Bodyguard mit einem Gewehr in die Luft. Malak Alaywe Herz versetzte ihm daraufhin einen gekonnten Tritt in seine Leiste. Ein Video dieser Szene und Illustrationen des Tritts gingen viral. Alaywe Herz muss sich nun für diesen Tritt vor einem Militärgericht verantworten.

Die Proteste gegen das korrupte politische System haben vor allem feministische Aktivisten von Beginn an mit dem Kampf nach gleichen Rechten für Frauen, Minderheiten und Migranten verknüpft. Bis heute machen sie sich beispielsweise dafür stark, dass Frauen ihre Nationalität an ihre Kinder weitergeben können. Dies ist im libanesischen Gesetz bislang immer noch nicht vorgesehen, und es trifft insbesondere Kinder von syrischen oder palästinensischen Vätern hart, die aufgrund diskriminierender Arbeitsregelungen nicht arbeiten dürfen und nicht versichert sind.

Auch richten sich die Proteste der Frauen gegen Rassismus, und sie fordern Gerechtigkeit für migrantische Arbeiter und Arbeiterinnen. Darüber hinaus setzen sie sich für ein rasches Ende des sogenannten Kafala-Systems im Libanon ein, das es erlaubt, Haushälterinnen aus dem Ausland den Pass abzunehmen und sie auszubeuten.

Den Nicht-Gehörten eine Stimme verleihen

"Wir versuchen die Stimmen derer, die normalerweise nicht beachtet werden, öffentlich hörbar zu machen", berichtet die Frauenrechtsaktivistin Roula Seghaier. Wer die Einheit aller Libanesen unter einem Banner fordere, müsse alle gesellschaftlichen Gruppen einschließen. "Jedes Anliegen ist wichtig und die Lösung heißt: Solidarität."

Die Geschichte der Frauenrechtsbewegung im Zedernstaat ist lang. 1943 gingen sie auf die Straße, um die Unabhängigkeit von Frankreich zu fordern. 1953 erstritten sie das Wahlrecht und nach dem Ende des fünfzehnjährigen Bürgerkrieges erkämpften sie sich im Jahr 1994 das Recht, ohne Zustimmung des Ehemannes auch ins Ausland reisen zu dürfen.

An diese Errungenschaften knüpfen Libanons Frauen mit ihren Protesten an. Vor allem heute ist ihr Kampf für Emanzipation und gleiche politische Rechte mehr denn je vonnöten. Nicht zuletzt, weil sich die wirtschaftliche Situation im Land zuletzt dramatisch verschlechtert hat.

Und die anhaltende ökonomische Krise im Libanon trifft vor allem auch die Frauen, meint die 28-jährige Aktivistin Alexandra Warde: "Es gibt in dieser Hinsicht viele Themen, die wir angehen müssen. Wir haben geringere Einkommen als Männer, aber sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als sie. Und wir werden in vielen Berufen noch immer nicht ernst genommen, sind in vielen Professionen und in der Politik unterrepräsentiert. Aber auch wenn es hundert Jahre dauern sollte – wir werden nicht still halten und auf die Missstände weiterhin aufmerksam machen."

Julia Neumann

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