Das Kopftuch sitzt nicht mehr

Erst kämpften die Frauen in der Türkei dafür, ihr Haar zu verhüllen, jetzt legen sie das Tuch wieder ab. Im 17. Jahr der Erdoğan-Herrschaft gerät einiges ins Rutschen - auch die Annahme, die türkische Gesellschaft werde immer konservativer. Von Christiane Schlötzer

Von Christiane Schlötzer

Als die Türkin Lefife Ünal jüngst zwei Fotos auf Twitter stellte, bekam sie zur Antwort, sie solle "zur Hölle fahren". Ünal hat zwei Selbstporträts gepostet, das eine zeigt sie mit Kopftuch, auf dem anderen trägt sie ihr langes schwarzes Haar offen, mit der rechten Hand macht sie das Victory-Zeichen. Dazu schrieb sie: "Ihr werdet akzeptieren und respektieren müssen, dass Frauen so sind, wie sie sein wollen, und nicht so, wie ihr es wollt." 10.000 Likes bekam sie auch für diesen Tweet. Und sie wurde bewundert für ihren "Mut".

"Ich war überrascht", sagt Ünal, "ich war ja nicht besonders aktiv auf Twitter." Ünal nippt an einem Tee, in einem Café, das an einen amerikanischen Diner erinnert, wenn man sich die Wasserpfeife am Nebentisch wegdenkt, und die Umgebung. Bağcılar ist ein Istanbuler Stadtbezirk, der so konservativ ist wie die Menschen, die vor Jahrzehnten zuwanderten, viele aus der Schwarzmeerregion.

"Ich bin in einem Dorf bei Samsun geboren, da trugen alle Frauen Kopftuch", sagt Ünal. "Mit Kopftuch hat das Leben Grenzen, du kannst nicht tanzen, keine Hosen tragen, keinen Lippenstift." Ünals Lippen sind rot geschminkt, sie trägt einen schwarzen Rollkragenpulli zur Jeans.

Zäsur im Umgang mit dem Kopftuch

Noch vor ein paar Jahren haben Frauen in der Türkei dafür gekämpft, ihre Haare bedecken zu dürfen. An Universitäten und in staatlichen Ämtern war das verboten. Das Militär und die säkulare Partei CHP, die sich auf Republikgründer Kemal Atatürk beruft, wachten darüber, dass es so blieb.

Erst Recep Tayyip Erdoğan schaffte die Verbote nach und nach ab, so hatte er es seinen konservativen Wählern versprochen: erst 2008 an den Unis, 2013 dann im Staatsdienst.

Zwei fotografische Selbstporträts der Türkin Lefife Ünal; Quelle: Twitter
Mal mit, mal ohne Kopftuch - zwei fotografische Selbstporträts der Türkin Lefife Ünal: "Ihr werdet akzeptieren und respektieren müssen, dass Frauen so sind, wie sie sein wollen, und nicht so, wie ihr es wollt", so die Türkin Lefife Ünal.

Erdoğans Töchter hatten davor noch in den USA studiert, mit Kopftuch. Er wünsche sich eine "religiöse Generation", sagte Erdoğan. Als die ersten "bedeckten" Frauen in den eleganten Istanbuler Malls auftauchten, waren andere Kundinnen pikiert.

Denn Mädchen und Frauen mit Kopftüchern gehörten davor überwiegend zur Unterschicht. Das ist nicht mehr so. Doch nun, im 17. Jahr der Erdoğan-Herrschaft, gerät einiges ins Rutschen - auch die Annahme, die türkische Gesellschaft werde immer konservativer.

Lefife Ünal ist nicht die einzige Frau, die jüngst ein Doppelporträt gepostet hat. Es gibt eine kleine Bewegung, sie läuft in der Türkei unter den Hashtags #10YearsChallenge, #1YearChallenge und #YalnizYueruemeyeceksin (Du wirst nicht allein gehen).

"Ich bin immer ich"

"Drei Jahre lang", sagt Ünal, habe sie sich mit der Frage gequält, ob sie das Tuch abnehmen soll, das sie mit 19 anlegte, weil ihre Familie es so wollte. Nun ist sie 30. Der Familie klarzumachen, "dass mein Innerstes nicht zu meinem Äußeren passt", war schwer. "Wir haben uns gegenseitig das Herz gebrochen." Inzwischen hätten die Eltern ihren Schritt akzeptiert. Als sie auf Twitter gefragt wurde, ob die beiden Fotos wirklich dieselbe Person zeigen, antwortete sie: "Ich bin immer ich."

Das renommierte Forschungsinstitut Konda hat 2018 herausgefunden, dass 93 Prozent der 15- bis 29-jährigen Türken soziale Medien nutzen. "Unsere Eltern sind mit Fernsehen und Zeitungen aufgewachsen, da war ihre Meinung nicht gefragt, bei unserer Generation ist das anders", sagt Ünal, nimmt ihr Handy und klickt sich durch ihr Instagram-Profil.

Büşra Cebeci hat ihre eigene Geschichte auch geteilt; die Journalistin war eine Pionierin der neuen, jungen Frauenbewegung. Schon 2018 hatte sie ein paar Artikel über weibliche Gewissenskonflikte rund um Religion und Familie geschrieben, aber so richtig bekannt wurde das erst, als sie ihre Fotos über Twitter teilte. "Männer haben mir gesagt, nimm das Tuch ab, aber schweig", sagt Cebeci. Genau das will sie nicht. Cebeci ist 25, sie arbeitet bei einer kleinen Istanbuler TV-Station.

Nach einer Sendung kommt sie müde aus dem Studio, aber sie will erzählen, von den vielen anderen Frauen, die sich bei ihr gemeldet haben. Von der Türkin, die auf den Istanbuler Galataturm stieg, nur um oben den Wind in den Haaren zu spüren. "Unten hat sie ihr Kopftuch wieder aufgesetzt." Von der anderen, die Fotos vor dem Spiegel machte, das Gesicht geschminkt, die Haare offen, und ihr sagte: "So kann ich nicht aus dem Haus gehen."

Gerade ältere konservative Frauen, die der AKP glaubten, als die von Frauenrechten sprach, seien enttäuscht, sagt Cebeci. "In den letzten Jahren ist die Gewalt gegen Frauen gestiegen, und die Männer in der Partei ignorieren das." Diese Frauen fühlten sich nicht ernst genommen, "die Männer sehen das Kopftuch, und für sie gibt es keine Frau darunter".

Aus Angst vor Angriffen nutzen viele Frauen Fantasienamen im Netz. Zum Beispiel "Nurş": Sie verrät am Telefon, dass sie Zahnärztin in Ankara ist. Sie wurde grob beschimpft, und als auch Frauen, die sie verteidigten, beleidigt wurden, löschte sie ihren Bekenntnis-Tweet. Dann stellte sie ihn doch wieder ins Netz. Sie sagt: "Es ist wichtig, sichtbar zu werden und andere zu ermutigen."

Offizielle Zurückhaltung wegen anstehender Wahlen

Es mögen letztlich nur wenige Frauen sein, die sich in die Öffentlichkeit wagen, aber zu übersehen sind sie nicht. Sogar das staatliche Religionsamt reagierte, erstaunlich milde: Ayşe Sucu, für Frauenfragen zuständig, erklärte: "Die Bedeckung" gehöre nicht zu den fünf Grundpfeilern des Islam. Nicht alle Gläubigen sehen das so locker. "Allah soll sie heilen", musste eine Frau zu ihren Vorher-Nachher-Fotos lesen, eine andere: "Du hast Deinen Heiligenschein verloren."

Die offizielle Zurückhaltung - auch in regierungsnahen Medien - hat womöglich mit der nahen Kommunalwahl zu tun. Für Erdoğans AKP stimmten gewöhnlich mehr Frauen als Männer. Umfragen sagen der AKP schon Stimmverluste voraus, vor allem wegen der Wirtschaftskrise. Die spüren die Ärmeren stärker als die Reichen.

Auch hört man Klagen über reich gewordene Parteikader, der Islam schreibt Bescheidenheit vor. Erdoğan wiederum lässt nicht erkennen, dass er vom konservativen Kurs abweichen will: Vor einer Weile ermahnte er das staatliche religiöse Personal, Frauen und Kinder zum Moscheebesuch zu motivieren.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ; Foto: Reuters
Wünscht sich eine "religiöse Generation": Recep Tayyip Erdoğan schaffte die Kopftuchverbote Atatürks nach und nach ab: erst 2008 an den Unis, 2013 dann im Staatsdienst. Doch nun, im 17. Jahr der Erdoğan-Herrschaft, gerät einiges ins Rutschen - auch die Annahme, die türkische Gesellschaft werde immer konservativer.

Frauen, die ihr Kopftuch ablegen, irritieren aber auch die Säkularen, weil hier nichts zum Klischee passt. Weil diese Frauen "nicht gleich zum Atatürk-Mausoleum rennen", wie der Romanautor Ümit Kıvanç schrieb, der die Spaltung der Gesellschaft beklagt, die fast unüberwindbar zu sein scheint. Deshalb geben konservative Frauen, ob mit oder ohne Kopftuch, auch selten ihre Stimme der CHP.

Furcht vor freien Frauen

Die Journalistin Cebeci sagt: "Freie Frauen, das erschreckt viele." Sie will klarstellen: "Ich bin auch gegen Kopftuchverbote." Jede Frau soll nur selbst entscheiden können. Liberale Feministinnen hatten einst auch dafür plädiert, dass Frauen in der Türkei mit Kopftuch studieren dürfen.

Cebeci und die anderen wurden deshalb gefragt, ob sie vergessen hätten, wie man Studentinnen in den Neunzigerjahren in sogenannte Überzeugungsräume zwang, wo sie ihr Haupt entblößen mussten. Eine der Antworten lautete: "Damals haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit noch Tom und Jerry geschaut."

Vor zehn Jahren, hat das Institut Konda festgestellt, trug jede zweite 15- bis 29-Jährige Türkin kein Kopftuch, heute sind es 58 Prozent. "Meine Schöne", schrieb eine Frau an Lefife Ünal, "sich zu bedecken ist kein Gesetz Gottes, es ist eine Tradition, Du kannst ganz beruhigt sein." Ünal hat ihren richtigen Namen benutzt. Sie hat, als das zweite Foto entstand, in einer Textilfabrik gearbeitet, jetzt will sie studieren, "vielleicht Psychologie", sagt sie und schiebt das leere Teeglas weg.

Eine 18-Jährige aus der Kurdenstadt Diyarbakır hat sie schon um Rat gefragt: Sie wollte ihr Tuch ablegen, habe aber Angst vor ihren Brüdern. "Heute hat sie mich angerufen, sie hat mit ihrer Mutter gesprochen, es war gar nicht so schwer."

Ünal sagt: "Ich wollte andere unterstützen, deshalb habe ich meine Bilder veröffentlicht."

Christiane Schlötzer

© Süddeutsche Zeitung 2019