Verliert Frankreich seinen "Hinterhof" in Nordafrika?

Mit Unbehagen blickt Frankreich auf die zunehmende Präsenz Chinas und Spaniens im marokkanischen Wirtschaftsleben, ist es doch dabei, seinen "Hinterhof" in Nordafrika zu verlieren, nachdem schon sein Einfluss in Tunesien und Algerien spürbar zurückgegangen ist. Von Mohammed Taifouri

Von Mohamed Taifouri

Um die marokkanisch-französischen Beziehungen herrscht seit Monaten ein erbitterter Streit zwischen beiden Staaten, der sich in den letzten Wochen zu einer Art "Kaltem Krieg" ausgeweitet hat. Dieser tobt entlang mehrerer Frontlinien: der politischen, der diplomatischen, der wirtschaftlichen, ja sogar der medialen.

Mittlerweile zeichnet sich immer deutlicher ab, um welche Aspekte es der jeweiligen Seite geht und welche Rückschlüsse sich daraus für die derzeitige tiefe Krise zwischen den beiden Ländern ergeben.

Frankreich spürt, dass es dabei ist, einen weiteren "Hinterhof" in Nordafrika zu verlieren, nachdem es 2019 infolge der Wahl von Kais Saied zum Präsidenten der Republik bereits Tunesien verloren hat, und nachdem auch Algerien im Zuge der Aufstandsbewegung und der dahinterstehenden gesellschaftlichen Umbrüche im Land seiner Hegemonie entglitten ist.

Diese Entwicklungen haben bei den Entscheidungsträgern in Paris den dezidierten Wunsch geweckt, wenigstens das "Protektorat" Marokko zu behalten, um so seinen kolonialen Einfluss vom mediterranen Raum bis tief hinunter ins subsaharische Afrika aufrecht zu erhalten.

Die Franzosen haben alle ihnen zur Verfügung stehenden Druckmittel ausgespielt, um die Führung in Rabat dazu zu zwingen, ihnen im Königreich auch weiterhin wirtschaftliche Privilegien zu gewähren. Erst recht, da die nüchternen Zahlen der Bilanzen eine klare Sprache sprechen: Der französische Einfluss in Marokko ist in einem deutlichen Rückgang zugunsten regionaler Akteure wie Spanien oder internationaler Großmächte wie China begriffen.

Ursachen für den festgefahrenen Konflikt

Marokkos König Mohammed VI. und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Einweihung des Hochgeschwindigkeitszug "Al Boraq" in Tanger am 15. November 2018; Foto: Balkis Press/ABACAPRESS.COM
Macrons Investitionsprojekte im Hintertreffen: Frankreich ist ungehalten darüber, dass sich hinsichtlich des Zuschlags für das geplante Schnellzugprojekt zwischen Marrakesch und Agadir die Waagschale immer mehr zugunsten Chinas neigt, nachdem Peking ein um etwa 50 Prozent günstigeres Angebot unterbreitet hat als Paris.

Die diplomatischen Verkrampfungs- und Austrocknungserscheinungen zwischen den beiden Ländern haben für viele Beobachter eine klare Ursache: Frankreich ist ungehalten darüber, dass sich hinsichtlich des Zuschlags für das geplante Schnellzugprojekt zwischen Marrakesch und Agadir die Waagschale immer mehr zugunsten Chinas neigt, nachdem Peking ein um etwa 50 Prozent günstigeres Angebot unterbreitet hat als Paris. Zudem geht die Sorge um, China habe ein zunehmendes Interesse daran, den Zuschlag für den zweiten Abschnitt der Verlängerung der Hochgeschwindigkeitsstrecke (TGV) zwischen Casablanca und Marrakesch zu erhalten.

Das wäre eine elementare Bedrohung für Frankreichs traditionelle Monopolstellung auf dem Schienentechnologiemarkt. Diese hatte sich im Jahr 2007 konsolidiert, nachdem die Ausführung des ersten Abschnitts des Hochgeschwindigkeitsprojekts (Tanger – Casablanca) an den französischen Alstom-Konzern gegangen war. Auftragsvolumen: 4 Milliarden US-Dollar! Damit sollte Paris dafür entschädigt werde, dass es seine Zusage für den Kauf französischer Kampfflugzeuge zugunsten des Kaufs US-amerikanischer Flugzeuge zurückgezogen hatte.

Schleichend hat sich der chinesische Drache daran gemacht, dem französischen Hahn dessen vermeintlichen Privatbesitz wegzufressen. Die erste Runde im Kampf um den Schienensektor wurde im März 2017 eingeläutet, als es den Chinesen gelang, das Projekt zum Bau der sogenannten "Tanger Tech City" – auf einer Fläche von 1.000 Hektar – an Land zu ziehen. Es wird erwartet, dass dieser gigantische Technologiepark an der Nordspitze Marokkos Platz für die Ansiedlung hunderter chinesischer Unternehmen bieten und zu einer Ausgangsbasis werden wird, von der aus China zur Eroberung der afrikanischen und europäischen Märkte ansetzen kann.

Zum anderen blickt Frankreich mit Unbehagen und Beklemmung auf die zunehmende spanische Präsenz in Marokko, durch die ihm bereits wichtige Märkte in einer Reihe von Branchen verloren gegangen sind. In der Tat sind spanische Konzerne gerade dabei, das Königreich regelrecht zu infiltrieren. So ist etwa der öffentliche Nahverkehr in den Städten Marrakesch, Tanger, Agadir und Khouribga der spanischen ALSA-Gruppe zugeschlagen worden. Im vergangenen Jahr hat diese ihren Expansionskurs fortgesetzt und weitere marokkanische Städte ihrem Portfolio hinzugefügt, an erster Stelle die Hauptstadt Rabat, Salé und den Großraum Casablanca. Damit gelingt es Spanien schon seit Jahren, seine Spitzenposition als wichtigster Handelspartner Marokkos zu behaupten.

Marokko als größter Investor in Westafrika

Frankreich hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sich Marokko – mit seiner strategisch wichtigen Position auf dem afrikanischen Kontinent – zurückzuholen, fühlt sich aber angesichts Marokkos schleichender Emanzipation von Frankreich betrogen. So hat sich das Königreich inzwischen zum größten Investor in Westafrika und zum zweitgrößten auf dem ganzen Kontinent gemausert. Dadurch ist es zu einem Einfallstor geworden, an dem niemand mehr vorbeikommt, der sich Zugang zu den afrikanischen Märkten verschaffen will.

Vor diesem Hintergrund tut Präsident Macron alles, um nicht von den Privilegien jenes Protektoratsverhältnissen lassen zu müssen – gerade zu einem Zeitpunkt, wo seine Popularität auf einen historischen Tiefststand gefallen ist. Eine regelrechte Schlacht ist entbrannt und hat einen Konflikt mit erstarrten Fronten nach sich gezogen, in dem Frankreich alle möglichen Erpressungsmethoden zum Einsatz bringt, um Marokko dazu zu bewegen, seine Positionen aufzugeben.

Anzeichen für einen "Kalten Krieg"

Frankreich hat seinen Druck auf Marokko in einem Maße verstärkt, dass die festgefahrene Krise zu einer Dauerinszenierung mit immer neuen Akten geworden ist. So fahren die französischen Medien – die regierungsnahen wie auch die unabhängigen, einschließlich derer, die Rabat gegenüber konziliant eingestellt sind – eine anti-marokkanische Kampagne, im Zuge derer sämtliche Probleme und Themen ins Scheinwerferlicht gezerrt werden, welche in Marokko auf der Tagesordnung stehen (Rif-Bewegung, Pressefreiheit, gesellschaftlicher Reformstau, Menschenrechte…). Der letzte Akt in diesem Spiel war ein Interview der französischen Nachrichtenagentur AFP mit Aminatou Haidar, die den Beinamen "Gandhi der Westsahara" trägt.

Im Zusammenhang mit der Westsahara-Problematik fiel zum ersten Mal in der Geschichte das traditionelle Treffen der beiden Außenminister am Rande der UNO-Vollversammlung aus. Gleichzeitig verpuffte der Eifer, mit dem Frankreich bisher in der Westsahara-Frage einen pro-marokkanischen Standpunkt vertreten hatte.

Ebenso wenig Engagement zeigte Frankreich bei der Suche nach einem Ersatz für Horst Köhler, den vor einen Monaten zurückgetretenen Westsahara-Sondergesandten der Vereinten Nationen. Im Kontrast dazu trat der spanische Ministerpräsident in einem historischen Schritt vor die UNO-Vollversammlung und machte sich für eine politische Lösung der Westsahara-Frage stark. Es war das erste Mal, dass ein spanischer Ministerpräsident die beiden Schlagworte "Referendum" und "Selbstbestimmung" vermied.

[embed:render:embedded:node:14442]Die Angriffe Frankreichs gegen Marokko gingen so weit, dass inzwischen auch die Wirtschaft vom Kampfgeschehen betroffen ist. So forderte der französische Wirtschaftsminister die Wiederansiedlung der aus Frankreich ausgelagerten Unternehmen.

Nach seinen Worten stellten französische Autofabriken in Marokko ein "gescheitertes Investitionsmodell" dar, welches revidiert werden müsse. Es sei nicht sinnvoll, an einem Modell festzuhalten, bei dem die in Frankreich meistverkauften Automodelle außerhalb des Landes produziert würden. Er forderte die beiden großen französischen Automobilkonzerne auf, mit diesen für die französische Wirtschaft zerstörerischen Strategien zu brechen.

Paris spielt außerdem die Karte des politischen Asyls aus, um Rabat dazu zu drängen, seine Positionen zu revidieren. In einem Schnellverfahren wurden, zur Überraschung der marokkanischen Behörden, die Asylanträge zahlreicher Journalisten, Aktivisten und Oppositionellen positiv beschieden. Zuvor hatte Frankreich Seite an Seite mit Spanien eine harte Linie gegenüber marokkanischen Asylbewerbern verfolgt. Der Richtungswechsel bedeutet eine implizite Kritik an der Politik des Landes im Bereich Meinungsfreiheit und Menschenrechte.

Bedingungen für einen Akt der Selbstbefreiung

Die Entscheidungsträger im heutigen Marokko sind sich bewusst geworden, was für ein Fehler es war, das französische Bildungssystem zu übernehmen. Denn es ist nur zu offensichtlich, dass Paris niemals seinen kolonialistisch gefärbten Blick auf Marokko ablegen wird. Der Kompass der ökonomischen Interessen ist das einzig relevante Richtmaß für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, ungeachtet jedweder Ideologie, ob rechter oder linker.

Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass Frankreich in seinen Beziehungen mit Algerien und Marokko jeweils eine Äquidistanz einhält, was es ihm ermöglicht, einen Drahtseilakt zu vollführen und beide Seiten gleichermaßen mit dem Thema Westsahara zu erpressen.

Der Moment ist für Marokko günstiger als je zuvor, sich aus dem Korsett Frankreichs zu befreien, welches von Erschütterungen im Inneren heimgesucht wird, nachdem sein Einfluss im Ausland zurückgegangen ist.

Doch für einen solchen Akt der Selbstbefreiung wäre es erforderlich, die Reihen zu schließen und die Fronten im Inneren zu glätten, indem man den Spielraum an politischen Freiheiten ausweitet, die Demokratie festigt, die um sich greifende Korruption bekämpft und die soziale Gerechtigkeit stärkt.

Leider sind diese elementaren Bedingungen, um dem Prozess der Selbstbefreiung zum Durchbruch zu verhelfen, im heutigen Marokko nicht gegeben.

Mohammed Taifouri

© Qantara.de 2020

Aus dem Arabischen von Rafael Sanchez