Zurück zu den Wurzeln

In seinem neuen Roman schickt Fouad Laroui seinen Helden auf die Suche nach seinen traditionell-arabischen Wurzeln, denen er als Ingenieur in Casablanca längst entwachsen schien. Doch bald gerät er in Konflikt mit politisch-religiösen Parteien, die ihn zu einer Entscheidung zwischen Fortschritt und Tradition zwingen wollen. Von Volker Kaminski

Von Volker Kaminski

Auf dem Foto, das den Umschlag seines Romans ziert, blickt uns Fouad Laroui mit schalkhafter Miene an, ein fast jugendlich wirkendes Gesicht mit leicht angegrauten Schläfen und einem hintersinnigen Lächeln. Ein humoristisch-verschmitzter Erzählton prägt seinen Roman von der ersten Zeile an. Nicht umsonst hat der Autor einen etwas altertümlichen Titel gewählt und Adams Leidensgeschichte als moderne Abenteuerchronik und zeitgenössische Variante des Don Quixote angelegt.

Ausgerechnet in 30.000 Fuß Höhe während eines Überschallflugs mit der Lufthansa ereilt seinem Romanhelden Adam die Erkenntnis, dass sein gehetztes Ingenieursleben falsch ist. Die Erinnerung an den Großvater, der zeit seines Lebens Philosophie trieb und mittelalterliche arabische Traktate las, und an den Vater, der ein Bauer war und nie ein Auto besaß, erscheint ihm plötzlich wie eine Mahnung an sein in zeitgemäßer Hektik und materialistischer Leere verfliegendes Vertreterleben. Seine Sehnsucht nach "Entschleunigung" wird zur Obsession und erweist sich als stärker als die modernen Vorzüge, die er als gut verdienender Großstädter bis dahin genossen hat.

Nach Casablanca heimgekehrt teilt Adam seiner Frau mit, dass er vor hat, seiner Firma zu kündigen und aus dem reichen Viertel Casablancas wegzuziehen. Seine Frau reagiert entsetzt, schickt ihn umgehend zu einem Psychiater und flieht zu ihrer Mutter.

Ausstieg und Entschleunigung

Man merkt dem Autor an, welches Vergnügen ihm das Aussteiger-Experiment mit allen ruinösen Folgen für Adams bürgerliche Existenz bereitet. Wer außer Adam Sijilmassi käme auf die Idee den Heimweg vom Flughafen in die Stadt Casablanca zu Fuß anzutreten? Natürlich halten unterwegs jede Menge Taxis neben ihm am Straßenrand und bieten ihm an einzusteigen, doch Adam schickt sie fort, um sich schließlich auf einen vorbeifahrenden Eselskarren zu schwingen. Auf diese Weise stimmt er sich auf sein zukünftiges Leben auf dem Land ein.

Doch es ist nicht nur der Wunsch nach Drosselung des Lebenstempos, nach Bilanz und Ruhe, was die Identitätskrise des Ingenieurs auslöst. Sein Drang ganz neu anzufangen hat vor allem mit seiner westlichen Prägung zu tun, die ihm in seiner "Epiphanie" im Flugzeug schlagartig als unpassend und falsch vorkommt. Adam hat die für einen marokkanischen Akademiker typische Sozialisation durchlaufen, die nicht erst mit dem Besuch des französischen Gymnasiums beginnt, doch in der Schule die entscheidende Weichenstellung erfährt.

Buchcover Fouad Laroui: "Die Leiden des letzten Sijilmassi" im Merlin Verlag
Fouad Larouis "Die Leiden des letzten Sijilmassi" ist ein unterhaltsamer, humorvoller Roman, der den Leidensweg eines zwischen den Traditionen verirrten Mannes in der Midlife-Krise aufzeigt, dem am Ende klar wird, dass er sich niemals einer Sekte anschließen könnte und der es für ein "Glück" hält, ebenso Don Quixote wie Ibn Rushd zu lesen.

Adams Beschäftigung mit französischen Autoren und anderer westlicher Literatur und Philosophie, die ihn in besonderer Weise ausmacht – so stark, dass er mitunter bloß noch in Zitaten aus Büchern Camus', Baudelaires, Voltaires und vieler anderer Autoren denkt – scheint ihm nun plötzlich als ein Verlust, als eine grundsätzliche Verdrängung der anderen Seite seiner Existenz, eben der Welt seines Vaters und Großvaters.

Sehnsucht nach der Epoche des Vaters

Dieser Identitätskonflikt, der typisch scheint für viele Menschen im postkolonialen Zeitalter der arabischen Welt (und insbesondere für Marokko), wird durch Laroui beispielhaft und quasi sinnbildlich an seiner Hauptfigur durchexerziert. Dabei weicht Laroui auch den Widersprüchen nicht aus, die sich bei einem Befreiungsschlag à la Adam ergeben. Dem Psychiater erklärt Adam: "Ich lehne den Westen nicht ab, weder im Großen noch im Kleinen (…) Man kann Milliarden von Menschen nicht mit Hacke und Spaten ernähren. Zugleich habe ich dennoch Sehnsucht nach der Epoche meines Vaters und meines Großvaters (…) Mir scheint, als entspräche sie eher dem, was ich wirklich bin."

Als er im Dorf seiner Kindheit ankommt, kann er diese Sehnsucht tatsächlich eine Weile stillen. Im Haus seiner Tante, einem ländlichen, sehr schlichten "Riad", findet Adam eine Holztruhe mit den Büchern seines Großvaters und versinkt beglückt in den Schriften arabischer Philosophen, die ihm nicht nur beistehen "Voltaire zu vergessen", sondern ihm sogar deutlich machen, dass es eine Epoche gab, in der die orientalischen Denker und Wissenschaftler dem Abendland weit überlegen waren.

Seine Wiederbegegnung mit der arabischen Hochsprache lässt ihn von Cordoba und den Gelehrten des Mittelalters träumen, und er beginnt sich mit einem Vetter vor Ort, einem religiös-traditionalistisch eingestellten Beamten, über theologische Thesen und Vorschriften zu streiten, die beide sehr unterschiedlich auslegen.

Ein augenzwinkerndes Plädoyer für die Freiheit des Geistes

Diese Dialogpassagen gehören zu den Glanzstücken des Romans. Laroui zeichnet die beiden Vertreter getrennter Lager mit viel Humor und großer Anschaulichkeit und er versteht es mit rhetorischem Geschick, geistig-philosophische Gedankengänge in die Streitgespräche der Kontrahenten unterzubringen, die ebenso über die Allmacht Gottes wie über die Heilmittel aus der Hausapotheke oder die wahre Auslegung des Koran und die Worte des Propheten diskutieren.

Doch eine Lösung ist diese Existenz als arabischer Privatgelehrter auf dem Dorf für Adam freilich nicht. Er spürt bald, dass er sowohl von den einfachen Menschen als auch von den staatlichen Repräsentanten, die sich für ihn interessieren, nicht verstanden wird. Und während die Außenwelt sich seiner zu bedienen versucht, ihn zum "Lehrer", ja sogar zu einer Art "Propheten" einer mystisch-laizistischen Bewegung erklären, um ihn politisch für sich zu instrumentalisieren und durch seine Mithilfe die Gemeinderatswahlen zu gewinnen, erkennt Adam, dass er das Erbe der westlichen Aufklärung und sein damit verbundenes modernes Weltbild keineswegs so einfach abschütteln kann.

Ein unterhaltsamer, humorvoller Roman, der den Leidensweg eines zwischen den Traditionen verirrten Mannes in der Midlife-Krise aufzeigt, dem am Ende klar wird, dass er sich niemals einer Sekte anschließen könnte, keiner "Horde von Schreihälsen", und der es für ein "Glück" hält, ebenso Don Quixote wie Ibn Rushd zu lesen. Ein elegantes, augenzwinkerndes Plädoyer für die Freiheit des Geistes.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2017

Fouad Laroui: "Die Leiden des letzten Sijilmassi", Aus dem Französischen von Christiane Kayser, Merlin Verlag, Gifkendorf-Vastorf 2016, 288 Seiten, ISBN-10: 3875363221