Verkehrte integrationspolitische Signale

Erdogans Vorschlag nach Einführung türkischer Gymnasien zielt in die falsche Richtung. Viele Deutschtürken bedauern zwar, dass sie ihre Muttersprache nicht perfekt beherrschen, legen aber größeren Wert auf die deutsche Sprache, um den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Von Fatma Sagir

Kinder mit Migrationshintergrund im Klassenzimmer eines Gymnasiums in Hannover; Foto: AP
Der türkische Vorstoß zur Gründung eigener Gymnasien in Deutschland stößt bei vielen deutschen Politikern auf Ablehnung, da diese eher desintegrierend wirken könnten.

​​ Mit seiner Forderung nach türkischen Gymnasien in Deutschland zeigt Ministerpräsident Erdogan auf beunruhigende Weise, wie die in der Türkei lebenden Türken die "Auslandstürken" sehen.

Denn ihrer Meinung nach sind sie noch immer Gastarbeiter, die einst von den Feldern Anatoliens herbeigeholt wurden, die fern der Heimat, mit geringen Sprachkenntnissen und unter schwierigen sozialen Bedingungen, am Rande der deutschen Gesellschaft leben. Außerdem gehen sie noch immer davon aus, es gäbe noch keine eingebürgerten Türken und der türkische Staat kümmere sich mehr schlecht als recht um die sprachliche Ausbildung der türkischen Schulkinder in Deutschland.

Der türkische Staat bot damals und bietet noch heute einen muttersprachlichen Landeskundeunterricht nach Schulschluss außerhalb des Regelunterrichts an. Die Lehrer waren zu jener Zeit häufig mangelhaft ausgebildet und neigten oftmals zur kemalistisch-nationalistischen Indoktrination, die bei den meisten ihrer Schüler auf Ablehnung oder Unverständnis stieß.

Eindimensionale Bildung

Im deutschen Geschichtsunterricht lernten sie die fatalen Folgen von Personenkult, während im Türkischunterricht der Lehrer ebendiesen propagierte. Ihre Familien entstammten dem ländlichen anatolischen Milieu und begegneten diesen Inhalten mit Skepsis. Vor allem innerhalb der traditionell-religiösen Familien wurde der Kemalismus zumeist abgelehnt. Dennoch schickten viele türkische Eltern ihre Kinder in diesen Unterricht, bot er doch die einzige Möglichkeit, die Muttersprache systematisch zu erlernen.

Die Arbeiterfamilien sprechen bis heute ihre anatolischen Dialekte, nur wenige beherrschen das Hochtürkisch. Weil sich die türkische Sprache in den vergangenen 80 Jahren infolge der von Atatürk angestoßenen Sprachreform einem radikalen Umbruch unterzogen hatte und ständig erneuert wurde, versäumten die "Auslandstürken" große Teile dieser Sprachentwicklung.

Schon nach 50 Jahren Migration sprechen die "Auslandstürken" ein gänzlich anderes Türkisch als die in der Türkei lebenden Türken - eine durchaus natürliche Folge der Migration, der ja beispielsweise auch die deutsche Sprache in den USA ausgesetzt war.

Heute weiß man, dass das sichere Beherrschen der Muttersprache eine wichtige Voraussetzung beim Erwerb der Zweitsprache ist. So zeigen etwa portugiesische Einwandererkinder deutlich höhere Erfolge beim Zweitspracherwerb, da sie beim Erlernen ihrer Muttersprache institutionell besser unterstützt werden.

Dagegen sprechen türkische Kinder, die ihre Muttersprache nur schlecht beherrschen, oftmals auch nur mangelhaft Deutsch. Sie suchen diesen Mangel durch ein hohes Maß an kreativen Sprachschöpfungen zu kompensieren.

Auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis

Das Resultat ist eine "Mischmaschsprache", was jedoch gesellschaftlich nicht besonders angesehen ist. Die Fähigkeit Türkisch zu beherrschen, ruft meist keine Begeisterungsstürme hervor. Kinder von Italienern, Griechen oder Spaniern müssen sich diesbezüglich meist keine Sorgen machen, ganz zu schweigen von den französischen oder amerikanischen Kindern.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: AP
Politische Differenzen mit der deutschen Regierung: Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den jüngsten Vorstoß von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für türkische Gymnasien in Deutschland abgelehnt.

​​ Diese von den Deutschtürken empfundene Abwertung ihrer erweiterten sprachlichen Identität macht sich nun Erdogan zunutze. Dabei ignoriert er, dass es in Deutschland Schulen gibt, die Türkisch als Schulfach anbieten. In einigen Bundesländern - wie z.B. in Baden-Württemberg - ist es möglich, Türkisch als Zweitsprache zu belegen und Prüfungen in diesem Fach abzulegen.

Wenn der türkische Ministerpräsident nun solch eine populistische Forderung äußert, stößt er möglicherweise bei der ersten Generation von Einwanderern auf Sympathie, bei der jüngeren Generation dagegen wohl eher auf Irritation. Die Älteren sind ratlos und besorgt, dass mit der Sprache auch die Erinnerung an die Herkunft verloren gehen könnte.

Gemäß ihrer anatolischen Tradition wird Geschichte mündlich überliefert. So sind sie noch die einzigen, die mit den Enkelkindern in Türkisch kommunizieren, während ihre Eltern mit ihnen Deutsch und Türkisch in verschiedenen Mischformen sprechen.

Erdogan machte zuletzt immer wieder deutlich, dass die Türkei sich angeblich um jeden einzelnen Auslandstürken kümmere - vor allem dann, wenn die deutsche Politik dies versäumt habe. Erdogan suggeriert jenen Türken, die in Deutschland zwar ein Zuhause, aber keine Heimat finden konnten, ein Gefühl von Aufgehobenheit, Respekt und Anerkennung, kurz: ein Gefühl von Heimat.

Dabei entspricht weder seine Annahme über den Zustand der im Ausland lebenden Türken, noch die Hoffnung, die er mit solcherlei Aussagen nährt, mit der Realität überein. Sie spielt lediglich mit der Sehnsucht vieler Türken.

Tiefer gesellschaftlicher Riss

Tatsache ist, dass die türkische Gesellschaft sich nur wenig um die im Ausland lebenden Türken kümmert. Sie werden von ihr eher verachtet. Lediglich als Geldgeber aus dem Ausland, die den Aufbau von Kommunen und Dörfern in der Türkei unterstützen, sind sie willkommen. Der Bruch zwischen den "Auslandstürken" und den im Inland lebenden Türken zieht sich durch viele Familien sowie durch die gesamte türkische Gesellschaft.

Fatma Sagir; Foto: &copy PR
Fatma Sagir ist Lektorin für die Türkische Sprache am Orientalischen Seminar Freiburg.

​​ Längst hat sich die erste Generation der türkischen Einwanderer in Europa sozialisiert. Jene jungen Männer und Frauen, die ihre Dörfer im anatolischen Kernland verließen, sind zu Großeltern und Pendlern zwischen den Welten geworden. Nicht die junge Generation ist heimatlos und zerrissen, sondern die erste Generation, die den Ort ihrer Kindheit und Jugend gänzlich verändert vorfindet. Diesen Ort suchen sie immer wieder während ihrer Reisen in die Heimat auf.

Dort finden sie die Verbundenheit mit Freunden und der Familie vor, aber auch großen Sozialneid. Während sie selber noch den Dialekt ihres Dorfes sprechen, macht man sich nicht einmal mehr die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten, um sich über die Aussprache ihrer Kinder zu mokieren.

Außerdem lehnt auch die türkische Oberschicht diese Söhne und Töchter anatolischer Bauern ab. Sie würden in Europa ein schlechtes Licht auf die Türkei werfen. "Köylü" (Dörfler) ist immer noch ein gängiges Schimpfwort.

In der Türkei haben die Verantwortlichen ihren Blick auf die "Auslandstürken" offenbar seit den 1970er Jahren nicht mehr korrigiert. Auf merkwürdige Weise ist dieser Blick mit dem vieler Verantwortlichen in Deutschland auf die türkischen Einwanderer kongruent.

Man arbeitet gerne mit Ausschließlichkeiten. Warum gibt es keine Schulen mit mehrsprachigen Angeboten? Ein hohes Maß an Flexibilität ist für den Integrationsprozess gefordert.

Viele junge Deutschtürken bedauern, dass sie ihre Muttersprache nicht gut beherrschen, möchten aber ebenso gut Deutsch sprechen, um den gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen. Dieser Wunsch sollte in der deutschen Integrationspolitik ernst genommen und nicht dubiosen türkischen Fernsehsendungen oder dem türkischen Ministerpräsidenten überlassen werden.

Auch die gegenwärtig emotional aufgeladene Diskussion um Integration scheint den Blick auf die eigene Migrationsgeschichte zu versperren. Nach den Iren gelten die Deutschen als die größte Einwanderergruppe in den USA. Deutsche haben lange um den Erhalt ihrer Sprache im amerikanischen Alltag gerungen.

Deutsch wird dort immer noch gesprochen, aber Jahr für Jahr kommen deutschstämmige Amerikaner nach Deutschland, um die Sprache ihrer Vorfahren zu erlernen. Keiner würde sagen, er sei Deutscher, aber jeder sagt, er sei deutschstämmig. Auch nach 250 Jahren.

Fatma Sagir

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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