Tanger: Die Armut bleibt unsichtbar

Blick auf die Hafenpromenade Tangers; Foto: Karima Ahdad
Blick auf die Hafenpromenade Tangers; Foto: Karima Ahdad

In der marokkanischen Stadt Tanger boomt die Wirtschaft – aber die meisten Marokkaner haben nicht viel davon. Ihnen fehlen die Einnahmen durch die Touristen. Vom wachsenden Warenhandel profitieren sie nicht. Stefanie Claudia Müller berichtet aus Tanger.

Von Stefanie Claudia Müller

Anass Bouzid träumt schon lange davon, nach Deutschland zu gehen: "Nach Frankfurt, wo Verwandte von mir leben". Er hat eine rudimentäre Ausbildung als Elektriker, findet aber keine feste Anstellung in Marokko. Selbst in Tanger nicht, wo er wohnt und alle Zeichen auf Aufschwung stehen. Weil er nichts zu tun hat, leiht sich der 25jährige manchmal ein Taxi von einem Freund, einen 35 Jahre alten Mercedes ohne Sicherheitsgurte. Damit fährt er vor allem Touristen durch die Gegend.

So kosmopolitisch und wirtschaftlich vibrierend Tanger auch ist, viele Menschen hangeln sich wie Bouzid mehr schlecht als recht durchs Leben, träumen von Wohlstand und Bildung. Die Pandemie hat die Sehnsucht der Jugend nach einem besseren Leben noch verstärkt. Das Land hat sich aus Angst vor dem Virus abgeriegelt. Dadurch kamen kaum noch Touristen und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Marokkos ist 2020 nach Berechnungen der Ratingagentur Standard & Poor‘s um 5,5 Prozent gesunken. Die staatliche Verschuldung dagegen wird auf fast 66 Prozent des BIPs steigen.

In Tanger ist von einer Krise auf den ersten Blick nichts zu spüren. In der Medina werden die Wege neu gepflastert und öffentliche Plätze werden renoviert. In der Marina glänzt der frische Asphalt, es gibt moderne Cafés und Eigentumswohnungen, finanziert von reichen Arabern. Die Armut aber bleibt, auch wenn sie in Tanger wenig sichtbar ist.



Logistik läuft trotz Pandemie gut

Das eigentliche Juwel der Region liegt 40 km entfernt in Alcazarseguir. Hier erstreckt sich der Hafen Tanger Med über mehr als zehn Kilometer entlang der Küste, dahinter liegen grüne Hügel und Windräder. "Kein anderes Land im Maghreb setzt so auf erneuerbare Energien, das wissen wir in Deutschland zu schätzen", sagt der Geschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Marokko, Andreas Wenzel.

Am Fährhafen von Tanger ist alles neu, aber es steht auch alles still wegen der Corona-Pandemie; Foto: Stefanie Claudia Müller/DW
Am Fährhafen von Tanger ist alles neu, aber es steht auch alles still: Wegen der Corona-Pandemie ist seit einem Jahr der Fährverkehr nach Spanien unterbrochen. So kommen nicht nur weniger spanische Touristen, sondern auch weniger Auslandsmarokkaner zum Besuch in ihre Heimat. Das Geld, das sie in normalen Zeiten ins Land bringen, fehlt schmerzlich. Die Aussichtslosigkeit der aktuellen Situation treibt noch mehr Marokkaner als sonst nach Europa, schreibt Stefanie Claudia Müller in ihrem Bericht aus Tanger.

Sobald die Pandemie-Restriktionen weltweit gelockert würden, rechnet Standard & Poor's deswegen damit, dass die ausländischen Direktinvestitionen in dem Land wieder anziehen werden. Von solchen Investitionen kommt bei Menschen wie Bouzid aber kaum etwas an.

"Marokko versucht, seine Einnahmequellen zu diversifizieren und auch seine politischen Abhängigkeiten breiter zu streuen", sagt Gonzalo Escribano, politischer Analyst vom Real Instituto Elcano in Madrid. Die EU sei immer noch der mit Abstand wichtigste Handelspartner und Absatzmarkt, aber aus Brüssel würden eben auch Forderungen nach mehr Demokratie kommen.  Mit Deutschland gibt es gerade diplomatischen Ärger, weil das Königreich Kritik am Status der besetzen Westsahara schlecht vertragen kann.



Die Meinungsfreiheit hört da auf, wo die Regierung oder gar der Monarch Mohammed VI kritisiert werden. Heimische Pressevertreter landen wegen eines falschen Tweets im Gefängnis und einige ausländische Journalisten dürfen derzeit nur mit Genehmigung des marokkanischen Außenministeriums recherchieren. "Marokko ist aber eines der stabilsten Länder in Afrika und verfügt über eine ideale Infrastruktur", erklärt Wirtschaftsexperte Menzel das zunehmende wirtschaftliche Engagement der Deutschen vor Ort.

Vom Brexit erhoffe sich Marokko Vorteile, weil man nun direkt mit Großbritannien verhandeln könne und das Land über die Freihandelszone in Tanger steuerlich günstige Konditionen anbiete, so Escribano. Inzwischen hat Marokko auch diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen und hofft dadurch ebenfalls auf Wirtschaftsimpulse.



Marokko ist wichtiger Investitionsstandort in Afrika

Der grüne Norden des Landes ist ein klarer Gewinner der Pandemie. Allein das Cargo-Volumen der Hafens Tanger Med wuchs im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2019 um 23 Prozent auf 81 Millionen Tonnen. Jetzt wurde auch der Vertrieb von therapeutischem Cannabis zugelassen, was den hier ansässigen weltweit wichtigen Marihuana-Produzenten weiter Auftrieb geben wird.

 Eingang der Altstadt (Medina) von Tanger; Foto: Stefanie Claudia Müller/DW
Am Eingangstor zur alten Medina von Tanger: Von einer Krise ist auf den ersten Blick nichts zu sehen. In der historischen Altstadt werden die Wege neu gepflastert und öffentliche Plätze renoviert. Am Hafen glänzt der frische Asphalt, es gibt moderne Cafés und Eigentumswohnungen, finanziert von reichen Arabern. Die Armut aber bleibt, auch wenn sie in Tanger nur wenig sichtbar ist.

Und nicht nur Waren aus aller Welt werden inzwischen in Tanger in Hochgeschwindigkeit umgeschlagen. Ein Hochgeschwindigkeitszug verbindet die Hafenstadt mit dem mondänen Finanz- und Wirtschaftszentrum Casablanca. Tanger will Luxus- und Geschäftstouristen anziehen sowie Kreuzfahrtschiffe. Die Häfen sind schon jetzt die modernsten des Landes, die Steuerbedingungen ähneln denen von Gibraltar.

Deutsche Firmen, die früher in Tanger vor allem in die Textilproduktion investierten, bauen nun Logistik, Technologie und Dienstleistungen im Land aus. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank hatte Deutschland in Marokko 2018 etwa 1,2 Milliarden Euro investiert. "Ein Wachstum von 600 Prozent in acht Jahren.



Marokko ist mittlerweile für uns nach Südafrika der zweitwichtigste Investitionsstandort auf dem Kontinent", sagt Wenzel. Aber viel wichtiger als Deutschland sind wirtschaftlich gesehen neben den US-Amerikanern, die gerade die Westsahara als marokkanisch anerkannt haben, Spanier und Franzosen, Chinesen, Japaner und Araber.



Der fehlende Tourismus trifft viele einfache Marokkaner

Dennoch: Der Durchschnittseinwohner von Tanger lebt von der Medina, dem Wochenmarkt und wie Bouzid vom Tourismus. Seit einem Jahr ist es hier jedoch ruhig. In dem ehemaligen Spione- und Künstler-Hotel Minzah sitzen nur ganz wenige Besucher auf der Terrasse. An den Stränden von Tanger servieren die meisten Restaurants kein Essen. "Es lohnt sich nicht, die Küche zu öffnen. Es fehlen die Kunden", erzählen die Gastronomen.



Seit einem Jahr ist der Fährverkehr nach Spanien unterbrochen. So kommen auch weniger Auslandsmarokkaner in ihre Heimat und das Geld, das sie in normalen Zeiten ins Land bringen, fehlt schmerzlich. Die Aussichtslosigkeit der aktuellen Situation treibt noch mehr Marokkaner als sonst nach Europa.



Die illegalen Boote mit Ziel Europa fahren auch von Dalia los, einem paradiesisch gelegenen Strand in der Nähe von Tanger Med.

Der marokkanische Journalist Jamal Amiar; Foto: privat
Der bekannte marokkanische politische Kommentator Jamal Amiar meint, so kosmopolitisch sein Tanger auch sei, die Stadt zeige auf sehr konzentrierte und anschauliche Weise die eigentlichen Probleme Marokkos: "Hier gibt es keinen Hunger", sagt er. Die Gehälter seien sehr niedrig, aber die Lebenskosten auch. "Es gibt jedoch enorme Einkommensunterschiede und es fehlt eine berufliche Fachausbildung. Und je weiter weg von der Stadt jemand wohnt, desto weniger Arbeitsmöglichkeiten gibt es". Der Wunsch vieler Marokkaner, nach Europa zu gehen, sei aber auch eine Folge des Fernsehens und der Touristen. „Sie lassen die Marokkaner von einem besseren Leben träumen und das hat auch mit dem Wunsch nach Freiheit zu tun".





Der bekannte marokkanische politische Kommentator Jamal Amiar kennt Europa, er hat in den USA unterrichtet und studiert. Seine Perspektive und Sicht auf Marokko ist ganz anders als die von Bouzid. Aber so kosmopolitisch sein Tanger auch ist, die Stadt zeige auf sehr konzentrierte und anschauliche Weise die eigentlichen Probleme Marokkos: "Hier gibt es keinen Hunger", sagt der Journalist.



Die Gehälter seien sehr niedrig, aber die Lebenskosten auch. "Es gibt jedoch enorme Einkommensunterschiede und es fehlt eine berufliche Fachausbildung. Und je weiter weg von der Stadt jemand wohnt, desto weniger Arbeitsmöglichkeiten gibt es", so Amiar.



Mehr Armut durch Corona

Zwischen den neuesten Fabrikanlagen in der Nähe von Tanger Med und Automotivecity, einer Industriezone, in der sich Autohersteller angesiedelt haben, grasen Kühe, Schafe und Ziegen wild auf nicht eingezäunten Feldern. Die Tiere neben modernen Industrieanlagen geben ein sehr treffendes Bild dafür ab, wie die Welten in Marokko auseinanderdriften. Trotz aller High-Tech-Investitionen arbeiten immer noch 40 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft. Je weiter man nach Süden kommt, desto trostloser werden die Aussichten.

Die Pandemie hat die Armut verschärft. In Marokko warten Migranten aus Mali, Senegal und Mauretanien auf die Möglichkeit zur Weiterfahrt nach Europa. "Marokko hat Angst, dass ihm ein ähnliches Schicksal blüht wie der Türkei", sagt Amiar. Er hat viel über Auswanderung und marokkanische Identität geschrieben: "Das Fernsehen und auch die Touristen lassen die Marokkaner von einem besseren Leben träumen und das hat auch mit dem Wunsch nach Freiheit zu tun". 

Eine Million Landsleute leben bereits in Spanien, da will Bouzid aber nicht hin: "Ich werde meinen Lebenslauf aktualisieren und irgendwie versuchen, einen Job in Deutschland zu bekommen", sagt er und klopft auf das Dach seines geliehenen Mercedes: "Wer so gute Autos baut, der kann mir was beibringen," lacht er.

 

Stefanie Claudia Müller

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