Verstummter Protest

Algeriens Regierung und Justiz instrumentalisieren den gesundheitspolitischen Notstand im Land und verschärfen im Windschatten der Corona-Pandemie ihr Vorgehen gegen Protestbewegung, Opposition und freie Presse. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Nichts hatte Algeriens Protestbewegung seit Beginn der Massenmobilisierung gegen die autoritär regierende Staatsführung im Februar 2019 Einhalt gebieten können. Weder politische Zugeständnisse - wie der von der Armeeführung erzwungene Rücktritt von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika im April 2019 - noch Ablenkungsmanöver der alten Eliten konnten die beharrlich auf einen echten politischen Wandel drängende Jugend zum Einstellen ihrer allwöchentlichen Demonstrationen bewegen.

13 Monate lang trotzte die im Land "Hirak" (arabisch für "Bewegung") genannte Bewegung Spaltungs- und Diskreditierungsversuchen der Regierung, strömendem Regen und politischen Repressalien. Die Mobilisierungskraft des Hirak blieb ungebrochen. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie.

"Weder Corona noch Cholera wird uns stoppen"

Ende Februar hatten die Behörden die erste Infektion mit dem Covid-19-Virus in Algerien bestätigt, doch der Hirak mobilisierte zunächst munter weiter und nahm die heraufziehende Bedrohung mit offen zur Schau getragenem Sarkasmus zur Kenntnis. "Weder der Corona-Virus noch die Cholera wird uns stoppen" oder "Corona macht uns keine Angst, wir sind im Elend aufgewachsen" hallte es noch am 13. März lautstark durch die Straßen Algiers.

Zeitgleich aber stiegen die Infektionsfälle im Land massiv an. Auch dem Hirak war klar, dass Algeriens jahrzehntelang heruntergewirtschaftetes öffentliches Gesundheitswesen nicht annähernd auf eine solche Krise vorbereitet ist und früher oder später unter der Last einer Pandemie globalen Ausmaßes zusammenbrechen könnte.

Symbolbild Coronavirus; Quelle: DW
Lähmender Effekt für Algeriens Hirak: in Algerien hat die Pandemie die Protestbewegung in Mitleidenschaft gezogen. Wie in anderen arabischen Ländern haben die Behörden die Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus dazu genutzt, um kritische Stimmen innerhalb des Landes zum Schweigen zu bringen.

Entsprechend eindringlich warnten immer mehr führende Stimmen in der Bewegung vor den gesundheitspolitischen Gefahren von Covid-19 und plädierten für ein sofortiges Aussetzen der Proteste. Mit Erfolg. Denn seit dem 13. März herrscht erstmals seit 57 Wochen ununterbrochener Dauerproteste gähnende Leere auf Algeriens Straßen.

Der Hirak hat mit dem Aussetzen seiner Dienstags- und Freitagsmärsche jedoch auch sein mit Abstand wirkungsvollstes Druckmittel auf Eis gelegt – mit nicht zu unterschätzenden Folgen für die Bewegung und mit ihr assoziierten zivilgesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien.

Staatsapparat intensiviert Repressalien

Denn seit dem einstweiligen Ende der Demonstrationen verschärfen Innenbehörden und die den Eliten treu ergebenen Teile der Justiz ihr Vorgehen gegen Opposition, Protestbewgung und freie Presse. Seit Ende März hageln förmlich Verhaftungen, Verurteilungen und Vorladungen auf die Oppositionellen und Hirak-Aktivisten nieder, während die Behörden bisher vorhandene Freiräume für regierungskritische Medien systematisch untergraben und spürbar einschränken.

Algeriens Präsident Abdelmajid Tebboune; Foto: picture-alliance/AP
Repression als Antwort auf die Corona-Krise: Angesichts dieser jüngsten Welle an Repressalien muten die Ende 2019 vollmundig vorgetragenen Versprechen von Präsident Abdelmajid Tebboune wie blanker Hohn an. Der im Dezember in einem umstrittenen und von Manipulationsvorwürfen überschatteten Urnengang neu „gewählte“ Staatschef hatte politische Reformen versprochen und dem Hirak rhetorisch die Hand ausgestreckt.

Schon am 24. März verurteilte ein Gericht in Algier den in den Reihen des Hirak äußerst populären Linkspolitiker Karim Tabbou in einem kontroversen Berufungsprozess zu einem Jahr Gefängnis. Unzählige algerische und internationale Menschenrechtsgruppen verurteilten das Verfahren gegen den Chef der Oppositionspartei "Union Démocratique et Sociale" (UDS) aufs Schärfste, begann es doch in Abwesenheit seiner Anwälte, die über die Ansetzung der Anhörung ebenso wenig informiert worden waren wie er selbst. Die Opposition spricht von einem "Justizskandal".

Tabbous Verurteilung sollte dabei nur der Anfang einer regelrechten Kampagne der Behörden gegen die Opposition gewesen sein. Unmittelbar nach der Verurteilung des Hirak-Aktivisten Ibrahim Daouadji zu sechs Monaten Gefängnis wegen angeblicher "Veröffentlichungen auf Facebook, die die nationale Einheit untergraben", verdonnerte das für seine politisch motivierten Urteile bekannte Gericht Sidi M'hamed in Algier den Präsidenten des Jugendverbandes "Rassemblement Actions Jeunesse" (RAJ), Abdelouhab Fersaoui, zu einem Jahr Gefängnis.

Ähnlich wie im Falle Tabbous sorgte Fersaouis Verurteilung für einen Sturm der Entrüstung. Mehr als 80 Menschenrechtsgruppen und Vereine sowie unzählige Aktivisten und Akademiker aus Algerien, Marokko und Tunesien verurteilten Fersaouis "willkürliche Inhaftierung" in einer gemeinsamen Erklärung vehement und forderten die Regierung zu einem unverzüglichen Ende der Repressalien und der bedingungslosen Freilassung aller politischen Gefangenen im Land auf.

Regierungskritische Presse im Visier der Behörden

Während derweil in den letzten Wochen Dutzende Hirak-Aktivisten von der "Juristischen Polizei" – einer der einflussreichsten Innenbehörden im Land – zu Vernehmungen vorgeladen und zu ihren politischen Aktivitäten ausgefragt wurden, gehen die Behörden inzwischen auch gezielt gegen die regierungskritische Presse vor.

Schon Ende März wurde der Korrespondent von "Reporter ohne Grenzen" und Mitbegründer der Internetzeitung "Casbah Tribune", Khaled Drareni, in Algier verhaftet. Der junge Reporter ist einer der prominentesten Journalisten des Landes und war 2019 im Rahmen von Demonstrationen bereits unzählige Male verhaftet worden, aber immer nach wenigen Stunden in Polizeigewahrsam wieder entlassen worden – unbehelligt von der Justiz. Im März jedoch leitete diese erstmals Ermittlungen gegen Drareni ein.

Demonstration für die Freilassung von Inhaftierten der Hirak-Proteste; Foto: picture alliance/abaca
Mit harter Hand gegen Hirak-Aktivisten: In den vergangenen Monaten sind in Algerien immer wieder Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Berichterstattung über die Hirak-Proteste verhaftet oder verhört worden. Algerien steht auf Platz 141 von 180 Staaten auf der Rangliste der Pressefreiheit. Strafverfolgung, willkürliche Festnahmen und Behördenschikanen machen unabhängigen Journalismus in dem nordafrikanischen Land riskant.

Nur eine Woche später verurteilte ein Gericht in Algier Sofiane Merakchi zu acht Monaten Gefängnis. Der für den libanesischen TV-Kanal Al-Mayadeen arbeitende Reporter war bereits im Herbst inhaftiert worden und der erste algerische Journalist, der nach seiner Verhaftung nicht wieder freigelassen, sondern von der Justiz vor Gericht gezerrt wurde. Mindestens zwei weitere Pressevertreter sitzen derzeit hinter Gittern, gegen drei weitere wurden Anfang April Ermittlungen eingeleitet.

Seit letzter Woche können derweil mehrere regierungskritische Nachrichtenseiten in Algerien nicht mehr aufgerufen werden. Die Behörden sperrten den Zugang zu den Webseiten der Medienportale "Maghreb Emergent" und "TSA Algérie" sowie des Internetradios "Radio M".

Politische Instrumentalisierung der Corona-Pandemie

Angesichts dieser jüngsten Welle an Repressalien muten die Ende 2019 vollmundig vorgetragenen Versprechen von Präsident Abdelmajid Tebboune wie blanker Hohn an. Der im Dezember in einem umstrittenen und von Manipulationsvorwürfen überschatteten Urnengang neu "gewählte" Staatschef hatte nach seiner Amtseinführung politische Reformen versprochen und dem Hirak rhetorisch die Hand ausgestreckt.

Für die hinter ihm stehende Staatsklasse – ein undurchsichtiges Geflecht aus Staatsbürokratie, Militärs, Politikern und privaten Wirtschaftseliten – waren das jedoch offenbar nur leere Worte. Die Protestpause bietet den Eliten nun die Gelegenheit, abermals zu versuchen, dem Hirak den Garaus zu machen und sich mittels Einschüchterungsversuchen und Repressalien auf die Zeit nach der Pandemie vorzubereiten.

[embed:render:embedded:node:39536]Bisher macht die Regierung im Umgang mit der Covid-19-Krise derweil keine gute Figur. Während Tebboune und seine Ministerriege gebetsmühlenartig betonen, Algeriens öffentliche Kliniken seien ausreichend auf die Pandemie vorbereitet, berichten Ärzte und Gewerkschaften in algerischen Zeitungen schon seit Wochen über einen eklatanten Mangel an Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten.

Regime in der Bringschuld

Den Druck der Straße hat das Regime vorerst zwar ausgestanden, doch nun müssen die hartnäckig an ihren Privilegien festhaltenden Eliten beweisen, dass sie in der Lage sind, ein gesundheitspolitisches Desaster im Land abzuwenden. Sollte die Pandemie jedoch – wie von einigen Stimmen bereits vorhergesagt wird – tatsächlich in einem Fiasko enden, droht die Wut auf die Regierung abermals hochzukochen.

Für den Hirak ist diese Gemengelage dabei mehr als paradox. Denn ein Covid-19-Desaster könnte auch Bevölkerungsschichten auf die Straße treiben, die bisher nicht an den Protesten teilgenommen hatten und damit als Katalysator für die Bewegung wirken.

Nicht unerheblich für ein solches Szenario ist derweil die Tatsache, dass die Erinnerungen an die massive Streik- und Protestwelle in Algeriens Gesundheitssystem Anfang 2018 im Land weiterhin sehr präsent sind. Unabhängige Gewerkschaften hatten damals monatelang auf die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen hingewiesen und die Regierung zum Handeln aufgefordert. Diese aber blieb tatenlos – ein Umstand, der die Staatsklasse in einigen Monaten unter enormen Druck setzen könnte.

Sofian Philip Naceur

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