Zwischen Transition und Stillstand

Im Jemen wurde mit der Entscheidung für einen föderalen Staatsaufbau der Weg zu einer neuen Verfassung und zu demokratischen Wahlen geebnet. Doch der demokratische Transformationsprozess tritt auf der Stelle. Von Marie-Christine Heinze

Von Marie-Christine Heinze

Weder eine neue Verfassung noch eine breit angelegte Kampagne gegen al-Qaida werden den Jemen stabilisieren – Bildung und wirtschaftliche Entwicklung jedoch schon.

Der Jemen befindet sich im Jahr drei seit der "Revolution" gegen den ehemaligen Machthaber Ali Abdullah Salih 2011 und die Nachrichten, die aus dem Land im Westen ankommen, klingen fast nach bipolarer Störung: Zum einen wird der Jemen mit seinem institutionalisierten Transitionsprozess als Modell für andere Länder des Arabischen Frühlings gepriesen, zum anderen hören wir Nachrichten von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" angesichts einer derzeit stattfindenden militärischen Kampagne gegen al-Qaida in weiten Teilen des Landes und dem Schließen von Botschaften wegen drohender Vergeltungsanschläge.

Fakt ist, dass der Transitionsprozess, dessen einzelne Schritte im Übergangsmechanismus der Golfkooperationsratsinitiative (GKR-Initiative) festgelegt wurden, einige inhärente Probleme enthält, die viele negative und nur wenige positive Konsequenzen aufweisen.

Auf ersten Blick sieht alles erst einmal gar nicht so schlecht aus: Nach Unterzeichnung der GKR-Initiative durch den damaligen Präsidenten Ali Abdullah Salih im November 2011 wurde eine Übergangsregierung bestehend aus ehemaliger Regierungspartei und einem oppositionellen Parteienbündnis ins Leben gerufen, die bis zu den Wahlen am Ende des Transitionsprozesses die Regierungsgeschäfte weiterführen soll.

Weichenstellung für ein föderales System

Im Februar 2012 wurde außerdem der ehemalige Vizepräsident, Abd Rabbu Mansour Hadi, bei einer Einkandidatenwahl zum Nachfolger Salihs im Präsidentenamt gewählt. Die Restrukturierungskomitees des Innen- und Verteidigungsministeriums nahmen ihre Arbeit zur Reform des Sicherheitssektors auf und im März 2013 begann dann – mit einiger Verzögerung – die Nationale Dialogskonferenz (NDK). Im Januar 2014 wurde die NDK zum Abschluss gebracht und neben mehr als 1.800 anderen Empfehlungen wurde hier die Einführung eines föderalen Systems beschlossen.

Jemens Präsident Abd-Rabbu Mansour Hadi bekommt am 27.2.2012 die jemenitische Fahne von Ali Abdullah Salih in Sanaa überreicht; Foto. Reuters
Symbolische Geste der Machtübergabe: Jemens Präsident Abd-Rabbu Mansour Hadi bekommt die jemenitische Fahne von Ali Abdullah Salih in Sanaa überreicht. Salih hatte 2012 nach Massenprotesten und Druck aus den benachbarten Golfstaaten die Macht an seinen Stellvertreter Abed Rabbo Mansur Hadi übergeben.

Ein im Nachhinein von Präsident Hadi eingerichtetes Komitee zur Festlegung der Regionen entschied dann, worauf man sich in der NDK nicht hatte einigen können: die neue föderale Struktur bestehend aus sechs Regionen. Eine im April eingerichtete Behörde soll nun die Umsetzung der Empfehlungen aus der Nationalen Dialogskonferenz überwachen.

Diese Konferenz galt als Herzstück des demokratischen Transitionsprozesses. Hier sollten die verfeindeten politischen Gruppierungen mit Vertretern anderer sozialer und politischer Interessengruppen (ethnische Minderheiten, Frauen, Jugend) aus allen Regionen des Landes zusammenkommen und in neun verschiedenen Arbeitsgruppen Empfehlungen für den Aufbau eines "neuen Jemen" mit einem neuen politischen System und Gesellschaftsvertrag erarbeiten.

Einer der zentralen Knackpunkte war die Lösung der sogenannten "Südfrage". Im Süden des Landes hatte sich bereits 2007 eine Protestbewegung, bekannt als die "Südliche Bewegung", entwickelt, die sich gegen die Marginalisierung des ehemaligen Südjemens nach der Einheit im Jahr 1990 und dem Bürgerkrieg von 1994 durch das vor allem von nördlichen Eliten gestützten Regimes gewendet hatte. Weil Salih die durchaus legitimen Forderungen der Bewegung ignorierte und stattdessen unter anderem auch gewaltsam gegen sie vorging, wurden 2009 Forderungen nach einer "Befreiung" des Südens von der "Okkupation des Nordens" und der Gründung eines eigenständigen "Südarabiens" lauter.

Die Einführung des Föderalismus soll den Interessen marginalisierter Regionen wie dem ehemaligen Südjemen entgegen kommen. Wenn solche Regionen mehr eigene Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, so hofft man, wird den Eliten im Zentrum etwas von ihrer Macht genommen und die Rufe nach Sezession werden verstummen.

Föderalismus versus Sezession

Demonstration von Gegnern Abdullah Salihs in Sanaa; Foto: Saeed Al Sofi
Die Wurzeln des Terrors beseitigen: Demonstration gegen den Salih-Clan in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa

Ein funktionierender Föderalismus setzt jedoch voraus, dass die föderalen Regionen auch die systemisch notwendige Rolle des Zentrums anerkennen und dass das Zentrum bereit ist, mit den politischen Akteuren in den Regionen zusammenzuarbeiten, auch wenn diese nicht politisch auf Linie sind. Hiervon kann jedoch bislang keine Rede sein. Grundsätzlich erkennen die meisten Menschen im Süden weder die Empfehlungen der NDK noch die Entscheidungen des Komitees zur Festlegung der Regionen an und halten weiterhin am Ziel der Sezession fest.

Dass sich dieses Bestreben in den letzten zwei Jahren noch einmal verfestigt hat und mancherorts inzwischen in regelrechten Hass gegenüber den nordjemenitischen Eliten umgeschlagen ist, ist auch durch das Versagen der Übergangsregierung sowie Präsident Hadis zu erklären. Zu wenig wurde getan, um das Vertrauen der Menschen im Süden zu gewinnen, zu wenig hat man ihre Forderungen und Beschwerden ernst genommen.

Diesem Versagen liegen mehrere inhärente Probleme des Transitionsprozesses zugrunde, die das gesamte Land betreffen: Zum einen schreitet der Transitionsprozess zu langsam voran. Erst im März 2014 wurde das Verfassungskomitee ins Leben gerufen, welche auf Basis der NDK-Empfehlungen die Verfassung ausarbeiten soll. Hierfür ist – entgegen des eigentlichen Fahrplans – insgesamt ein Jahr vorgesehen, d.h. ein Verfassungsreferendum wird es erst 2015 geben.

Bis dahin wird unklar sein, wie das neue föderale System konkret ausgestaltet sein wird. Dies bedeutet auch, dass für die Stabilisierung und wirtschaftliche Entwicklung des Landes wichtige politische Entscheidungen und Maßnahmen weiterhin auf die lange Bank geschoben werden – eine abwartende Haltung, die die Übergangsregierung seit ihrer Einrichtung Ende 2011 einnimmt. Einen Termin für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nach Abhalten des Verfassungsreferendums gibt es nicht, denn dann muss wohl erst das Wahlsystem an die neuen föderalen Gegebenheiten angepasst werden.

Hinzu kommt als weiteres Problem, dass der Transitionsprozess zu einem Großteil von den alten politischen Eliten des Landes gestaltet wird, die mental noch nicht im "neuen Jemen" angekommen zu sein scheinen. Hier wird weiterhin darauf gesetzt, dass die internationale Gemeinschaft dem Jemen schon den Weg ebnen wird, auch wie stets mit finanziellen Mitteln. Man spielt also auf institutioneller Ebene das Spiel der internationalen Gemeinschaft mit, denn ohne deren Mittel geht es nicht, setzt aber auf anderer Ebene die lokalen Machtkämpfe auch mit gewaltsamen Mitteln fort.

Die internationalen Geber haben dies durchaus erkannt: Aus Erfahrung vorsichtig geworden zeigen sie sich höchst zurückhaltend bei der Auszahlung von bereits zugesagten Mitteln und eine extra für die sachgemäße Verwendung der Gelder eingerichtete Behörde, das Executive Bureau, kommt nur sehr langsam mit seiner Arbeit voran, da es auf Regierungsseite keine ausreichenden Kapazitäten (und politischen Willen) gibt, die zur Verfügung stehenden Gelder tatsächlich in Projekte umzuwandeln.

Darüber hinaus wurde Ende Februar dieses Jahres die UN-Sicherheitsratsresolution 2140 verabschiedet, nach der solche Akteure mit Sanktionen belegt werden können, die den Transitionsprozess behindern. Dies richtet sich nicht nur gegen den ehemaligen Präsidenten Salih, der weiterhin dem an der Übergangsregierung beteiligten Allgemeinen Volkskongress vorsitzt, sondern auch gegen andere Angehörige der politischen Elite.

Schauplatz des Kampfes um regionale Vorherrschaft

Anhänger der separatistischen "Südlichen Bewegung" in Aden; Foto: Reuters
Separatisten der "Südlichen Bewegung" für ein eigenständiges Südarabien: Weil Salih die durchaus legitimen Forderungen der Bewegung ignorierte und stattdessen unter anderem auch gewaltsam gegen sie vorging, wurden 2009 Forderungen nach einer "Befreiung" des Südens von der "Okkupation des Nordens" lauter.

Ein wichtiger und nicht zu vernachlässigender Teil des Problems ist aber auch die internationale Gemeinschaft selbst: Zum einen verfolgen Saudi-Arabien, Qatar und Iran ihre eigenen Ziele im Jemen, der längst ein Schauplatz des Kampfes um deren regionale Vorherrschaft geworden ist. Und zum anderen sieht der Westen den Jemen zu sehr durch eine auf Stabilität und Sicherheit fokussierte Linse.

Dies gilt vor allem mit Hinblick auf die einflussreiche Rolle der USA, deren Hauptinteresse auf dem Kampf gegen al-Qaida liegt. Hiernach muss der Jemen stabilisiert und al-Qaida bekämpft werden – und da hört auch schon die Vision für das Land auf. Ein vom jemenitischen Präsidenten gestütztes US-amerikanisches Drohnenprogramm, das entgegen jeglichem Rechtsempfinden Menschen ohne Prozess zum Tode verurteilt und dabei den Tod von Zivilisten als "Kollateralschaden" in Kauf nimmt, trägt nicht zur Etablierung von Rechtsstaatlichkeit und einer Legitimierung der Regierung in den Augen der Bevölkerung bei.

Die vornehmliche Konzentration auf eine "Stabilisierung" des Jemen hat zur Fokussierung auf die alten politischen Eliten und den in der GKR-Initiative institutionalisierten Transitionsprozess geführt und lässt die zahlreichen anderen Probleme des Landes ebenso wie die in der Gesellschaft vorhandenen Potentiale außer Acht: Zu ersterem zählen allem voran die Nahrungsunsicherheit unter zwei Dritteln der Bevölkerung sowie die Tatsache, dass das Land im wahrsten Sinne des Wortes austrocknet. Zu letzterem zählt das wirtschaftliche Potential der Jugend, die 2011 die Revolution in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft getragen hat.

Vor allem in den Städten gibt es eine Generation von jungen Menschen, die bereits jetzt die Räume nutzen, die sich durch die Fokussierung der politischen Eliten auf ihren internen Machtkampf öffnen. Neue Formen des kulturellen Ausdrucks entstehen Seite an Seite mit jungen Unternehmen, deren Ideen vor allem Ausdruck der Kreativität einer technikaffinen Generation sind.

Der Ausbau und die nationale Liberalisierung des Telekommunikationssektors könnten diese Potentiale stärken und gleichzeitig für mehr Meinungsfreiheit sorgen. Dies setzt jedoch voraus, dass man auch die Menschen jenseits von institutionalisiertem Transitionsprozess und Stabilisierung des Landes zur Kenntnis nimmt. Weder eine neue Verfassung noch eine breit angelegte Kampagne gegen al-Qaida werden den Jemen stabilisieren – Bildung und wirtschaftliche Entwicklung jedoch schon.

Marie-Christine Heinze

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Marie-Christine Heinze ist Islamwissenschaftlerin an der Universität Bonn. Sie leitet ein von der Volkswagenstiftung gefördertes Projekt der Universität und des "Yemen Polling Center" zum Arabischen Frühling im Jemen.