Die ziemlich selben falschen Freunde

Deutschland sieht sich vor einer Schicksalsfrage. Wie kann man die Flüchtlinge stoppen? Die Bundeskanzlerin setzt auf das Bündnis mit der Türkei. Damit beweist Angela Merkel einen Mangel an historischem Bewusstsein. Die Erinnerung an den Beginn des 20. Jahrhunderts hätte ihr aufgezeigt: Es verbietet sich für Deutschland, sein politisches Schicksal an die Zusammenarbeit mit dem nationalistischen türkischen Staat zu knüpfen. Ein Debattenbeitrag von Stefan Buchen

Essay von Stefan Buchen

"Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darob Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ So wischte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zu Beginn des I. Weltkriegs interne Bedenken gegen das Bündnis mit der Türkei beiseite.

Der Völkermord gegen die Armenier in Istanbul und den Städten Kleinasiens war Anfang 1915 im vollen Gange. Deutsche Militärs und Diplomaten waren unmittelbare Zeugen – und in vielen Fällen  Befürworter des Massenmordes, wie Max von Scheubner-Richter, Vizekonsul in Erzurum, der sich nach dem Weltkrieg der NSDAP anschloss.

Die Deutschen sahen, wie Tausende ermordet und in den Hungertod getrieben wurden. Dass es Unrecht war, war den deutschen Gesandten – überwiegend Angehörige der preußischen Elite – durchaus bewusst.

Aber die Grausamkeiten waren von untergeordneter Bedeutung. Sie ließen sich sogar rechtfertigen. „Staatsfeinde“ und „Blutsauger“, „schlimmer als die Juden“ seien die Armenier, lauteten gängige Meinungen der deutschen Gesandten.  Damit folgten sie den Ideen der „jungtürkischen Bewegung“, die die Armenier zum Sündenbock für den Niedergang des Osmanischen Reiches abgestempelt und der Ausrottung anheimgegeben hatte.

Kriegsbündnis um jeden Preis

Entscheidend war für Deutschland, dass das Kriegsbündnis mit der Türkei hielt. „Dass darob die Armenier zugrunde gingen“, war als eine quasi natürliche Begleiterscheinung der nationalistischen Aufwallung in der Türkei hinzunehmen, ja gutzuheißen. Der Massenmord war normal und folgerichtig.

Für den Gedanken der Jungtürken, dass die Armenier mit ihren historischen Siedlungsgebieten um den Berg Ararat und im Kaukasus  einem zusammenhängenden „rein türkischen“ Territorium von Klein- bis Zentralasien im Wege standen und daher auszumerzen seien, hatten die ebenso nationalistisch denkenden deutschen Strategen vollstes Verständnis.

Nicht nur der Nationalismus der Türken sollte indes den Deutschen Kriegsglück bescheren, sondern auch ihre Religion. Dass der Deutsche Kaiser Wilhelm den Osmanischen Sultan Mehmet 1914 zur Ausrufung des weltweiten Dschihads anstachelte, ist eine nicht zu leugnende historische Tatsache.

Die Muslime in Indien, Nordafrika und im Kaukasus sollten sich unter dem Banner des Dschihads gegen die englischen, französischen und russischen Kolonialherren erheben und damit den Kriegsgegnern Deutschlands „einen tödlichen Schlag“ versetzen. 

Diese Idee hatte der deutsche Diplomat und Orientabenteurer Max von Oppenheim dem Kaiser eingeflüstert. Zu dem erhofften Großaufstand gegen die Kolonialmächte kam es bekanntlich nicht. Aber in Kleinasien befeuerte der religiöse Hass den nationalistischen. Beim Völkermord an den christlichen Armeniern wirkten Türken und Kurden zusammen. Wenn der Begriff „Islamo-Faschismus“ jemals eine zutreffende Beschreibung von irgendetwas war, dann von der mörderischen Bewegung jener unheilvollen Tage.  

Warum sind diese Zusammenhänge von Relevanz für die Gegenwart?

Vor 100 Jahren sah Deutschland sich in einem Schicksalskampf gegen seine europäischen Rivalen. “Die Türkei”, wie das dezimierte Osmanische Reich damals schon – ganz im Einklang mit dem  nationalistischen Zeitgeist - genannt wurde, war neben Habsburg der einzige Verbündete. Deutschland knüpfte an dieses Bündnis hochfliegende Erwartungen. Sie wurden nicht erfüllt. Der moralische, menschenrechtliche Preis hingegen war unermeßlich hoch. Mehr als eine Million Armenier wurden umgebracht bzw. in den Tod getrieben.

Menschenrechtsorganisationen lehnen den EU-Türkei-Deal ab. Foto: dpa
"Gefährlich, illegal und inhuman": Menschenrechtsorganisationen lehnen den EU-Türkei-Deal weiterhin ab. Sie halten Änderungen in den Vorschlägen für rechtliche Kosmetik und sind dagegen, die Türkei als sicheres Drittland anzuerkennen.

Der türkische Staat, mit dem Deutschland heute ein Bündnis in der zur Schicksalsfrage hochstilisierten Flüchtlingskrise eingeht, ist noch genau der, den die Jungtürken damals geschaffen haben: Er ist auf die Idee des Nationalismus gegründet. Seine Hüter definieren die “Ehre der türkischen Nation”. Wer sie verletzt, macht sich strafbar.

Und zur Ehre der türkischen Nation gehört selbstverständlich, nie einen Völkermord begangen zu haben. Dass der Islamo-Nationalist Erdogan an der Spitze des türkischen Staates steht, schlägt einen unübersehbaren Bogen in die Zeit vor 100 Jahren. Die Ironie müsste eigentlich schmerzen. Tut sie aber nicht, zumindest niemanden in bundesdeutschen Regierungskreisen.

Die Türkei soll heute wieder einen Zweck für Deutschland erfüllen. Sie soll Flüchtlinge von Europa, vor allem vom deutschen Boden, fernhalten. Ob dies gelingt, ist genauso fraglich wie es das Erreichen der Kriegsziele von 1914 war. Sicher ist nur, dass Deutschland wieder einen enormen moralischen Preis zu zahlen bereit ist.

Flüchtlinge weichen auf die gefährlicheren Routen übers zentrale Mittelmeer aus und ertrinken zu Hunderten. Der türkische Staat führt Krieg gegen die einzige verbliebene, zahlenmäßig bedeutsame nichttürkische Gruppe auf seinem Territorium: die Kurden. Die Opfer gehen bereits in die Tausende.

Im syrischen Krieg hat die Türkei die radikalsten Gruppen unterstützt und duldet sie bis heute als Gegengewicht zur PKK und zu Assad. Syrische Flüchtlinge werden von türkischen Sicherheitskräften an der Grenze zurückgewiesen. Es kommt auch zu Abschiebungen ins Kriegsgebiet.

Die Schikanen gegen Parlamentarier und Presseleute höhlen das Selbstbild der “modernen Türkei” vollends aus. Der kemalistische Anspruch auf eine “moderne”, im freiheitlichen und menschenrechtlichen Sinn “europäische” Türkei ist allerdings von Anfang an hohl gewesen.

Seit dem Niederbrennen des “europäischen” Teils von Smyrna (Izmir) im Jahre 1922, das nebenbei zum Tod einiger Tausend verbliebener Armenier und Zehntausender Griechen führte, konnte der Staat Atatürks diesen Anspruch eigentlich schon nicht mehr erheben. Dass er es real dennoch konnte, hing zunächst mit der Logik des Kalten Krieges und seit 1979 mit der westlichen Angst vor dem Aufstieg des “mittelalterlichen Islam” in anderen Ländern des Orients zusammen.

Aus dem Jahr 1922 existieren einige wenige schwarzweiße Filmaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie verzweifelte Armenier und Griechen versuchen, auf kleinen, wackeligen Holzbooten aus dem brennenden Smyrna zu flüchten. Die Sequenzen wurden von europäischen Kriegsschiffen aus aufgezeichnet, die vor der türkischen Ägäisküste kreuzten. Es war nicht die Priorität der Europäer, die Todgeweihten zu retten.

Deutsche Politiker, gerade auch die Bundeskanzlerin, tun gerne so, als hätten Deutsche “geschichtliche Lehren” nur aus der Zeit des Dritten Reiches zu ziehen. Das ist ein schwerwiegender Irrtum.

Der Beginn fataler politischer Fehlentscheidungen und Entwicklungen, die für die Gegenwart hohe Relevanz haben, ist früher anzusetzen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Abwehrreflex: “Woran sollen wir denn noch alles schuld sein?”, hilft nicht weiter. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Deutschen den Völkermord als etwas normaler betrachtet als andere Europäer.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland nicht mit der Türkei von heute zusammenarbeiten sollte. Aber wer um der eigenen Rettung vor den Gefahren der Gegenwart willen alles auf die Allianz mit diesem nationalistischen Staat setzt, hat seine Lektion nicht verstanden.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2016

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.