Im Dienst indischer Propaganda

Der indische Blockbuster "The Kashmir Files“, der sich mit dem Exodus der kaschmirischen Hindus in den 1990er Jahren beschäftigt, ist wegen seiner einseitigen Darstellungen, negativen Stereotypen und historischen Ungenauigkeiten höchst umstritten. Von Dominik Müller

Von Dominik Müller

Der indische Premierminister Narendra Modi hat den Film ausdrücklich gelobt und gegen Kritik verteidigt, die er als "Verschwörung zur Diskreditierung“ bezeichnet. Im Mai und Juni ist der Regisseur Vivek Agnihotri mit seinem Spielfilm durch England, die Niederlande und Deutschland getourt.  

"Wenn ihr nicht von hier weggeht, werden wir eure Häuser niederbrennen", droht ein bärtiger Muslim in einer Moschee, als er gegen die Hindu-Minderheit in Kaschmir wettert. "Konvertiert, geht oder sterbt," fährt der Mann fort. Die Gläubigen feuern ihn an, brechen in lauten Jubel aus.  

Das ist eine Szene aus dem umstrittenen neuen Film "The Kashmir Files" des indischen Filmemachers Vivek Agnihotri. Umstritten ist aber nicht nur der Film - der Regisseur ist es ebenso. Er bezeichnet kritische Intellektuelle schon mal als "Staatsfeinde“, die - wie eine Universitätsprofessorin im Film – faktisch auf der Seite von Terroristen stünden.   

Der Film befasst sich mit der Geschichte Kaschmirs, der unruhigen Region zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan. In dem mehrheitlich muslimischen Tal begann Ende der 1980er Jahre ein bewaffneter Aufstand gegen die indische Regierung, Nachdem diese nicht bereit war, das Ergebnis einer Wahl dort zu akzeptieren. Wenige Jahre später nahmen militante Islamisten die Minderheit der kaschmirischen Hindus – vor allem Pandits aus den oberen Kasten - ins Visier. Viele wurden getötet, mehrere Zehntausend flohen, die meisten kehrten nie zurück.

Leben in Jammu Kaschmir; Foto: Getty Images/AFP/T.Mustafa
Leben im Ausnahmezustand: Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen haben in Kaschmir sexualisierte Gewalt, Folter und extralegale Tötungen durch indische Sicherheitskräfte dokumentiert. 2018 veröffentliche das Hohe Kommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen zum ersten Mal einen Bericht über die Lage in Kaschmir und prangerte die katastrophalen Zustände an. Die Armee streitet die Vorwürfe jedoch ab. Das angespannte Verhältnis hat sich noch verschärft, nachdem die Regierung Modi 2019 die verfassungsmäßig garantierte Autonomie Kaschmirs aufgehoben hat. Die ohnehin massive Militärpräsenz wurde nochmals erhöht, Lokalpolitiker inhaftiert oder zu Hausarrest verdammt, die Verbindungen zur Außenwelt gekappt, das Internet gesperrt. 

In Indien Blockbuster des Jahres - in Europa umstritten

Die indische Bundesregierung setzte die Armee ein und erteilte ihr weitreichende Befugnisse zur Verhaftung und Befragung verdächtiger Personen. Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen haben seitdem sexualisierte Gewalt, Folter und extralegale Tötungen durch indische Sicherheitskräfte dokumentiert. 2018 veröffentliche auch das Hohe Kommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen zum ersten Mal einen Bericht über die Lage in Kaschmir und prangerte die katastrophalen Zustände an. Die Armee streitet die Vorwürfe jedoch ab.



Das angespannte Verhältnis hat sich noch verschärft, nachdem die Regierung Modi 2019 die verfassungsmäßig garantierte Autonomie Kaschmirs aufgehoben hat. Die ohnehin massive Militärpräsenz wurde nochmals erhöht, Lokalpolitiker inhaftiert oder zu Hausarrest verdammt, die Verbindungen zur Außenwelt gekappt, das Internet gesperrt. 

Filmemacher Vivek Agnihotri hat im Juni gegenüber der Zeitschrift "The New Yorker“ behauptet, dass kein einziges Menschenrechtsvergehen durch indische Sicherheitskräfte bewiesen sei. Auch im Film, der ansonsten mit brutalen Szenen nicht spart, negative Stereotype bedient und Muslime pauschal als Terroristen darstellt, spielen sie folglich keine Rolle. In den Filmpassagen, die in der heutigen Zeit spielen, loben die Kaschmir-Charaktere Modis hindu-nationalistische Partei BJP dafür, dass sie die verfassungsmäßige Autonomie der Region aufgehoben hat.  In Wirklichkeit wurde dieser Schritt von vielen hochrangigen Kaschmiris und internationalen Menschenrechtsorganisationen kritisiert.  

In Indien ist der Film längst Blockbuster des Jahres. In Europa stellte der Regisseur im Mai und Juni seinen Propaganda-Film in England, den Niederlanden und Deutschland vor. Seine Botschaft und die Botschaft des Films: Nachdem er mit hunderten betroffenen Kaschmiri-Pandits gesprochen habe, wolle er endlich die Wahrheit erzählen. "Ich glaube, dass der größte Feind der Menschheit der Terrorismus ist, deshalb habe ich beschlossen, einen Film über die lebenden Opfer des Völkermords in Kaschmir zu drehen," so Agnihotri gegenüber dem Sender CNN. Im Interview mit der US-Zeitschrift New Yorker verglich er seinen Film sogar mit Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ und stellte die Vertreibung der Pandits in einen Kontext mit dem Holocaust.   

 

 

Kaschmiris widersprechen der Darstellung im Film

In verschiedenen Medien widersprechen Kaschmiri-Pandits den einseitigen Darstellungen des Films und erzählen aus ihren Erinnerungen. In einem Beitrag von France 24 kommt Sanjay Kaw zu Wort, der in den 1990er Jahren als 22-Jähriger aus Kaschmir geflohen ist. Nur eine Minderheit der Muslime in Kaschmir sei gegenüber den Pandits feindlich eingestellt gewesen und hätte sie bedroht. Umesh Talashi, ein Kashmiri Pandit, der heute Mitglied der politischen Partei Jammu Kashmir National Conference ist, war sechs Jahre alt, als der Aufstand begann. Im Gespräch über den Film erzählte er CNN, dass sympathisierende kaschmirische Muslime seinem Vater halfen, sich während des Aufstands vor islamistischen Kämpfern zu verstecken.   

Und es gebe nicht nur anekdotische Evidenz, so Nitasha Kaul, eine kaschmirische Romanautorin und Professorin für Politik und internationale Beziehungen an der University of Westminster. "The Kashmir Files" schreibe die Geschichte um, ignoriere politische und geografische Zusammenhänge und laste die Konflikte allein den Muslimen an, so die Professorin. Der Film ignoriere die wissenschaftlich erforschten Beispiele für die Solidarität zwischen den beiden religiösen Gruppen und erkenne auch nicht die Gewalt an, die von militanten Gruppen gegen gemäßigte Muslime ausgeübt wurde.  

Premierminister Narendra Modi, der sich regelmäßig damit schwer tut, die häufig auftretenden Gewaltexzesse gegen Angehörige der muslimischen Minderheit in Indien zu verurteilen, hat wie viele seiner Parteifreunde den Film gelobt und Kritik zurückgewiesen. Mehrere BJP-regierte Bundesstaaten haben „The Kaschmir Files“ von der Steuer befreit, und der Polizei im Bundesstaat Madhya Pradesh wurde sogar ein Tag Urlaub gewährt, um den Film zu sehen.  

Wissenschaftlerin Kaul jedenfalls bezeichnet den Film als „zutiefst islamfeindlich“, die BJP nutze den Film für ihre politischen Zwecke. Eine Befürchtung, die auch von indischen Filmkritikern geteilt wird. „Es ist zu befürchten, dass Ausschnitte des Films bald in den sozialen Medien landen werden, um  Hass zu schüren“, so die Tageszeitung „The Hindu“ zur Uraufführung. Bei den Vorführungen in Indien ist es jedenfalls anschließend schon zu islamfeindlichen Kundgebungen gekommen, bei denen unter anderem zum Boykott muslimischer Geschäfte aufgerufen wurde.  

 

 

Abgesagt und verschoben

"Humanity Tour“ nannte Agnihotri seine Veranstaltungsreihe in Europa vom 28. Mai bis zum 26. Juni. Per Twitter hatte er einige Orte aufgezählt, an denen er den Film vorstellen wollte: unter anderem im Nehru Centre London, der Universität Oxford, im Saalbau in Frankfurt am Main, im Babylon Kino und im Jüdischen Museum in Berlin. Frei verkäufliche Karten gab es in der Regel nicht, die Vorführungen waren nur mit Einladung zugänglich.

Anfang Juni geriet die Tournee in die Schlagzeilen der indischen Presse, als der studentische Debattierclub Oxford Union die Veranstaltung an der britischen Universität auf den 1.Juli "verschob". In einem Video drohte Agnihotri  daraufhin, den Debattierclub zu verklagen, denn am 1.Juli würden die Semesterferien beginnen und kein Student anwesend sein. Die ganze Aktion sei "hinduphobisch“, der Präsident des Clubs ein "Pakistani“. 

Es sollte nicht die einzige faktische Absage sein. "Von unserer Seite ist keine Veranstaltung mit Herrn Agnihotri geplant, und uns ist auch kein offizieller Besuch im Museum bekannt“, dementierte das Jüdische Museum in Berlin die Ankündigung Agnihotris. Bei anderen Vorführungen waren die Säle jedoch gut gefüllt: Einige schottische und englische Parlamentarier verschiedener Parteien bezeichneten den Film in Videoaufnahmen von Agnihotri sogar als "wichtiges Dokument“ und sprachen von einem "Völkermord“ an den Kaschmir Pandits.

Bedeutende indische Kritiker betrachten den Film hingegen als reinen Propagandastreifen, einige vergleichen Agnihotri sogar mit Leni Riefenstahl, einer deutschen Schauspielerin und Filmregisseurin, die offen mit den Nationalsozialisten sympathisierte.  Agnihotri weist die Vorwürfe zurück: "Wie kann ein Film über Terrorismus Propaganda sein?“ Dass der Film die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen anheize, sei eine bloße Behauptung und "Agenda-gesteuert", so Agnihotri gegenüber CNN.  

Dominik Müller

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