"Silent Waters"

Die pakistanische Regisseurin Sabiha Sumar zeigt in ihrem letztes Jahr in Locarno preisgekrönten Film "Silent Waters", wie sich unter Zia ul Haqq Gewalt und Extremismus in der pakistanischen Gesellschaft ausbreiteten. Susanne Gupta stellt den Film vor.

Die pakistanische Regisseurin Sabiha Sumar zeigt in ihrem letztes Jahr in Locarno preisgekrönten Film "Silent Waters", wie sich unter Zia ul Haqq Gewalt und Extremismus sich in der pakistanischen Gesellschaft ausbreiteten. Susanne Gupta stellt den Film vor.

​​Der 17-jährige Saleem ist arbeitslos, hat viel Zeit, weiß aber nichts mit sich anzufangen. Unterbezahlte Jobs will er nicht, schon gar nicht als Bauer auf Feldern schuften. Da tauchen einige Islamisten im Dorf auf, die tatkräftige Männer suchen ... Wäre der Pakistaner zu einem anderen Zeitpunkt geboren, wäre seine Geschichte sicher eine andere. Doch sie spielt 1979.

Zwei Jahre zuvor hat General Zia ul-Haq die Macht übernommen und die Islamisierung eingeleitet. Und mit der Militärdiktatur geht die liberale Ära zu Ende. Diese Umbruchzeit thematisiert "Silent Waters", der erste Spielfilm einer pakistanischen Frau.

Nach dem 11. September 2001, der Pakistan schlagartig als Unterschlupf und Ausbildungszentrum von Terroristen ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit rückte, liefert Sabiha Sumar einen hochaktuellen Geschichtsfilm. Sie erzählt, wie Gewalt, Radikalisierung und Intoleranz in ihrem Heimatland Einzug hielten. Dabei lenkt sie den Blick auf die Basis, das kleine Dorf Chakhi, ein Mikrokosmos für die dramatischen Entwicklungen.

Boy meets Girl? Girl meets Boy?

Dort lebt Saleem mit der verwitweten Mutter, unweit der Grenze zu Indien. Ihr Auskommen ist knapp, doch statt zu arbeiten, trifft Saleem lieber seine Freundin. Heimlich tauschen die Verliebten Küsse und Träume aus.

Zubeida, die auf das College geht, verfolgt ehrgeizige Pläne – sie möchte viel Geld verdienen. Saleem allerdings, der in traditionellen Rollen denkt, sieht darin nichts Gutes – "Sklave" einer erwerbstätigen Frau zu sein. Von nun an geht's bergab:

Mangelnde Ausbildung und Perspektive, verqueres Männlichkeitsbild, Sinnsuche und Träume von etwas Größerem treiben Saleem in die Arme der Fundamentalisten. Sein Selbstwertgefühl steht auf Null, als im Radio von Zia ul-Haq Maßnahmen gegen die Korruption und die westliche Dekadenz ("westlich" = "obszöne Filme" mit Musik, Tanz und halb nackten Frauen) die Rede ist.

Die Vorkämpfer propagieren im Dorf den Gottesstaat: das islamische Recht, die Sharia, ist Staatsgrundlage. Ihre Parolen und ihre Großkotzigkeit wirken auf die Dorfbewohner befremdlich, aber Saleem fasziniert die kompromisslose Zielstrebigkeit.

Fütter mein Ego

"Endlich bin ich wer", erklärt er. Und gleich darf er beim Aufbau der "wahren islamischen" Gesellschaft anpacken: Als erstes kommt der "Schutz der Frauen" dran: Die Schulmauer wird unter dem Staunen von Zubeida erhöht. Schnell lernt Saleem das kleine Einmaleins des engstirnigen Denkens: Ein Islamist sagt, "in unserer Kultur gibt es keine Liebesheirat". Ergo ist freie Liebe unwürdig, weil schmutzig.

Die Gruppenzugehörigkeit verlangt, Zubeida zu verlassen. So zeichnet "Silent Waters" nach, was inzwischen Realität ist: Nicht nur im Kino sind Küsse tabu. Zia ul-Haqs erließ unter wachsendem Einfluss radikaler Kräfte zahlreiche restriktive Gesetze, zum Beispiel die Steinigung nach außerehelichem Geschlechtsverkehr.

Mord an Frauen ist legitimiert, wenn mit dem Verlust der Jungfräulichkeit die Familienehre auf dem Spiel steht. Sumar analysiert diesen Wandel, den unauflösbaren Konflikt zwischen westlicher Moderne und ihren Ideen wie der Emanzipation und einem politisch und ideologisch aufgeladenen Islam in der Krise.

Bereits in ihren Dokumentarfilmen, "Who will cast the first stone" 1987 oder in "For a Place under the Heavens 2003" geht die in Karachi geborene Regisseurin Ursachen für die Beschneidung von Frauenrechten nach.

Film als geschichtliches Gedächtnis

"Silent Waters" ist ein Kunstwerk, vor allem beweist Sumar darin eine gekonnte psychologisierende Inszenierung ihrer Figuren. Einfühlsam stellt sie dar, wie die islamistische Ideologie wirkt; als Verführung und als zerstörerisches Gift. Gezeigt werden die Mechanismen von Gruppenzwängen und das für Saleem unerträgliche Schamgefühl.

In dem neuen Klima nimmt auch die Diskriminierung von Minderheiten (Sikhs, Shia-Muslime) und die Ächtung Andersgläubiger zu. Als Sikh-Pilger aus Indien ihre Heiligtümer besuchen, ist Saleem in einer Radikalen-Demo dabei und verstößt so seine Mutter, die den toleranten Sufi-Islam lebt.

Hier schlägt Sabiha Sumar ein Kapitel einer bis heute verschwiegenen Vergangenheit auf. Wieder steht der nicht nur aus Frauenperspektive so problematische Ehrbegriff zur Debatte.

Schrecken ohne Ende

1947 erlebte der Subkontinent mit der Unabhängigkeit die Staatenteilung in Indien und Pakistan. Es kam zum Blutbad zwischen Hindus, Sikhs, Muslimen, und zur Massenflucht. Eine Million Menschen wurde getötet, 14 Millionen vertrieben, tausende Frauen vergewaltigt, circa 50.000 Muslima und 33.000 Hindu- und Sikh-Frauen nach Pakistan verschleppt.

Noch heute gibt es Bemühungen beider Staaten um die Rückkehr dieser Frauen. Insofern ist das Schicksal der Mutter Ayesha von Tatsachen inspiriert. Ihr Vater, ein Sikh, drängt sie, in den Brunnen zu springen, um durch Selbstmord Vergewaltigung und Entehrung zu entgehen.

In Folge ihrer Weigerung heiratet sie ihren Entführer und nimmt als Muslimin eine neue Identität an. Dennoch bleibt das Stigma. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft, die Abkehr von Saleem weisen ihr im Suizid den einzigen Ausweg.

Mit "Silent Waters", der mit europäischen Geldern gedreht werden konnte, hat Sabiha Sumar ihren "tiefsten Ängsten bezüglich religiöser und politischer Intoleranz" Ausdruck verliehen, "nicht nur in Pakistan, sondern in der ganzen Welt".

Ein mutiger Film, der Pakistan, das heute zerrissen ist zwischen den an der Theokratie orientierten und demokratischen Kräften, die starke Vision einer offenen Gesellschaft entgegenhält.

Susanne Gupta

© fluter.de

Susanne Gupta ist freie Autorin für Radio, TV, Print und Web. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Indien.

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