Zuviel des Guten

Mit Ramadan ist es wie mit dem Islam als Ganzem: Aus der Entfernung hat man Angst vor ihm, unmittelbar erlebt ist er wunderbar. Wären da nicht die warnenden Zwischenrufe aus einem verständnislosen Umfeld und die Appelle frömmelnder "Hardcore"-Fastender. Eine persönliche Bestandsaufnahme von Anja Hilscher

Essay von Anja Hilscher

"Waaas, du fastest?? Bei der Hitze?!", rief meine Freundin empört. "Aber trinken wirst du doch dürfen?" "Nee, auch nicht. Bis Sonnenuntergang!" "WIE bitte? Das ist ja erst um viertel vor ZEHN! Bis dahin nichts trinken? Wie soll das denn gehen?? Da geht's ja nachher nur noch ums nackte Überleben, was?" "Aber knallhart!", stieß ich nur genervt zwischen den Zähnen hervor. Man soll ja im Ramadan nicht zanken.

"Trinken wird Ihr Gott doch wenigstens erlauben?!", fragt die Ärztin meine Freundin - eine 65-jährige, grauhaarige Dreadlockträgerin. "Nein, trinken tun wir auch nicht!", antwortet Aisha langmütig und lächelt nur gequält - geläutert durch jahrzehntelange Übung im Umgang mit dümmlichen Fragen und schlechten Argumenten. Es gibt eben ziemlich viele Leute, die sich nicht vorstellen können, dass es Menschen gibt, die anderen Dingen einen höheren Stellenwert einräumen als dem eigenen Wohlergehen.

Erbarmen! - Zu spät! Die Hardcores kommen!

Meiner Ansicht nach gibt es zwei problematische Gruppierungen, die einem den Ramadan hierzulande oft ein bisschen vermiesen: Erstens die zuweilen regelrecht aggressiven Nichtmuslime. Und zweitens die Muslime selbst.

Erst gestern kam ich in einem Lebensmittel-Discounter mit einer älteren Frau mit Kopftuch ins Gespräch, der ich "Ramadan mubarak" gewünscht hatte. "Ich haben keine Probleme", erwiderte sie daraufhin. "Letzte Woche war ich im Krankenhaus und habe trotzdem gefastet. Und mein Vater in Mazedonien ist 86. Auch er fastet! Dort ist es über vierzig Grad!" Nette Omi. Trotzdem verdrehte ich innerlich die Augen.

Jugendliche beim Fastenbrechen während des Ramadans in Istanbul; Foto: Kürşat Akyol
Faszination "Iftar": "Kein Mensch, der es nicht ausprobiert hat, kann sich ausmalen, wie wunderbar dieses erhebende Gefühl des gemeinsamen Fastenbrechens ist. Der Moment, ab dem man – mit einem nie gekannten Appetit! – endlich essen darf, hat für mich durchaus eine spirituelle Komponente", schreibt Hilscher.

Denn mit dem Fasten verhält es sich genau so, wie meine Freundin mir es einmal klug vermittelt hat: Der "mittlere Weg", den der Islam anstrebt, ist wirklich erstrebenswert – zwischen deutschem Gesundheitskult und extremen Hardcorefasten (bzw. dem Gegenteil davon, nämlich, den Ramadan zu einer einmonatigen Dauerparty umzufunktionieren).

Meist zeigen sich die lieben Geschwister im Ramadan von ihrer anstrengendsten Seite und überhäufen einen, über diverse Social-Media-Kanäle, mit blinkenden Glück- und Segenswünschen, illuminierten Moscheen, frommen Ramadanliedern, Youtube-Links, Hadithe (Überlieferungen des Propheten) und Koranversen.

Noch schlimmer jedoch: Das Wetteifern in guten Taten und moralintriefenden Ermahnungen. Nicht nur, dass zahlreiche Muslime trotz der im Koran immer wieder zu findenden Aufforderung, sich nicht über Gebühr zu belasten, trotz Kopfschmerzen, Kreislaufproblemen und sogar chronischer Krankheiten wie Bluthochdruck fasten - und unter Umständen so ihr Leben aufs Spiel setzen. Ist es damit getan? Keineswegs!

Askese total

Einer Überlieferung des Propheten zufolge negieren Lästereien, Lügen oder falsche Schwüre das Fasten gänzlich. Das leuchtet ein. Denn der tiefere Sinn des Ramadans ist ja, sich spirituell zu reinigen und den inneren Schweinehund zu bekämpfen. Manche Muslime sind aber der Ansicht, dass man 30 Tage lang pausenlos freiwillig beten, gute Taten verrichten oder in den Koran vertieft sein müsse.

Und wer nun denkt, abends würde in solchen Kreisen dann gefeiert, gelacht und fern gesehen, der kennt eben diese ganz Hartgesottenen nicht (ganz zu schweigen von den Salafisten – und ich möchte auch lieber gar nicht erst wissen, wie sich der Verhaltenskodex in ihren Kreisen während des Ramadans wohl darstellen mag!).

Wenn die Sonne unter geht, essen sie wohl erst eine Dattel – oder auch zwei... manche vielleicht sogar eine Suppe - und verrichten dann ausgiebig das Abendgebet. Anschließend essen sie richtig (und keineswegs immer Unmengen Gesottenes und Gebratenes), um hinterher weiter zu beten: Besonders langsam und besinnlich wird das sogenannte Isha-Gebet verrichtet.

Muslime beim Iftar in Bangladesch; Foto: DW/Mustafiz Mamun
Symbolische Geste der Barmherzigkeit: "Die meisten Vorteile hat der Ramadan aber wohl für die Armen. Zunächst einmal ist das Fasten für Leute, die es eh gewohnt sind, oft einen leeren Magen zu haben, leichter zu ertragen als für verwöhnte Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Vor allem aber haben die Armen abends außerdem die Gelegenheit, sich endlich einmal satt zu essen", schreibt Hilscher.

Anschließend folgt das Ramadan-Extra-Gebet, das Taravi (bei uns auch "Marathon-Gebet") genannt. Dieses umfasst, je nach islamischer Strömung, so viele Rakats (Gebetsabschnitte), dass ich im Halbschlaf stets aufgehört habe, mitzuzählen – wohl so irgendwas um zwölf herum. Anschließend schläft man, wenn überhaupt, zwei, drei Stündchen, um sich zu weiteren freiwilligen Gebeten und aufwendigem Frühstückmachen, gefolgt von Frühstück, Fadjr-Gebet und Koranrezitationen, wieder zu erheben. Und wenn dann der Morgen graut, ruft der Achtstundentag! Der Witz ist: Die allermeisten dieser Handlungsanweisungen tauchen zwar in der Sunna auf, sind aber keineswegs verpflichtend.

Während in vielen islamischen Ländern die Muslime bisweilen recht lax mit den Geboten umgehen, erlebt man, wie hierzulande bestimmte Muslime zur besonderen Frömmigkeit neigen. Das ist ja auch schön und gut. Und im Übrigen psychologisch nachvollziehbar. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Tage hierzulande endlos sind und sich fast schon wie ein Zombie in einer verständnislosen Alltagswelt bewegt. Ob das der Sinn der Sache ist? Wohl kaum. Im Koran jedenfalls heißt es: "Allah wünscht Euch erleichtert, und nicht beschwert" (Sure 2, Aya 185)

Es könnte alles so einfach sein...

Der Ramadan steckt voller Weisheit – richtig praktiziert. Der tiefere Sinn des islamischen Fastenmonats ist nicht, tagsüber "Kohldampf zu schieben" und die Zeit bis zum Sonnenuntergang herumdösend totzuschlagen. Ebenso wenig ist allerdings strikte Askese und chronische Übermüdung erstrebenswert. Der Islam ist der "Weg der Mitte". Und der Ramadan sollte eigentlich eine Zeit der inneren Einkehr sein, in der man aber trotzdem soziale Kontakte pflegt und gemeinsam isst.

Kein Mensch, der es nicht ausprobiert hat, kann sich ausmalen, wie wunderbar dieses erhebende Gefühl des gemeinsamen Fastenbrechens ist. Der Moment, ab dem man – mit einem nie gekannten Appetit! – endlich essen darf, hat für mich durchaus eine spirituelle Komponente. Das entspricht durchaus der islamischen Lehre, denn die "Zeichen Gottes" finden sich überall: im Alltag, in der Natur, in sinnlichen Genüssen.

Anja Hilscher; Foto: privat
Anja Hilscher, Mutter, Lebenskünstlerin und nebenberuflich Deutschlehrerin, konvertierte vor einem runden Vierteljahrhundert zum Islam. Vor sechs Jahren erschien ihr erstes Buch "Imageproblem - das Bild vom bösen Islam und meine bunte muslimische Welt". Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Norddeutschland.

Der Ramadan hilft, Süchte zu erkennen und zu überwinden. Und "islamentfremdete" Muslime bekommen jedes Jahr die Gelegenheit, wieder ein bisschen religiöser zu werden (zumindest probehalber). Zumal man in dieser Zeit mehr Kontakt zu anderen Muslimen hat, etwa weil man gemeinsam das Fasten bricht oder zur Moschee geht.

Die meisten Vorteile hat der Ramadan aber wohl für die Armen. Zunächst einmal ist das Fasten für Leute, die es eh gewohnt sind, oft einen leeren Magen zu haben, leichter zu ertragen als für verwöhnte Angehörige der Mittel- und Oberschicht. Vor allem aber haben die Armen abends außerdem die Gelegenheit, sich endlich einmal satt zu essen. Da die "Armenspeisung" im Ramadan ein besonders verdienstvoller Tag ist, wird nämlich in vielen Moscheen abends Essen ausgeteilt, oder reiche Restaurantbesitzer stellen einfach Tische auf die Straße, die für den Iftar gedeckt werden.

"Wo bleibt denn da das Spirituelle?"

Es ist schon eine ziemlich große Herausforderung, in einer weitgehend islam- und überhaupt religionsfreien Umgebung zu fasten. Andererseits können durchaus auch Muslime nerven.

Außerdem, so gab mir eine Bekannte zu bedenken, komme für sie in Deutschland gerade deshalb mehr "Ramadan-Feeling" rüber als etwa in Tunesien, wo viele Leute den halben Tag schlichtweg verschlafen, um dann um Essen zu machen aufzustehen und anschließend gemeinsam ausgiebig zu tafeln. "Wo bleibt denn da das Spirituelle? Das kann's ja wohl nicht sein!", resümmierte sie. Das leuchtete mir ein, obwohl ich bisher immer davon geträumt hatte, den Ramadan in einem islamischen Land zu verbringen.

Selbst bin ich auf diesen Gedanken noch gar nicht gekommen. Dies aus dem einfachen Grund, weil ich selbst meine knapp zwanzig Ramadane ausschließlich in Deutschland erlebt habe. Vielleicht doch nicht das Schlechteste, wenn ich so darüber nachdenke. Das Gras ist auf der anderen Seite bekanntlich immer grüner.

Anja Hilscher

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