Alles ist besser als der Status quo

Wer Schleuser militärisch bekämpft, erhöht auch die Unsicherheit für die Flüchtlinge. Wie kann Europa seine Flüchtlingspolitik reformieren, ohne sich zu belügen? Von Julian Lehmann

Von Julian Lehmann

An Wissen mangelt es nicht. Täglich erfährt die Öffentlichkeit von der Überfahrt Asylsuchender über das Mittelmeer, von geglückten und gescheiterten Versuchen, die Landgrenze der EU zu überqueren, von Menschen, die jämmerlich ertrinken. Trotzdem sind wir noch nicht zu einem vernünftigen Umgang mit der Krise gelangt.

Die Fronten sind verhärtet zwischen jenen, die jede Verantwortung von der EU weisen und jenen, die sie als Massenmörderin brandmarken. Keine dieser beiden Seiten bietet praktikable Antworten an. Dabei wäre ein Konsens in greifbarer Nähe, wenn wir versuchen würden, besser zu werden, ohne uns zu belügen.

Zunächst ein Blick auf die Zahlen. Im Durchschnitt der letzten 15 Jahre haben 45.000 Menschen das Mittelmeer irregulär überquert; 2014 waren es mehr als 200.000, eine Zahl, von der auch für 2015 auszugehen ist. Ausgelöst wurde der Anstieg vor allem durch zwei Faktoren: den Krieg in Syrien und die Instabilität in Libyen und Ägypten. Diese Staaten lassen sich nicht wie früher dafür einzuspannen, Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern.

Massengrab Mittelmeer

Mit den steigenden Flüchtlingszahlen ist das Mittelmeer zum Massengrab geworden. Von den mehr als 18.000 Menschen, die seit 1998 beim Versuch ums Leben kamen, das Mittelmeer zu überqueren, starben mehr als 8.000 in den letzten vier Jahren. Von Recherchen im Schleusermilieu ist bekannt, dass die wachsende Verzweiflung und damit die "Nachfrage" auch solche Schleuser auf den Plan ruft, die sich nicht um ihre Reputation scheren – und noch unsicherere Passagen verkaufen, als andere es ohnehin tun. Deshalb war es noch nie so gefährlich wie heute, als Flüchtling das Mittelmeer zu überqueren.

Ein Jahr sticht in diesem Trend als Ausnahme heraus – 2014. In diesem Jahr wurde die höchste Anzahl von Todesfällen verzeichnet, obwohl die italienische Marine und Küstenwache ihre groß angelegte Seenotrettungsoperation "Mare Nostrum" unterhielten. Gleichzeitig war es aber auch das einzige Jahr, in dem der Anstieg der Überquerungen kaum mit einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit einherging, auf dem Mittelmeer ums Leben zu kommen. Schließlich gelang es den Italienern mit ihrem beispiellosen Einsatz, rund 130.000 Menschen zu retten.

Soldaten der Fregatte "Hessen" ziehen Flüchtlinge aus Lampedusa an Bord. Foto: Bundeswehr/PAO Mittelmeer/dpa
Fragwürdige Flüchtlingsabwehr: Die geplante Militäroperation gegen Schleuser wird die Preise zur unsicheren Überfahrt nach Europa für die Flüchtlinge erhöhen, die gefährliche Wartezeit davor in die Länge ziehen und sie letztendlich nur zur Umsiedlung auf Schlauchboote bewegen, meint Julian Lehmann.

Aus Sicht der Innenminister hat "Mare Nostrum" das Geschäft jener Schleuser gefördert, die sich am wenigsten um die Sicherheit der Flüchtlinge kümmern. Aus Sicht der Nichtregierungsorganisationen ist es die Einstellung von "Mare Nostrum", die nun die Todesfälle wieder steigen lässt.

Die Zahlen legen nahe, dass beides stimmt. Deswegen ist es für die EU auch keine Option, allein die Schleuser zu bekämpfen. Eine Militäroperation gegen Schleuser, wie sie die EU jetzt beschlossen hat, wird die Unsicherheit nur erhöhen. Sie wird die Preise treiben, die Menschen auf Schlauchboote ausweichen lassen und die gefährliche Wartezeit vor der Überfahrt verlängern. Ganz nebenbei blamiert sich die EU, wenn sie ihre diplomatischen Ressourcen im UN-Sicherheitsrat für eine rechtlich wie politisch zweifelhafte Initiative verfeuert.

Unsicherheit für die Flüchtlinge

Ausreichend Kapazitäten zur Seenotrettung bereitzustellen, sollte hingegen eine selbstverständliche gesamteuropäische Aufgabe sein. Unterlassene Hilfeleistung ist eine Straftat, und das Handeln an den Außengrenzen so auch Gradmesser für die Glaubwürdigkeit Europas.

Gleichzeitig ist nach den Erfahrungen von "Mare Nostrum" massive Seenotrettung auch keine Garantie dafür, sämtliche Todesfälle zu verhindern. Aus dem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg, solange in Syrien der Krieg tobt und in Eritrea die Diktatur – immerhin sind 40 Prozent der Asylsuchenden, die über das Mittelmeer kommen, Syrer und Eritreer. Nichtregierungsorganisationen fordern seit Langem legale Zugangswege nach Europa.

Doch auch diese Forderung hat ihre Kehrseite: Es bleibt unklar, wer die Menschen dafür nach welchen Verfahren auswählen würde. Hemdsärmelig wird vorgeschlagen, Asylbewerber mit Fähren in die EU zu bringen. Dürften nur Syrer, oder auch Eritreer und Somalier, die meist gleichfalls Verfolgung fürchten, an Bord?

Auch die Idee aus dem Bundesinnenministerium, "Asyl- und Willkommenszentren" in Nordafrika einzurichten, wäre mit praktischen wie rechtlichen Problemen behaftet. Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, in den Krisenländern Nordafrikas solche Zentren überhaupt einzurichten, könnten sie rasch zu Flüchtlingscamps werden, in denen die Menschen unter schlechten Bedingungen stranden.

Kein Königsweg in der Flüchtlingsfrage in Sicht

Schiffbrüchige an Bord der Fregatte "Hessen". Foto: picture-alliance/dpa/S. Jonack
Kein wirksames Instrumentarium, Schleusern das Handwerk zu legen: "Vermutlich wird keine Maßnahme außer dem Öffnen der Grenzen die Schleuser arbeitslos machen und damit das Sterben an den Grenzen beenden. Die Flüchtlingspolitik wird Tausende Leben retten und dabei doch ein Durchwursteln bleiben", moniert Julian Lehmann.

Australien macht die absurden Folgen einer "Auslagerung" vor. Die Kooperation mit Nachbarländern und der Betrieb von abschreckenden Auffanglagern auf Inselstaaten im Pazifik werden dort als "Pazifische Lösung" verkauft.

Nach Recherchen des britischen Guardian gibt Australien dafür jährlich 450.000 Euro für jede Person aus, die versucht, das Land zu erreichen – insgesamt rund 1,2 Milliarden Euro. Auf die Zahl der "irregulären" Einreisen in die EU hochgerechnet würde eine solche Politik die EU zehnmal so viel kosten – 10,2 Milliarden Euro, und damit etwa hundertmal mehr als eine gute Seenotrettung.

Neben einer solchen Seenotrettung bleibt für den Moment die beste Reaktion Europas, Transitstaaten noch stärker mit dem sogenannten Resettlement zu unterstützen, indem man vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge bereits anerkannte Flüchtlinge aus diesen Staaten aufnimmt. Dafür sind mehr als die beschlossenen 20.000 Plätze nötig.

Resettlement reagiert auch auf die Tatsache, dass nur jene, deren Gesundheit und Geldbeutel es erlauben, sich in eine Nussschale nach Europa begeben. Es ist das beste kurzfristige Mittel unter vielen schlechten. Kurzfristig sollten die EU-Staaten sich auch für das Asylverfahren einer großen Anzahl von in Italien ankommenden Asylbewerbern zuständig erklären, um Italien zu unterstützen. Das könnte zum Modell werden, um das Verteilungssystem in der EU so zu reformieren, dass die Außenstaaten entlastet werden.

Mittelfristig kann die EU ihr Asylunterstützungsbüro ausbauen und es zur Hilfe der Behörden in den südlichen Mitgliedstaaten einsetzen. Ebenfalls mittelfristig sollte eine stärkere Kooperation mit den Mittelmeer-Anrainern das Ziel haben, dort Asylsysteme zu schaffen, die diesen Namen verdienen. Hier geht der Plan der EU-Kommission in die richtige Richtung.

Keiner dieser Vorschläge ist perfekt. Vermutlich wird keine Maßnahme außer dem Öffnen der Grenzen die Schleuser arbeitslos machen und damit das Sterben an den Grenzen beenden. Die Flüchtlingspolitik wird Tausende Leben retten und dabei doch ein Durchwursteln bleiben. Aber selbst das ist besser als der Status quo.

Julian Lehmann

© Süddeutsche Zeitung 2015

Julian Lehmann arbeitet am Global Public Policy Institute (GPPi) und ist Mitautor des Buches "Schiffbruch. Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik".