Wir müssen die Türkei ernst nehmen

Die Einstellung Europas gegenüber der Türkei ist wichtig. Westliche Diplomaten sollten daher ihre Bemühungen um das Land intensivieren, um ein Ergebnis zu erzielen, das die demokratischen Werte reflektiert und den Interessen Europas und der Türkei entspricht, meint der ehemalige schwedische Außenminister Carl Bildt.

Essay von Carl Bildt

Istanbul im Westen der Türkei ist eine der bedeutendsten Städte Europas. Unter dem Namen Konstantinopel war sie die Hauptstadt der Reiche von Rom und Byzanz, und nach ihrer Eroberung und Umbenennung durch Mehmed II. im Jahr 1453 diente sie für beinahe weitere 500 Jahre als Hauptstadt des Osmanischen Reiches.

Während ihrer gesamten Geschichte war die Stadt an der Westseite der Bosporus-Meerenge, die Europa von Asien trennt, ein Epizentrum der Beziehungen zwischen den geopolitischen Regionen des Westens und des Ostens. Und angesichts dessen, wie wichtig die Beziehungen des überwiegend christlichen Europas zur muslimischen Welt im Moment sind, wird Istanbul diese Rolle mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin einnehmen.

Die Türkei selbst ist aus den Ruinen des Osmanischen Reiches hervorgegangen. Das politische Leben des Landes mit seinen konkurrierenden Visionen und Zielen sowie Erfolgen und Rückschlägen war oft sehr turbulent. Und trotzdem haben sich Reformer im Zuge ihrer Bemühungen, die Türkei zu modernisieren, in den letzten beiden Jahrhunderten immer wieder Europa zugewandt.

Sicherlich traf dies auf den ersten türkischen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk zu, der in den 1920er und 1930er Jahren autoritäre Reformen zur Säkularisierung seines Landes durchsetzte. Und sicherlich galt dies in der Vergangenheit auch für Recep Tayyip Erdoğan, der sich, zunächst als Ministerpräsident und dann als Präsident, in den letzten dreizehn Jahren auf der Weltbühne als überragende Persönlichkeit etabliert hat.

Erdoğan und seine "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) haben ihr erstes Jahrzehnt an der Macht dazu genutzt, eindrucksvolle wirtschaftliche und zum Teil auch demokratische Reformen durchzusetzen. Die Türkei, deren wirtschaftlicher Wandel bereits durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Zollunion vorangetrieben wurde, hat sich in dieser Zeit zunehmend für eine mögliche Mitgliedschaft in der EU qualifiziert – ein Prozess, der die Motivation des Landes, bei seinen demokratischen Reformen Fortschritte zu erzielen, noch verstärkt hat. Die Hoffnung, das Land habe seine unruhige Geschichte militärischer Diktaturen endlich überwunden, nahm immer mehr zu.

Entfremdung von Europa

Aber in den letzten Jahren hat sich viel verändert. Die Beitrittsgespräche der Türkei mit der EU sind beinahe zum Stillstand gekommen, was zum Teil daran lag, dass die Türkei von einigen EU-Mitgliedstaaten unverhohlen abgelehnt wird. Die Motive hinter dieser Feindschaft sind vielfältig, aber allgemein hat sie dazu geführt, viele Türken zu entfremden und ihnen das Gefühl zu geben, dass das Europa, von dem sie einst inspiriert waren, sie heute ablehnt. So gesehen überrascht es nicht, dass manche Türken nun an anderen Orten nach Inspiration und Gelegenheiten Ausschau halten.

Fethullah Gülen in seinem Haus in Saylorsburg, Pennsylvania, am 29. Juli 2016; Foto: Reuters/C. Mostoller
Vom Partner zum Rivalen: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan macht Anhänger der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen für den gescheiterten Putschversuch in der Türkei verantwortlich. Die türkische Regierung hatte in Washington formell die Auslieferung Gülens beantragt, der im selbst gewählten Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania lebt. Die USA verlangen für eine Auslieferung Gülens jedoch eindeutige Beweise.

Darüber hinaus hat sich die innenpolitische Lage der Türkei in den letzten Jahren verschlimmert. Unter dem Druck der eskalierenden Konflikte in Syrien und im Irak wurde die türkische Gesellschaft auf gefährliche Weise polarisiert. Nach einem langen Waffenstillstand lebt die Bedrohung durch militante kurdische Gruppierungen wieder auf, und Istanbul und Ankara wurden zum Opfer einer Reihe von Terroranschlägen des „Islamischen Staates“. Dass die Türkei unter solchen Bedingungen immer noch in der Lage ist, bis zu drei Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, ist ein Zeichen der Widerstandskraft des Landes.

Seit 2013 leidet die türkische Politik außerdem unter einem rücksichtslosen und immer destruktiveren verdeckten Bürgerkrieg zwischen der AKP und ihren ehemaligen Verbündeten der Gülen-Bewegung, einer islamischen Gemeinschaft unter der nominellen Führung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der heute in den Vereinigten Staaten in der Nähe von Philadelphia im Exil lebt.

Einst standen die AKP und die Gülenisten Seite an Seite im Kampf gegen den kemalistischen „starken Staat“ – ein angebliches Netzwerk antidemokratischer und nationalistischer Kräfte innerhalb der staatlichen Sicherheitsstrukturen, das sich für den Fortbestand von Atatürks säkularer Vision einsetzte. Diese gemeinsamen Bemühungen mündeten im Jahr 2007 unter anderem in Schauprozesse gegen hochrangige türkische Generäle, die auf gefälschten Beweisen beruhten – eine Episode, über die heute viele glauben, dass sie das Land auf Abwege geführt habe.

Der stille Bürgerkrieg

Die Folgejahre waren durch Warnungen vor einer gülenistischen Infiltrierung der Polizeikräfte, des Rechtswesens und Teilen des Militärs geprägt. Dieser stille Bürgerkrieg hat die demokratische Entwicklung des Landes massiv zerrüttet. Die gewählte Regierung greift als Antwort auf die gefühlte Bedrohung durch subversive Gülenisten immer stärker zu autoritären Maßnahmen.

Wahrnehmbar wurde dieser Bürgerkrieg dann durch den gescheiterten Putschversuch im Juli, der nach Ansicht der meisten Beobachter durch gülenistische Kräfte gesteuert wurde, auch wenn Gülen selbst jegliche Beteiligung dementiert. Wäre dieser Putschversuch erfolgreich gewesen, wäre die Türkei wahrscheinlich in einen offenen Bürgerkrieg ohne absehbares Ende gestürzt, der jegliche Hoffnung auf Demokratie zunichte gemacht hätte.

Ein Silberstreif am Horizont des Putschversuchs besteht immerhin darin, dass er nach Jahren der Spaltung zu einer Einigung der demokratischen Parteien auf das gemeinsame Ziel der Verteidigung der Demokratie gegen zukünftige innenpolitische Bedrohungen geführt hat. Der Mangel an Mitgefühl des Westens für die Türkei während dieser traumatischen Zeit ist erstaunlich. Dass der russische Präsident Wladimir Putin der erste war, der sich nach dem Putschversuch mit Erdoğan getroffen hat, kann nicht im Interesse der westlichen Länder liegen.

Pro-government rally in Sarachane Park, Istanbul, on 19 July 2016 (photo: Reuters/A. Konstantinidis)
"Eine demokratische und europäische Türkei könnte eine Brücke sein, die der muslimischen Welt zu Reformen und Modernität verhilft. Eine autoritäre und entfremdete Türkei hingegen könnte dazu führen, dass Europas östliche Grenzländer erneut von Kampf und Konflikten überzogen werden", warnt Carl Bildt in seinem Essay.

Und niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei nun versucht, die Gülenisten aus ihren Machtpositionen zu vertreiben. Jeder andere Staat, der einer Revolte von innen ausgesetzt war, würde das Gleiche tun. Sicherlich dürfen wir die Misshandlungen bei den Razzien direkt nach dem Putschversuch nicht ignorieren, aber wir müssen uns auch in die Lage der Behörden versetzen. Ob die Regierung in dieser Phase das Netz zu weit oder zu eng knüpft, ist schwer zu beurteilen, aber in beiden Fällen könnten durch Fehler neue Probleme geschaffen werden.

Immerhin haben ranghohe türkische Beamte bei einem Treffen mit Thorbjørn Jagland, dem Generalsekretär des Europarats, versprochen, in Übereinstimmung mit der Ratsmitgliedschaft des Landes den Rechtsstaat zu schützen. Auf jeden Fall hat der Rat damit Möglichkeiten, nach dem Abklingen der akuten Turbulenzen eventuellen Fällen von Machtmissbrauch nachzugehen.

Am historischen Scheideweg

Die Türkei befindet sich an einem historischen Scheideweg, aber es ist noch zu früh zu sagen, wohin sich das Land bewegt. Hält der bisherige Trend hin zu Polarisierung und Autoritarismus an, könnte das Land vor einer Zerreißprobe stehen. Trägt aber letztlich die nationale Einheit auf der Grundlage einer gemeinsamen Verpflichtung zur Demokratie den Sieg davon, wird sich das politische Klima in der Türkei verbessern und eine Wiederaufnahme des kurdischen Friedensprozesses ermöglichen. Dann könnten auch weitere politische Reformen folgen, die das Land progressiver machen und neue Hoffnung auf eine zukünftige Integration innerhalb von Europa bringen würden.

Und über eins sollte man sich nicht täuschen: Die Einstellung des Westens gegenüber der Türkei ist wichtig. Die westlichen Diplomaten sollten ihre Bemühungen um das Land massiv verstärken, um ein Ergebnis zu erzielen, das die demokratischen Werte widerspiegelt und sowohl den westlichen als auch den türkischen Interessen entgegenkommt.

Eine demokratische und europäische Türkei könnte eine Brücke sein, die der muslimischen Welt zu Reformen und Modernität verhilft. Eine autoritäre und entfremdete Türkei hingegen könnte dazu führen, dass Europas östliche Grenzländer erneut von Kampf und Konflikten überzogen werden. Was am Bosporus geschieht, hat Auswirkungen auf uns alle.

Carl Bildt

© Project Syndicate 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Carl Bildt war von 2006 bis 2014 schwedischer Außenminister.