Der bürokratische Blick auf die Türkei

Der EU-Fortschrittsbericht zur Lage in der Türkei klammert die aktuelle Krise im Kurdengebiet aus und wirkt in diesem Punkt realitätsfern. Doch dank dieser nüchternen Taktik ist überhaupt ein Verhandlungsfortschritt möglich, schreibt Daniela Schröder.

Die Türkei muss dringend mehr Tempo bei politischen Reformen machen, forderte EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn bei der Vorstellung des Berichts in Brüssel. Vor allem der Paragraph über die so genannte Beleidigung des Türkentums sei umgehend aufzuheben oder abzuändern.

Andernfalls könnten die EU-Beitrittsverhandlungen in dem als zentral erachteten Politikbereich Justiz und Grundrechte nicht beginnen.

"Es ist nicht akzeptabel, dass in einer europäischen Demokratie Schriftsteller, Journalisten oder andere Bürger verfolgt werden, wenn sie kritisch, aber gewaltfrei ihre Meinung äußern", betonte Rehn. Der mittlerweile berühmt-berüchtigte Artikel 301 ist der EU schon lange ein Dorn im Auge.

Brüssel ist skeptisch, ob jüngste Reformversprechen des neuen Staatschefs Abdullah Gül mögliche Ermittlungen gegen kritische Intellektuelle künftig verhindern.

Allgemein beklagt der alljährliche EU-Bericht einen Reformstau in der Türkei. Die Krise um den neuen Staatspräsidenten sei eine schwierige Zeit gewesen, sagte Rehn und lobte, dass der "politische Aufruhr" demokratisch beigelegt wurde.

Nun aber gelte es, die Reformen wieder zu beleben. Neben mehr Meinungsfreiheit fordert die Kommission von der Türkei gleichwertige Rechte für Frauen und Kinder, für Gewerkschaften und für die Christen im Land.

Kurden und die PKK – ein heikles Thema

Zudem verlangt die oberste EU-Behörde, dass die Regierung in Ankara die mächtige Armee politisch in die Schranken weist. Auch müssten die Kurden, mit rund 15 Millionen Menschen die größte ethnische Minderheit in der Türkei, "volle Rechte und Freiheiten" erhalten.

Angesichts der Angriffe kurdischer Rebellen aus dem Nord-Irak kamen diese Forderungen in einer kritischen Situation. Wie sich ein türkischer Militärschlag gegen die Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans auf den EU-Beitrittsprozess auswirken könnte, darüber wollte Rehn dann auch nicht spekulieren. Eine klare Aussage wäre heikel, schließlich stufen nicht nur die Türkei und die USA, sondern auch die EU die PKK als Terrororganisation ein.

Unsensibel wirkende EU-Bürokratie

Zu einem Zeitpunkt, da sich die Menschen in der Türkei von Terroristen bedroht fühlen, wirkt der Kommissionsbericht mit seiner langen Meckerliste über große und kleine Probleme im Beitrittskandidatenland fehl am Platz.

Doch die unsensibel wirkende Nichtaktualität der EU-Bürokratie hat System. Brisante Themen wie Konflikte und Krieg spielen in Untersuchungen von Reformfortschritten auf dem langwierigen Weg in die EU keine Rolle, sagen Kenner des Prozesses.

Der finnische Erweiterungskommissar Rehn setzt daher auf stilles Weitermachen. In den kommenden Wochen will er die unproblematischen Verhandlungskapitel "Verbraucher- und Gesundheitsschutz" und "Transeuropäische Verkehrs- und Energienetze" aufschlagen.

In den vergangenen Jahren starteten die Gespräche erst in vier von 33 Bereichen. EU-Beitrittskandidat Kroatien hat im gleichen Zeitraum bereits 14 Kapitel erreicht.

Exklusive Hürden für die Türkei

Die EU verhandelt seit Oktober 2005 mit der Türkei über einen Beitritt, der vor 2020 als unwahrscheinlich gilt. Zwar ist das gemeinsame Ziel der Verhandlungen die Vollmitgliedschaft. Automatisch beitreten wird die Türkei jedoch auch dann nicht, wenn sie alle Kriterien erfüllt.

Ob die EU die Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann, wird am Ende der Verhandlungen ebenfalls eine Rolle spielen.

Diese beiden Hürden für das muslimisch geprägte Land gelten für keinen anderen EU-Beitrittskandidaten. Die EU-Meinungen über einen Türkei-Beitritt liegen weit auseinander.

Während vor allem Großbritannien und Schweden für ein Weitermachen in den Verhandlungen plädieren, macht sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy für ergebnisoffene Gespräche stark.

Einige EU-Staaten vermuten, dass Sarkozy eine von ihm für Dezember geplante Expertenkommission zur Zukunft der EU nutzen will, um eine Empfehlung gegen die Aufnahme der Türkei zu gewinnen. Privilegierte Partnerschaft anstatt Vollmitgliedschaft, das ist auch im Sinne der deutschen Konservativen.

Europas Wankelmut und Ankaras Stolz

"Die Türkei ist ein sehr stolzes Land, bei einem Nein zum Beitritt würde sie eine enge Partnerschaft mit der EU ablehnen", sagt Katinka Barysch, Vize-Direktorin und Türkei-Expertin des Londoner "Centre for European Reform". Da die EU nicht mit einer gemeinsamen Stimme spreche, habe das Interesse Ankaras ohnehin nachgelassen; die EU-Verhandlungen seien derzeit nicht Chefsache.

Beitrittsbefürworter in der EU fürchten, dass die Türkei irgendwann die Nase voll haben könnte. Für die alternde und energiehungrige EU aber sei das Land zu wichtig, als dass man ihm die Tür vor der Nase zuschlagen könne.

Die geopolitische Lage der Türkei dagegen wird in der EU mit gemischten Gefühlen gesehen. Während die einen von einer Brückenfunktion zur muslimischen Welt sprechen, warnen andere vor den zahlreichen Konflikten in den Nachbarstaaten des Landes.

"Die EU muss endlich aufhören mit der Ambiguität, sie muss klipp und klar sagen, wie sie zu einem Beitritt der Türkei steht", sagt Barysch. Doch ob die EU-Staaten das Land überhaupt aufnehmen wollen, auf diese Grundsatzfrage will Brüssel derzeit aus gutem Grund gar keine Antwort.

Bürokratisch nüchterne Fortschrittsberichte scheinen das beste Mittel zu sein, um den langwierigen Beitrittsprozess überhaupt am Leben zu halten.

Daniela Schröder

© Qantara.de 2007

Daniela Schröder arbeitet als freie EU-Korrespondentin in Brüssel.

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