Die neue Eiszeit im türkisch-europäischen Verhältnis

Die Türkei entfernt sich von der Europäischen Union – die Staatengemeinschaft muss sich darauf vorbereiten. Ein Kommentar von Nassir Djafari

Von Nassir Djafari

Seit mehr als einem halben Jahrhundert bemüht sich die Türkei, der EU beizutreten. Im Jahr 2005 begannen nach bemerkenswerten Reformanstrengungen der Türkei die Beitrittsverhandlungen. Doch da war die Luft schon raus. Die Türkei hatte sich zu einem der führenden Schwellenländer entwickelt, das stärkte das nationale Selbstbewusstsein.

Heute ist der Blick auf Europa kritischer, zumal das große Vorbild selbst von Krisen erschüttert ist. Die Türkei hingegen sieht sich selbst nun als Regionalmacht und globaler Akteur. Der Westen ist nicht mehr einziger Partner.

Mit dem syrischen Bürgerkrieg haben sich die außenpolitischen Koordinaten der Türkei nochmals verschoben. Drei Faktoren sind dabei wesentlich: der Staatszerfall im Nahen Osten, der islamistische Terror und die Massenflucht von Kriegsopfern nach Europa. Alle drei Aspekte sind für den Zusammenhalt und die Sicherheit Europas bedeutsam.

Die Kriege im Irak und Syrien haben alte und teilweise neue Gräben zwischen Ethnien und religiösen Gruppen aufgerissen. Die Kurden beweisen, dass sie eine der wirkungsvollsten Gegner der Terrormiliz IS sind und versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre seit Jahrhunderten ersehnte Autonomie durchzusetzen.

Obwohl der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan 2012 den Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK begonnen hatte, ging er angesichts des neuen kurdischen Selbstbewusstseins wieder zur Konfrontation über.

Schulterschluss mit Russland

Zugleich griff die Türkei in den syrischen Bürgerkrieg ein, um den Vormarsch der kurdischen Volksbefreiungskräfte YPG zu verhindern, wobei die Regierung auch nicht davor zurückschreckte, verdeckt mit dem IS zu kooperieren. Seither befindet sich die Türkei im Krieg gegen die Kurden, sowohl zu Hause als auch im Nachbarland. Mit ihrer Intervention in Syrien und dem Irak will sie sicherstellen, bei der späteren Neuordnung des Nahen Ostens ein gewichtiges Wort mitreden zu können. Dazu sucht sie nun den Schulterschluss mit Russland.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: Getty Images/AFP/A. Altan
Keinen EU-Beitritt der Türkei "um jeden Preis": Der türkische Präsident Erdoğan bemängelte unlängst erneut die zögerliche Haltung Europas im Beitrittsprozess. „Die EU hält uns seit vollen 53 Jahren hin“, erklärte er. Die Beitrittsgespräche zwischen der Europäischen Union und der Türkei stecken schon länger in einer Sackgasse. Das Vorgehen der türkischen Behörden unter anderem gegen Opposition und Medien nach dem Putschversuch hat den Streit zwischen beiden Seiten zusätzlich verschärft. In der EU mehrten sich zuletzt Forderungen, die Beitrittsgespräche auszusetzen.

In dieser Lage erwächst dem Land durch den Flüchtlingsstrom nach Europa unverhofft eine zusätzliche strategische Bedeutung. Mit dem Flüchtlingsabkommen vom März 2016 hält die Türkei den Schlüssel zur Sicherung der europäischen Außengrenzen in der Hand. Als Gegenleistung stellt die EU die Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsbürger in Aussicht. Hierfür muss das Land allerdings unter anderem seine Anti-Terrorgesetze reformieren. Angesichts mehrerer gewaltsam ausgetragener Konflikte, die das Land erschüttern, erscheint dies unwahrscheinlich.

Zum neu entfachten bewaffneten Konflikt mit der PKK kommt nun auch noch der Bombenterror der Islamisten hinzu, nachdem sich die Türkei unter internationalem Druck gezwungen sah, die Unterstützung für den "Islamischen Staat" aufzugeben. Der in den vergangenen Jahren zunehmend autoritäre Regierungsstil Erdoğans ging seit der Niederschlagung des Militärputsches vom Juli 2016 in offene Repression gegen Andersdenkende und der Gleichschaltung staatlicher Institutionen über. Die Türkei ist selbst zu einem Unruheherd geworden.

Wachsende Entfremdung

Europa und die Türkei haben schon immer miteinander gefremdelt, doch jetzt vollzieht sich eine wachsende Entfremdung zwischen beiden Seiten. Auch wenn es offiziell nicht ausgesprochen wurde, glaubt keiner der Beteiligten noch an den EU-Beitritt der Türkei. Die gegenseitigen Vorwürfe werden heftiger. Während EU-Politiker aus Furcht vor der Beendigung des Flüchtlingsabkommens ihre Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in diplomatische Worte kleiden, ist Erdoğans Eskalationsstrategie längst zum Selbstläufer geworden.

Im Grunde genommen geht es doch jetzt nur noch darum, welche Seite die Beitrittsverhandlungen aussetzt. Für Europa wären damit hohe Risiken verbunden, nicht nur weil mit dem Scheitern des Flüchtlingsabkommens die Migrationsströme wieder anschwellen würden. Die Türkei würde enger an Russland rücken, und die Lösungen für den Syrienkonflikt würden zusätzlich erschwert.

Auch die Türkei hätte viel zu verlieren, schließlich ist die EU mit Abstand der größte Handelspartner des Landes. Die Jahre hohen Wirtschaftswachstums sind vorbei. Investoren halten sich angesichts der angespannten Sicherheitslage zurück, Touristen suchen sich andere Reiseziele.

Es würde in Erdoğans Kalkül passen, wenn die EU nun die Beitrittsverhandlungen aussetzen würde, könnte er doch Europa die Schuld am Scheitern geben. Diesen Gefallen sollte ihm die EU nicht tun, sich aber dennoch auch mit Blick auf das Flüchtlingsabkommen darauf vorbereiten.

Nassir Djafari

© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2016