Das Obskure erhellen

1980 veröffentlichte die libanesische Künstlerin und Schriftstellerin Etel Adnan den Gedichtzyklus "Arabische Apokalypse", der bis heute als eines der wichtigsten Werke über den Bürgerkrieg im Libanon gilt. Nun erscheint ein neuer Band der Autorin: "Gespräche mit meiner Seele". Claudia Kramatschek stellt ihn vor.

Von Claudia Kramatschek

Schon als Kind, so erfährt man in diesem sehr persönlichen Band der libanesischen Autorin und Malerin, machte Etel Adnan sich Gedanken über die Sonne. 1975 – der libanesische Bürgerkrieg war ausgebrochen, Etel Adnan kann die Bomben vom Balkon ihrer Wohnung aus hören und sehen – beginnt sie, ein Gedicht über die Sonne zu schreiben.

Das Gedicht wird länger und länger – und wird berühmt unter dem Namen "Arabische Apokalypse". Etel Adnan verarbeitet darin ihr Entsetzen über das, was der Mensch dem Menschen antut – und setzt als Kontrapunkt die Sonne: als Herrscherin über Weisheit und Leben, als Zeugin und Zerstörerin zugleich; vor allem aber als einzige Konstante in einer Welt, die grundsätzlich aus den Fugen ist.

Weltbürgerin mit politischem Bewusstsein

Die Elemente spielten also schon immer eine Rolle im Denken und Schreiben dieser Autorin, die man als leibhaftige Verkörperung von Weltenbürgertum und kulturellem Crossover bezeichnen kann: Ihre Mutter war eine christliche Griechin aus Smyrna, der Vater ein muslimischer Syrer und osmanischer Offizier.

Buchcover Etel Adnan: "Gespräche mit meiner Seele" im Nautilus-Verlag
"Gespräche mit meiner Seele" entwirft eine Philosophie des Fragens, die bewusst ins Offene hinein denken will. Die einzelnen Poeme sind daher stark dialogisch angelegt – und sprunghaft wie die Wolken am Himmel.

Sie selbst wächst mit Arabisch, Griechisch und Französisch auf, besucht die französische Schule und geht 1949 zum Studium der Philosophie nach Paris. Doch als der algerische Unabhängigkeitskrieg eskaliert, verweigert sie fortan die französische Sprache. 1972 kehrt sie nach Beirut zurück; wenige Jahre nach Ausbruch des Krieges muss sie ihre Heimat erneut verlassen: Ihr Roman "Sitt Marie Rose" über die religiösen Morde aller Kriegsparteien hatte sie zur persona non grata gemacht.

Vom Konkreten zum Unsichtbaren

Auch im neuen Band vernimmt man noch immer das politische Bewusstsein der Autorin. So schreibt sie an einer Stelle: "In bestimmten Teilen der Welt sind Länder dazu da, per Fernbedienung zu explodieren. Es heißt dann gewöhnlich 'durch göttlichen Willen'. Es war einfacher, den Entscheidungen Gottes zu widerstehen, als den heutigen Supermächten."

Doch im Vordergrund stehen nun eindeutig die Elemente selbst: das Wetter, die Wolken, das Meer, die See, Nebel und Nacht. Ihnen hat Etel Adnan in den letzten Jahrzehnten vier große Poeme gewidmet – der vorliegende Band enthält die drei jüngsten: "See", "Nebel" und "Nacht". Sie kreisen um konkrete Phänomene, die man mit den Sinnen erfassen kann: das Tosen der Wellen, das sphärische Leuchten des Ozeans, die orgiastische Kraft des Windes, der Jodgeruch über dem Meer, die Vögel im freien Flug, die Pflanzen auf der Erde.

Von dort aber brechen sie auf zu einer Erkundung der unzähligen Rätsel, die unser Leben umgeben: Wo ist das Wasser verschwundener Flüsse? Was geschieht mit dem Niger, wenn die Welt altert? Wo ist die Zeit, wo kommt sie her?

Eine Philosophie des Fragens

"Gespräche mit meiner Seele" entwirft insofern eine Philosophie des Fragens, die bewusst ins Offene hinein denken will. Die einzelnen Poeme sind daher stark dialogisch angelegt – und sprunghaft wie die Wolken am Himmel. Wer diese Texte liest, muss sich und ihnen Zeit geben. Sie funktionieren eher wie Aphorismen oder Haikus, sind Rätselbilder, Bilderrätsel. Allein mit Logik kommt man ihnen nicht bei – schließlich zielt Etel Adnan darauf, das Bewusstsein genau in dem Moment zu erfassen, in dem der Geist seine chaotische Arbeit verrichtet.

Buchcover Etel Adnan: "Sitt Marie Rose"
Fanal gegen die Sinnlosigkeit des Krieges: Etel Adnans Roman „Sitt Marie Rose“ über die religiösen Morde aller Kriegsparteien hatte die Autorin in ihrer libanesischen Heimat zur persona non grata gemacht.

Adnans Bildwelt ist insofern komplex, ihre Sprache dabei aber präzise und anschaulich. Sie spielt mit Bezügen zur griechischen Mythologie, erzählt aber auch von globaler Erwärmung und solaren Winden, von Venus und Mars und dem Teilchenbeschleuniger in CERN.

Dem menschlichen Willen, noch den Himmel zu erobern, hält sie die archaische Macht des Universums entgegen; unserem Wunsch nach unendlicher Erkenntnis die Macht des Obskuren. Nur wer sich diesem beugt, kann – so Etel Adnan – den Geist befreien: indem wir begreifen, dass wir Teil des Universums sind, nicht sein Herrscher.

Vom Wunsch nach Frieden

"Gespräche mit meiner Seele" ist insofern ein Band von großer Abgeklärtheit. Man spürt das Gewicht all dessen, was Etel Adnan in ihrem Leben bereits gesehen und erfahren hat. "Gefolterte Körper, weggeworfen wie Müll", nennt sie das "wiederkehrende Motiv der Geschichte", deren Gemetzel "Verschweigen fordern".

Zugleich aber betört ihr noch immer kindlicher Blick: kindlich, weil die Autorin sich eine Unschuld des Herzens bewahrt hat, inmitten des Gemetzels. Wie schon "Arabische Apokalypse" kündet auch dieser Band von Etel Adnans unaufhebbaren Wunsch nach Frieden – und nach einer Welt, die zurück fände zu einem wahrhaft menschlichen Maß.

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2015

Etel Adnan: "Gespräche mit meiner Seele", herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Klaudia Ruschkowski, Nautilus Verlag 2015, 123 Seiten, ISBN 978-3-89401-815-3