Nur eine Moschee fehlt ihm noch

Christian Awhan Hermann ist der erste offen schwule Imam Deutschlands. Diskriminierten Glaubensbrüdern will er eine Stimme geben, vor allem Homosexuellen, Queeren und Transgendern, für die es kaum muslimische Ansprechpartner gibt. Von Anna Fries

Von Anna Fries

Männer jedes Alters streifen am Eingang der Moschee die Schuhe ab und suchen sich einen Platz auf dem Boden, der mit bunten Teppichen ausgelegt ist. Die Teppiche weisen Richtung Mekka. Vorne leitet Imam Amir Aziz das Gebet, während sich die Moschee füllt. Nur eine Frau ist gekommen. Sie muss in die Ecke hinter einen Paravent aus Holz. Dort liegen in einer Kiste Tücher bereit, mit denen Frauen während des Freitagsgebets den Kopf bedecken sollen. Ritzen im Paravent lassen das Geschehen im Hauptraum der Moschee erahnen.

"Das wird es in unserer Moschee nicht geben", sagt Christian Awhan Hermann. Die Geschlechtertrennung passt nicht zu seiner Auffassung des Islams. Der 49 Jahre alte Berliner besucht das Freitagsgebet der Ahmadiyya-Lahore-Gemeinde. Vor zwei Jahren konvertierte er zum Islam und definiert sich selbst als ersten offen schwul lebenden Imam Deutschlands.

Mit seinem neu gegründeten Verein Kalima will er diskriminierten Muslimen eine Stimme geben, vor allem Homosexuellen, Queeren und Transgendern, für die es kaum muslimische Ansprechpartner gibt. Aber auch Frauen sind explizit willkommen. Sie sollen in allen Funktionen gleichberechtigt sein, vom gemeinsamen Beten bis zur Imamin.

Glauben und Sexualität miteinander vereinbaren

Schwul und Muslim – für viele traditionell erzogene Muslime passt das nicht zusammen. Homosexualität sei "haram", verboten, haben sie von klein auf gelernt. So erging es auch einem jungen Mann aus Bangladesch, der in Berlin studiert und im Internet auf Hermann aufmerksam wurde. Die Gespräche mit dem Imam hätten ihm geholfen, Glauben und Sexualität zu vereinbaren, sagt er.

Viele schwule Muslime hingegen hätten den Eindruck, sich für eine Identität entscheiden zu müssen. Einige fühlten sich ausgeschlossen und wendeten sich von der Religion ab, andere definierten die religiösen Regeln umso strenger, weil sie glauben, aufgrund ihrer Sexualität nicht von Gott geliebt zu werden.

Hermann nennt das Gehirnwäsche. Ein Großteil seiner Beratungsgespräche dreht sich um das Thema. "Die Männer haben fest verinnerlicht, dass es nicht okay ist, wie sie sind." Im Koran sei Homosexualität aber nicht explizit verboten, sagt er. Manche Muslime sehen das anders. Sie verweisen auf die Geschichte von Lot im Koran und begründen den Untergang der Stadt Sodom und Gomorrha mit dem unzüchtigen Verhalten der männlichen Bewohner.

"Zwischen Mensch und Gott"

Ähnlich äußert sich der Zentralrat der Muslime in Deutschland: Homosexualität sei im Islam "nicht statthaft". Viele Interpreten werteten Homosexualität an sich zwar nicht als Vergehen, allerdings die "aktive und öffentliche Ausübung", so der Zentralrat. Das habe zwar keine weltlichen Konsequenzen, stehe aber "zwischen Mensch und Gott".

"Das geben die Quellen in der Eindeutigkeit nicht her", sagt der Imam. Sein Titel verleiht ihm Autorität, auch wenn er nicht von allen Muslimen anerkannt wird. Hermann ließ sich vom französischen Imam Ludovic-Mohamed Zahed, der ebenfalls schwul ist, ausbilden. Vor allem im Internet erntet er Kritik.

"Gestern schwul, heute angeblich Imam", wird dort kommentiert. Angefeindet werde er für seine Positionen aber hauptsächlich von Rechten, sagt Hermann. Mit konservativen Muslimen gelinge ein Dialog, da punkte er mit Fachwissen. Vielleicht sei er aber auch einfach noch nicht berühmt genug, um viel Widerstand zu provozieren, sagt er. Etwa 600 Personen gefällt Hermanns Facebook-Seite. Wie viele Menschen er erreicht, lässt sich schwer abschätzen.

Ansprechpartner für homosexuelle Muslime

Hermann ist – noch – ein Imam ohne Moschee, seine Gemeinde in ganz Deutschland verstreut. Für das Freitagsgebet besucht er jede Woche eine Gastmoschee in Berlin, lernt verschiedene Imame und Gemeinden kennen. Er will mit dem Etikett "schwuler Imam" Präsenz zeigen, das Gespräch suchen und als Teil der muslimischen Gemeinschaft Veränderungen erwirken. Zugleich sieht er sich als Ansprechpartner für schwule Muslime und verbringt viel Zeit damit, ein Netzwerk in der Berliner LGBTQI-Szene aufzubauen.

Der Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr interessiert sich für Hermanns Arbeit, veröffentlicht selbst regelmäßig zum Thema Homosexualität und Islam. Hermann habe ehrliche Absichten und leiste eine gute Arbeit, sagt er. Ein Imam ist er in seinen Augen aber nicht. "Ein Imam ist jemand, der regelmäßig das Gebet mit einer Gruppe leitet und theologische Kenntnisse hat." Auch wenn die Bezeichnung nicht geschützt ist, würde er Hermann raten, davon Abstand zu nehmen. Das biete auch weniger Angriffsfläche.

Seyran Ates während des Gebets in der Ibn-Rushd-Moschee am 16.06.2017 in Berlin; Foto: picture-alliance/dpa
Im Clinch mit Seyran Ates: „Seyran trifft zu harte Aussagen, als dass ein Dialog zwischen den muslimischen Gruppen mit ihr möglich ist“, so Hermann. Ihr gehe es mehr um medienwirksame Auftritte als um religiöse Inhalte.

"Orientverbundenheit"

Das Aktivisten-Dasein liegt ihm, er fällt gerne auf. Braun-grauer Vollbart, gekleidet in ein pakistanisches Gewand mit beige-braun gestreifter Stofftunika und gleichfarbiger Hose, blaue Turnschuhe, orangefarbene Schnürsenkel. Während des Gebets trägt er eine Takke, die muslimische Kopfbedeckung für Männer. Von Jeans und T-Shirt hat er sich weitgehend verabschiedet. Er begründet das mit "Orientverbundenheit". Neben sich her zieht er seine "mobile Moschee": einen blau karierten Trolley mit Laptop, Gebetsteppichen und Lehrbüchern für die Islamkunde-Unterrichte.

So wie Hermann auftritt, würde kaum jemand vermuten, dass er erst vor zwei Jahren konvertierte. In der zwölften Klasse verließ er die Schule, machte eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Nach einem Blick auf die Gehaltsabrechnung mit der Kirchensteuer trat er aus der evangelischen Kirche aus. Gott habe in seinem Leben aber immer eine Rolle gespielt, sagt er.

Zum Islam fand er 2017 in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee der Frauenrechtlerin und Imamin Seyran Ates, einer der lautesten Kritikerinnen des konservativen Islams in Deutschland. In ihrer Moschee beten Frauen und Männer gemeinsam, Homosexuelle sind ebenso willkommen wie Muslime unterschiedlicher Strömungen. Dafür sei er Ates dankbar, sagt er – auch wenn die beiden vor einem Jahr im Streit auseinandergingen. Hermann wirkt enttäuscht. "Seyran trifft zu harte Aussagen, als dass ein Dialog zwischen den muslimischen Gruppen mit ihr möglich ist." Ihr gehe es mehr um medienwirksame Auftritte als um religiöse Inhalte.

Ehesegen per Videochat

Nach dem Freitagsgebet in der Wilmersdorfer Moschee tritt ein junges Paar an Imam Amir Aziz heran, er soll sie trauen. Sie kommt aus Syrien, er aus Iran. Zehn Minuten später sind die beiden verheiratet. Zwei Männer aus der Gemeinde dienen als Zeugen, die Mutter der Braut gibt aus Syrien per Videochat ihr Einverständnis, der Imam unterzeichnet die Urkunde.

"Die muslimische Ehe ist ein zivilrechtlicher Vertrag, kein Sakrament", erklärt Hermann. Auf ihn kommen vor allem Frauen zu, die eine muslimische Scheidung wollen. Denn wenn der Mann nicht einwilligt, finden sich in Deutschland kaum Imame, die eine Scheidung aussprechen. Dabei könne eine Ehe in Sonderfällen auch einseitig geschieden werden, etwa wenn der Mann Gewalt anwende oder untreu sei, sagt Hermann.

Ein guter Imam ist in Hermanns Augen nicht zuerst Vorbeter oder Gelehrter, sondern Seelsorger, der sich im Koran auskennt und auf Menschen zugeht. Seine Kritik richtet sich nicht gegen den Islam, sondern gegen die strikte Auslegung mancher "Wörtlichkeitsfanatiker". Im Islamkundeunterricht geht es um eine zeitgemäße Deutung des Korans.

Islamwissenschaftler Andreas Ismail Mohr; Quelle: Screenshot ZDF
Interested in Hermann's work: Islamic studies scholar Andreas Ismail Mohr regularly publishes on the topic of homosexuality in Islam himself. Hermann's intentions are honest and he is doing some good work – but in Mohr’s eyes, he isn't an imam. "An imam is someone who regularly leads prayers with a group and has theological expertise"

"Zehn Millionen Euro für Moschee und Mann fürs Leben"

Bis es die eigene Moschee gibt, findet der Unterricht in der Küche einer Freundin von Hermann statt. An der Küchentür hängt ein Mind-Map zu Diskriminierung. In einer Ecke auf dem Klavier stehen ein Marienbild und Glaskugeln mit Engelsfiguren; umrahmt von Kerzen und Lichterketten, erinnern sie an einen Altar. Zwei Teilnehmer sitzen am Tisch, zwei weitere sind an dem Abend per Skype zugeschaltet. Sie sprechen über die "vierte Säule" des Islams, das Fasten und den Ramadan, und diskutieren, ob ein Verzicht auf Plastik oder Fleisch im Ramadan auch als Fasten gelten könne oder wie Fleisch zu bewerten sei, das zwar nach allen Kriterien "halal", also erlaubt ist, aber aus Massentierhaltung stammt.

Hermann spricht gerne über den Islam, den Koran und den Propheten Mohammed, dessen pragmatische Lösungen für Probleme seiner Zeit ihn beeindrucken. Er ist dennoch dankbar, nicht als Muslim geboren worden zu sein, das habe ihm ein "doppeltes Coming-out" als schwuler Muslim erspart. Auf die Frage eines Kellners, womit er ihn glücklich machen könne, antwortet er: "Zehn Millionen Euro für meine Moschee und den Mann fürs Leben."

Anna Fries

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2019