Infame Schuldzuweisungen

Der Fall des im Februar in Kairo ermordeten italienischen Doktoranden und Journalisten Giulio Regeni hat internationale Bestürzung und Proteste ausgelöst. Die Behauptung, Regeni habe sich auf Weisung seiner Doktorväter in Gefahr begeben, ist eine ungeheuerliche Unterstellung, meint der französisch-libanesische Politologe Gilbert Achcar.

Von Gilbert Achcar

Mehrere Beiträge in der italienischen Presse – ob von Journalisten oder von anderen Personen ohne Erfahrung und Einblick in Forschungsvorhaben im Nahen Osten – weisen den Doktorvätern von Giulio Regeni Mitschuld an dessen Ermordung zu. Sie hätten ihn in Gefahr gebracht und sie hätten gewusst, dass Regeni sein Leben riskiert, heißt es.

Diese Behauptungen sind absurd. Wer sie aufstellt, handelt verantwortungslos und verachtenswert. Verantwortungslos deshalb, weil niemand den gravierenden Vorwurf erheben darf, man habe das Leben Regenis wissentlich gefährdet, ohne genaue Kenntnisse der Lage zu haben und ohne dies belegen zu können.

Doch auch wer meint, im Besitz eindeutiger Beweise zu sein, wird keine pauschalen Schuldzuweisungen vornehmen, solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen sind. Immer vorausgesetzt, man achtet den juristischen Grundsatz der Unschuldsvermutung, anstatt der Lynchjustiz das Wort zu reden.

Verachtenswert sind die Anwürfe auch deshalb, weil die Urheber jedes Mitgefühl missen lassen. Sie missachten die Gefühle der Doktorväter angesichts dieser schrecklichen Tragödie um den Verlust eines Studenten, eines Menschen, den sie gut kannten und mit dem sie sich über mehrere Jahre intensiv austauschten.

Stattdessen werden die akademischen Betreuer nun beschuldigt, mitverantwortlich für den Mord zu sein. Das wäre so, als würden Journalisten öffentlich die Eltern für den Tod ihres Kindes verantwortlich machen, ohne genaue Informationen zu besitzen und ohne, dass von Rechts wegen eine Mitverantwortung festgestellt wurde.

Internationaler Aufruf Vermisst: Giulio Regeni
Entführt, gefoltert, getötet: Der 28-jährige Giulio Regeni war am 25. Januar in Kairo verschwunden und am 3. Februar tot aufgefunden worden. Sein Körper wies Zeichen schwerster Misshandlungen auf, darunter ausgerissene Finger- und Fußnägel. Auch wurden Regeni beide Ohren abgeschnitten. Vor dem Hintergrund dieser verdächtigen Todesumstände hat das Europaparlament die Menschenrechtslage in Ägypten scharf verurteilt. Der Tod Regenis sei kein Einzelfall, sondern stehe in einem Zusammenhang mit Folter, Todesfällen in Gewahrsam und dem Verschwinden etlicher Menschen in Ägypten in den vergangenen Jahren, erklärten die EU-Abgeordneten.

Schändliche Anschuldigungen

Im konkreten Fall von Giulio Regeni sind die Schuldzuweisungen umso verantwortungsloser und verachtenswerter, als dass sie die Forschungsbedingungen in Ägypten und insbesondere die Forschungsarbeit von Giulio missachten.

Ich kannte Giulio persönlich: Nach Erlangung seines Masterabschlusses in Cambridge trat er 2012 mit der Bitte um Betreuung seiner Dissertation an mich heran. Wir tauschten E-Mails aus und sprachen über sein Forschungsvorhaben. Giulio wollte seine Doktorarbeit über die neue Bewegung der unabhängigen Gewerkschaften in Ägypten schreiben. Mir erschien sein Projekt überaus plausibel, zumal er bereits gut mit der Thematik vertraut war. Er reichte an meiner Hochschule ein Promotionsgesuch ein und bat mich um Betreuung. Dieser Bitte kam ich nach.

Das war Anfang 2013. Im Juni desselben Jahres schrieb mir Giulio, er könne keine Finanzierung für seine Doktorarbeit erhalten und müsse sein Vorhaben vorübergehend zurückstellen. Er schrieb damals aus Kairo. Denn dort arbeitete er beim Industrieministerium gemeinsam mit der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung.

Giulio wurde also nicht nach Ägypten in ein ihm unbekanntes Land entsandt, um im Auftrag eines Doktorvaters einem Forschungsvorhaben nachzugehen, wie in so vielen schäbigen journalistischen Kommentaren behauptet. Vielmehr wollte er ein Thema vertiefen, dem er sich bereits gewidmet hatte. In einem Land, das ihm bereits vertraut war. Denn in Ägypten lebte er bereits seit einiger Zeit, bevor er schließlich 2014 in Cambridge – seiner Alma Mater – sein Dissertationsgesuch stellte.

Italiens Außenminister Paolo Gentiloni; Foto: picture-alliance/dpa/S. Hoppe
Spannungen zwischen Rom und Kairo: Die italienische Regierung hatte jüngst von Ägypten verlangt, die "wahren Verantwortlichen" für den Tod Giulio Regenis in Kairo zu benennen. "Wir werden uns nicht mit Halbwahrheiten zufriedengeben", sagte Italiens Außenminister Paolo Gentiloni der Zeitung "La Repubblica". "Wir wollen, dass die Verantwortlichen nach dem Gesetz bestraft werden." Die Autopsie ergab, dass Regeni vor seinem gewaltsamen Tod gefoltert wurde. Ägyptens Chefermittler bestreitet jedoch, dass Regini gefoltert worden sei.

Ich kenne persönlich mehrere Studierende an verschiedenen Hochschulen, die ihre Dissertation über die ägyptische Arbeiterbewegung geschrieben haben oder noch schreiben. Das Forschungsvorhaben von Giulio Regeni war also in keiner Weise ungewöhnlich. Es lässt sich beispielsweise überhaupt nicht mit der Forschung zum "Islamischen Staat" in einem vom IS kontrollierten Gebiet vergleichen!

Behauptungen, die von ägyptischen Sicherheitsdienste stammen könnten

Hinzu kommt, dass die Beziehung zwischen Doktorvater und Doktorand die eines akademischen Beraters zu einem erwachsenen Wissenschaftler ist, nicht die eines Lehrers zu jugendlichen Schülern, die die Zustimmung ihrer Eltern zu einer Klassenfahrt benötigen. Der Betreuer eines Doktoranden ist auch nicht ständig per Smartphone über die Wege seiner Studierenden unterrichtet. Ganz gleich, welche Umstände zur Ermordung von Giulio geführt haben, es ist ungeheuerlich, seine Betreuer dafür verantwortlich zu machen.

Und da Giulio ein intelligenter, 28 Jahre alter Mann war, richtet sich diese infame Schuldzuweisung gegen ihn selbst. Denn wenn Giulio sein Leben wissentlich und willentlich riskierte, und sei es auf Drängen Dritter, würde das bedeuten, dass er als erwachsener Mann für seinen eigenen Tod verantwortlich war. Das ist eine klassische Schuldzuweisung an das Opfer. Ich habe in der italienischen Presse unglaubliche Ansichten von Leuten gelesen, die von Giulios Forschungsvorhaben nicht den Schimmer einer Ahnung hatten und Behauptungen aufstellen, die direkt aus der Feder der ägyptischen Sicherheitsdienste stammen könnten.

Das ist eine Schande. Als ob es nicht schon abscheulich genug wäre, dass Vertreter europäischer Regierungen als skrupellose Verkäufer auftreten, die sich bei Diktatoren nacheinander ein Stelldichein geben. Anstatt an den Täuschungsmanövern dieser Diktaturen mitzuwirken, wären europäische Journalisten besser beraten, die Werte von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit hochzuhalten, auf denen Europa angeblich beruht.

Gilbert Achcar

© OpenDemocracy 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien und Internationale Beziehungen an der "School of Oriental and African Studies" der Universität London. Zuletzt erschien von ihm "The People Want: A Radical Exploration of the Arab Uprising". Seine Bücher wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienene Werke des Autors sind u.a.: "Der Schock der Barbarei. Der 11. September und die neue Weltordnung" (Köln: ISP, 2002) und "Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen" (Hamburg: Edition Nautilus, 2012).