Neubeginn der türkisch-griechischen Beziehungen?

Anteilnahme und Mitgefühl sind umfassend: "Im Leid sind wir alle Türken“, so ein Kommentator der Athener Tageszeitung "Ta Nea“ über das kollektive Empfinden in Griechenland im Lichte der Jahrhundertkatastrophe im Nachbarland. Demoskopisch belegbar ist die Kommentierung nicht. Gleichwohl gibt der Satz die gefühlte Stimmung der öffentlichen (und der veröffentlichen) Meinung wieder, schreibt Ronald Meinardus
Anteilnahme und Mitgefühl sind umfassend: "Im Leid sind wir alle Türken“, so ein Kommentator der Athener Tageszeitung "Ta Nea“ über das kollektive Empfinden in Griechenland im Lichte der Jahrhundertkatastrophe im Nachbarland. Demoskopisch belegbar ist die Kommentierung nicht. Gleichwohl gibt der Satz die gefühlte Stimmung der öffentlichen (und der veröffentlichen) Meinung wieder, schreibt Ronald Meinardus

Griechenland reagiert mit großer Anteilnahme auf die Erdbebenkatastrophe in der Türkei. Kommt es jetzt zur Entspannung der Beziehungen zwischen den traditionell verfeindeten Nachbarn? Von Ronald Meinardus

Von Ronald Meinardus

Anteilnahme und Mitgefühl sind umfassend: "Im Leid sind wir alle Türken“, so ein Kommentator der Athener Tageszeitung "Ta Nea“ über das kollektive Empfinden in Griechenland im Lichte der Jahrhundertkatastrophe im Nachbarland. Demoskopisch belegbar ist die Kommentierung nicht. Gleichwohl gibt der Satz die gefühlte Stimmung der öffentlichen (und der veröffentlichen) Meinung wieder.  

Viel ist dieser Tage von einer "Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Griechen und Türken die Rede, von Geographie und Nachbarschaft, die die Völker auf ewig verbinde und – dies die Konsequenz - zum friedlichen Nebeneinander zwinge.  

Die Sentimentalitäten verdrängen – zumindest vorübergehend - die tiefen Differenzen, die Athen und Ankara entzweien und in den zurückliegenden Jahren zu fortlaufenden Spannungen und - mehr als einmal - fast zum Krieg geführt haben.  

Das große Erdbeben schafft eine neue Lage. Das gilt auch für die Politik. Den Anstoß gibt der griechische Ministerpräsident. In der Osttürkei war die Erde noch nicht zur Ruhe gekommen, da greift Kyriakos Mitsotakis zum Telefonhörer und teilt dem türkischen Präsidenten Erdogan "im Namen aller Griechen“ sein Beileid mit. "Die Stunde ist gekommen, dass wir unsere Differenzen zeitweilig zur Seite stellen“, so Mitsotakis. "Wir haben politische Differenzen, aber nichts trennt uns von den Türken“.  




 

Das Erdbeben zwingt zum Umdenken

Das Gespräch an sich könnte als diplomatische Sensation bewertet werden; die türkisch-griechischen Beziehungen befinden sich seit Monaten im Keller. Zwischen Athen und Ankara herrscht, inzwischen muss man sagen: herrschte – Funkstille. Je näher der Termin der türkischen Wahlen rückte, desto giftiger wurde die anti-griechische Rhetorik in Ankara.  

Das Erdbeben zwingt, dies belegen die letzten Tage, zu Anpassungen in der türkischen Außenpolitik. Das oft als Erbfeindschaft titulierte griechisch-türkische Verhältnis könnte hiervon profitieren.  

Es bleibt am Montag der Naturkatstrophe (06.02.) nicht bei einem einzigen Telefonat: Nach dem griechischen Regierungschef lässt sich die griechische Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou mit Erdogan verbinden. Wenig später meldet sich der griechische Außenminister Nikos Dendias bei seinem türkischen Amtskollegen Mevlut Cavusolglu. Die Botschaft ist jeweils identisch: Anteilname und Solidarität! 

Diese Dichte der bilateralen Kommunikation auf höchster Ebene zwischen Athen und Ankara hat Seltenheitswert. Der Vorgang hat auch eine deutsche Dimension: Die Koordination der Gespräche liege in den Händen der griechischen Diplomatin Anna Maria Boura, wie die griechische Presse berichtet.



Die enge Mitarbeiterin des Athener Regierungschefs hatte sich auf Berliner Initiative kürzlich hinter den Kulissen mit Erdogans Vertrautem, Ibrahim Kalin, zusammengesetzt. Nach Monaten des Stillstandes hatten beide Seiten die Wiederaufnahme der bilateralen Kommunikation vereinbart. Das Erdbeben hat diesem Projekt plötzlich neuen Schub gegeben.  

Die griechische Insel Kastelorizo - im Hintergrund das türkische Festland; Foto: picture-alliance/dpa/R. Hackenberg
Griechisch-türkische Konflikte: In den letzten Jahren gab es massiven Streit um türkische Ansprüche auf Seegebiete im östlichen Mittelmeer. Die kleine griechische Insel Kastelorizo auf dem Bild liegt über 500 Kilometer von Athen entfernt vor dem türkischen Festland und beansprucht ein Seegebiet von 200 Seemeilen rund um die Insel. Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu nannte derartige Ansprüche Griechenlands inakzeptabel. Hintergrund sind türkische Gas- und Ölbohrungen im östlichen Mittelmeer.

Bergungsteam aus Griechenland

Es bleibt nicht bei verbalen Solidaritätsbekundungen. Ein Bergungsteam aus Griechenland zählt zu den ersten, die das Erdbebengebiet in der Osttürkei erreichen. Transportmaschinen des Militärs schaffen derweil dringend benötigte Hilfsgüter ins Land. In den griechischen Medien wird die Erdbebenkatastrophe zum beherrschenden Thema. Breiten Raum nehmen die Einsätze der Spezialeinheiten für den Katastrophenschutz (EMAK) ein. Jede erfolgreiche Bergung feiern die Redaktionen als einen Sieg des Lebens über den Tod – und: als Beleg für die Verbundenheit der beiden Völker.



Türkische Medien stimmen in den Chor von der Brüderlichkeit ein: "Der Nachbar teilt unseren Schmerz“, ist in der Zeitung "Yeni Safak“ zu lesen. Das Blatt hebt hervor, das staatliche griechische Fernsehen habe die Berichterstattung über die Katastrophe mit türkischer Musik unterlegt, ein Stilmittel, zu dem in diesen Tagen auch andere Redaktionen zwischen Kreta und Kavala greifen.   

Ein politisches Ausrufezeichen setzt der Besuch des griechischen Außenministers Nikos Dendias im Katastrophengebiet am vergangenen Sonntag (12.02), die erste Visite eines Ministers eines EU-Mitglieds. Eine seltene Szene spielt sich am Flughafen von Adana ab, als der Politiker aus Griechenland und sein türkischer Gastgeber sich buchstäblich um den Hals fallen. Derartige demonstrative Herzlichkeiten sind im türkisch-griechischen Kontext höchst ungewöhnlich.  

"Griechenland wird alles tun, um der Türkei in schweren Zeiten zu helfen, sei es bilateral oder im Rahmen der Europäischen Union“, so die Botschaft des griechischen Ministers. Nicht nur in Griechenland und der Türkei stößt der Schulterschluss auf breite Zustimmung. Auch Berlin und Washington spenden Beifall für die Annäherung in der Stunde der Not.



Unter dem Applaus von allen Seiten lobt Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag die neuartigen Entwicklungen im griechisch-türkischen Verhältnis. "Dies ist wunderbar“, lautet der Twitter-Kommentar des US-Botschafters in Ankara zur Verbrüderungsszene zwischen Nikos Dendias und Mevlut Cavusolglu auf dem Flughafen von Adana.  

Griechische Helfer im Erdbebengebiet in der Türkei; Foto: picture-alliance/dpa/AP
Nicht nur verbale Solidarität: Ein Bergungsteam aus Griechenland zählt zu den ersten Rettungskräften, die das Erdbebengebiet in der Osttürkei erreichen. Transportmaschinen des Militärs schaffen dringend benötigte Hilfsgüter ins Land. In den griechischen Medien wird die Erdbebenkatastrophe zum beherrschenden Thema. Jede erfolgreiche Bergung feiern die Redaktionen als einen Sieg des Lebens über den Tod – und: als Beleg für die Verbundenheit der beiden Völker. "Das große Erdbeben bietet die Chance für eine Wiederannäherung“ der beiden verfeindeten Staaten, schreibt Ronald Meinardus. "In diesem Prozess kann Athen eine zentrale Rolle spielen“.    

Ein diplomatischer Frühling?

Erinnerungen werden wach an das Jahr 1999. Damals erschüttern in kurzer Zeitfolge schwere Erdbeben zunächst den Westen der Türkei, dann die griechische Hauptstadt Athen. Zunächst eilen griechische Helfer in die Türkei, wenig später stehen türkische Bergungsteams den Griechen zur Seite.



Die Naturkatastrophen auf beiden Seiten der Ägäis leiten im bilateralen Verhältnis eine Phase der Entspannung ein, die als "Erdbeben-Diplomatie“ in die Annalen der griechisch-türkischen Beziehungen eingehen wird. Angeleitet von den Außenministern Georgios Papandreou und Ismail Cem unterzeichnen Athen und Ankara in kurzer Zeit 33 Vereinbarungen und eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen.  

"Heute ist die Ausgangslage eine ganz andere“, sagt Georgios Papandreou jetzt. Zwar sind Ansätze eines diplomatischen Frühlings erkennbar. Die politischen Rahmenbedingungen sind im Vergleich zu 1999 aber grundverschieden. Damals hatten sich beide Seiten schon im Vorfeld der Naturkatastrophen angenähert und die politischen Grundlagen einer Entspannung gelegt.



Ein Vierteljahrhundert später befinden sich die bilateralen Beziehungen in der Dauerkrise. Vor allem – und hier liegt vermutlich der wesentliche Unterschied: Die Türkei ist heute ein anderes Land. Unter Erdogan hat sich der Abstand zwischen der Türkei und Europa, dem Westen insgesamt, Schritt um Schritt vergrößert. Für diese Entwicklung sind keinesfalls nur die Türken verantwortlich.  

Das große Erdbeben bietet die Chance für eine Wiederannäherung. In diesem Prozess kann Athen eine zentrale Rolle spielen.    

Ronald Meinardus

© Qantara.de 2023